Am 9. November dieses Jahres jährt sich zum 63. Mal
der Tag, an dem in Deutschland die Synagogen, Geschäfte und Wohnungen
brannten, Jüdinnen und Juden ermordet, gequält und erniedrigt
wurden.
Die deutschen Pogrome am 9. November 1938 und die Terroranschläge vom 11.
September mahnen gleichermaßen zum konkreten und entschiedenen Handeln
nach Auschwitz. Denn die Motive der Täter sind in beiden Fällen sehr
ähnliche.
Die Verwüstung der Friedhöfe ist keine
Ausschreitung des Antisemitismus, sie ist er selbst.
(Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung)
Wer für Erhaltung der radikal schuldigen und schäbigen
Kultur plädiert, macht sich zum Helfershelfer, während, wer der
Kultur sich verweigert, unmittelbar die Barbarei befördert, als welche die
Kultur sich enthüllte. Nicht einmal Schweigen kommt aus dem Zirkel
heraus.
(Theodor W. Adorno, Negative Dialektik)
Ist Krieg immer Krieg?
Krieg als Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln (von Clausewitz)
erklärt sich nicht aus sich selbst heraus. Das scheint erst einmal eine
Binsenweisheit zu sein.
Wer also brächte es fertig, Victor Klemperer und anderen Jüdinnen und
Juden, deren konkrete Überlebenschancen mittels Bombardierung
Dresdens durch die Royal und US Air Force am 13. Februar 1945 immens stiegen,
ins Gesicht zu sagen oder posthum hinterherzurufen, daß Krieg
grundsätzlich keine Lösung sei?
Wenn man den Amerikanern und Engländern etwas vorwerfen kann, dann wohl,
daß sie gerade auch in Anbetracht des 9. November 1938, als der deutsche
Mob mordend und brandschatzend sich von der Judentyrannei frei
machen wollte, wie die Einheiten der deutschen Bürgerpolizei namens SA
damals brüllten, nicht rechtzeitig genug gegen Deutschland zu Felde zogen.
Daß sie es aber ab 1944 taten, werfen ihnen nur diejeinigen vor, für
die Krieg ein sinnloses Schlagwort der Unmittelbarkeit ist. Ihnen ist der
Begriff Krieg an und für sich eine beliebige Losung, die sich auf sich
selbst reduziert: Krieg ist schon deshalb schlecht, weil er Krieg ist. Als
würde nie jemand den Begriff erst interessegeleitet prägen, herrscht
überall das Naturgesetz vom Krieg: Bürgerkrieg, Vergeltungskrieg,
totaler Krieg, gerechter Krieg, ungerechter Krieg, Familienkrieg,
Kriegseinsatz, Kriegsdienst usw.
Krieg ist immer schlecht und Frieden immer gut. Dieses Denkmodell ist das
Herzstück der deutschen Friedensbewegung, deren aktionistischer Arm auch
in Leipzig allmontäglich durch die Innenstadt marschiert. Einer ihrer
Aktivisten, der Pfarrer der Nikolaikirche Christian Führer, ist nicht
umsonst ein Protagonist dieses Denkschemas: Krieg führt niemals zum
Ziel. Krieg bringt keinen Frieden, so sagt er gegenüber der
tageszeitung (v. 5. November 2001). Und es bleibt zu hoffen, daß
er den Mumm hat, diesen Satz den
ehemaligen Leipzigerinnen und Leipzigern ins Gesicht zu sagen, die die
Nürnberger Rassegesetze überlebten, und von denen einige wenige
jeweils um den 9. November herum die Stadt Leipzig besuchen.
Was Leute wie der Pfarrer Führer nicht begreifen wollen, ist die Dimension
und der Charakter des Antisemitismus und seine spezifisch deutsche
Prägung. Was wohl würde einer wie Christian Führer dem
ehemaligen Repräsentanten des Jüdischen Weltkongresses während
des Zweiten Weltkrieges, dem Gerhart Riegner, entgegnen, der auf die Frage des
Nachrichtenmagazins Der Spiegel (Nr. 44/2001), ob die Alliierten
Auschwitz (hätten) bombardieren sollen, antwortete: Ja.
Wahrscheinlich wären viele KZ-Häftlinge dabei ums Leben gekommen,
aber Bomben hätten den Prozess der täglichen Vernichtung von 6 000
Menschen angehalten?
Nun, man kann den Alliierten vorwerfen, daß sie das KZ Auschwitz nicht
bombardiert haben, um das Vernichtungsprogramm zu stoppen und eine Politik des
Appeasements betrieben haben. Nicht vorwerfen aber kann man ihnen ihre
militärische Intervention gegen die Deutschen.
Pfarrer Führer nennt es eine Verantwortungslosigkeit gegenüber
Deutschland (tageszeitung ebd.), daß Gerhard Schröder
angesichts der Terroranschläge vom 11. September gegenüber den USA
die uneingeschränkte Solidarität erklärt hat. Was
wohl mögen die Motive des Pfarrers sein? Seine Sorge um Deutschland ist
die Sorge darüber, daß die Deutschen in-etwas-hineingezogen
würden, als wären die USA allmächtig einer wie Gerhard
Schröder nichts weiter als ein Untertan und die Bundesrepublik Deutschland
ein Marionettentheater.
Der Antisemitismus und die aufgeklärte Gesellschaft
Der vorbildliche Antisemit Richard Wagner, der nicht zuletzt deshalb zum
allgegenwärtigen Vorzeige-Deutschen taugt, brachte auf den Punkt,
daß Deutsch-Sein hieße: eine Sache um ihrer selbst willen
tun. Die treffende Antwort darauf gab Theodor W. Adorno, der feststellte:
Ein Deutscher ist ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne
sie selbst zu glauben.
Es ist Adorno in direkter Anknüpfung an Karl Marx zu danken, daß er
die deutsche Ideologie als Kampfansage an jede Form universalistischer
Dialektik bloßstellte und dabei den Kern des Antisemitismus erkannte:
Der Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden,
schrieb er.
Das Wissen um den pathischen Glauben an dieses Gerücht ist es, das die
Nähe des nationalsozialistischen Vernichtungswahns und den Wahn der
islamistischen Schlächter vom 11. September herstellt. Beiden ist
gemeinsam, daß sie der kalten maßlosen Ausbeutungslogik des
Kapitalverhältnisses den maßlosen Vernichtungswillen glauben
entgegensetzen zu müssen. Den Nationalsozialisten und den Islamisten eint,
was Adorno als das Pathische am Antisemitismus bezeichnete:
(...) Nicht das projektive Verhalten als solches, sondern der Ausfall der
Reflexion darin sei jenes Element des Antisemitismus. Und weil das
Subjekt so nicht mehr den Gegenstand reflektiert, reflektiert es nicht
mehr auf sich und verliert so die Fähigkeit zur Differenz.
Maßloses Töten wie am 11. September in New York ist die barbarische
Folge gerichtet gegen Orte und Symbole bürgerlicher
Universalität und bürgerlichem Kosmopolitismus.
Diese krankhafte Maßlosigkeit hat ein Ursache, die in der Gesellschaft zu
suchen ist. In jener Weltgesellschaft von Kapital und ideellen Menschenrechten,
die, wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest schrieben, die Würde
des Menschen in die Tauschwerte der modernen warenproduzierenden
kapitalistischen Gesellschaft aufgelöst hat. Die Unantastbarkeit der
Würde des Menschen, wie es ganz vorn im Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschland steht, ist das verschleierte Gesetz von der Würdelosigkeit des
Menschen als Maß aller Dinge im Kapitalismus. An die Stelle der
Würde des Menschen, das erkannte schon Rousseau, tritt der aufgezwungene
Gesellschaftsvertrag, den jeder Einzelne qua Geburt mit einem Staat
abschließt, ohne von ihm zurücktreten zu können.
Aller Reichtum dieser Welt erscheint in Warenform und deshalb als
natürlich. Daraus resultierte in der Aufklärung, von der es in
Deutschland nicht zu viel, sondern zu wenig gegeben hat (Detlev
Claussen), das Denken von der Naturhaftigkeit der Warenproduktion. Diese
Gesellschaft bringt Menschen hervor, die als Waren als Ware Arbeitskraft
handeln müssen, um eine gesellschaftliche Existenzberechtigung
eingeräumt zu bekommen. Das ist gleichzeitig jenes Verständnis von
Zivilisation, das sich als Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
zu Grunde gelegt wurde und hinter die es kein Zurück geben darf. Sie
müssen also der Ausgangspunkt und Standort jeglicher Kritik der
bürgerlichen Gesellschaft sein alles andere schlägt
unwiederruflich in reaktionäre Kapitalismuskritik um.
Denken nach Auschwitz
Die bürgerlichen Ideale zerbrachen an Auschwitz, dem Namen, der
besonderes bezeichnet, das sich dem einfachen Common Sense entzieht
(Detlev Claussen). Der Common Sense als die idealistische bürgerliche
praktische Vernunft und blinde Fortschrittsgläubigkeit wurde durch die
systematische industrielle Vernichtung der Jüdinnen und Juden zum
Zivilisationsbruch. So etwas wie die Widerlegung einer Zivilisation,
deren Denken und Handeln einer Rationalität folgt, die ein
Mindestmaß antizipatorischen Vertrauens voraussetzt (Dan Diner).
Auschwitz markiert das Ende des kategorischen Imperativs Imanuel Kants, nachdem
man nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß
sie ein allgemeines Gesetz werde, handeln solle.
An die Stelle des Kantischen ist nach Auschwitz ein anderer kategorischer
Imperativ getreten, den Adorno so formulierte: Hitler hat den Menschen im
Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr
Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole,
nichts Ähnliches geschehe. Und er fügte hinzu: Dieser
Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung wie einst die
Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel.
Man soll also nicht nur über Auschwitz diskutieren, sondern praktisch
gegen seine Ursachen und gegen Antisemiten tätig werden.
Die Gesellschaft (, die sich nur allzu ungern selbst als kapitalistische
begreift und gerade auch deshalb abgrundtief eine ist und so funktioniert,)
produziert das Gerücht über die Juden aus sich selbst heraus. Das
Gerücht über die Juden aber ist zugleich die Wahrheit über den
Antisemiten und die Gesellschaft, die ihn objektiv notwendig hervorbringt. Es
ist Teil der Wahrheit über das bürgerliche Subjekt, das Individuum zu
nennen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft nichts rechtfertigt, weil
in ihr alles zur Ware verkommt und Geld keinen anderen Zweck hat als
Schmiermittel eines reibungslosen Warenflusses zu sein. Die Wahrheit über
eine solche Gesellschaft auszusprechen, heißt zugleich die barbarischen
Züge und Realitäten, die sie zu verantworten hat, auf sie
zurückzuführen.
Bin Laden und Adolf Hitler
Bin Laden ist nicht Adolf Hitler und Adolf Hitler war kein bin Laden. Doch die
Züge von Wesensverwandtschaft beider bündelt sich im abgrundtiefen
Hass und einem maßlosen Vernichtungswillen: Die Vernichtung als
Selbstzweck die Vernichtung um der Vernichtung willen.
Nach wie vor bestimmt das gesellschaftliche Sein das gesellschaftliche
Bewußtsein, wie Marx schrieb. Es ist deshalb eine Unwahrheit, Hitler die
Verantwortung für Auschwitz zuzuschieben. Und es ist ebenso eine
Unwahrheit, bin Laden für den 11.September verantwortlich zu machen.
Für Auschwitz war nicht Hitler verantwortlich, sondern die
gesellschaftlichen Verhältnisse, aus denen ein Hitler kroch. Für die
Anschläge am 11. September ist nicht bin Laden
verantwortlich, sondern die Verhältnisse, die ihn zu dem gemacht
haben, was er heute ist. Aber: schuldig im Sinne der ideellen
bürgerlichen Rechtsprechung, bemessen an den aufklärerischen Idealen
der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, sind Hitler wie bin Laden.
Sie sind schuldig, weil sie dem Citoyen (dem ideellen Staatsbürger) wie
dem Bourgeois (der Personifikation ökonomischer
Verhältnisse, Karl Marx) den Kampf ansagten und ansagen. Schuldig
eben dadurch, daß sie den eigentlich abstrakten Feind in
konkreten Personen zu sehen glauben im verjudeten Amerikaner
als Sinnbild der westlichen Welt und in dem Juden an
sich und bekämpfen. Adorno/Horkheimer schrieben in der Dialektik
der Aufklärung:
Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion
auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten
mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des Bösen
übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion.
Man darf gesellschaftliche Verantwortung und individuelle Schuld im
bürgerlichen Sinne nicht durcheinander werfen. Stattdessen muß man
sie trennen, um sie als Teile des Ganzen der bürgerlichen Gesellschaft
zusammen denken zu können. Nach Auschwitz dürfen die realen
Täter nicht entlastet werden und die Handlungsoption bürgerlicher
Rechtsprechung die eben nach Auschwitz ein System der Bestrafung im
Sinne des kategorisch imperativen Denkens sein muß muß
aufrechterhalten bleiben, solange an die Stelle der bürgerlichen
Gesellschaft nicht Besseres tritt. Die konkrete Handlungsfähigkeit sich zu
erhalten, die den Kampf gegen die Vernichtswütigen von Adolf Hitler
über bin Laden bis hin zu denen, die in Zukunft kommen mögen, zum
Inhalt hat, muß Konsequenz aus Auschwitz sein.
Judenhass ist keine zufällige Objektwahl
Daß es immer und immer wieder die Juden trifft und im Zweifelsfall eben
auch die ihnen angeblich verfallenen Wirtsvölker, die den
jüdischen Parasiten ein Obdach geben, wie der Antisemit zu
sagen pflegt, ist kein bloßer Zufall, sondern Ergebnis einer
Menschheitsgeschichte, die in weiten Teilen eine Geschichte von
Religionskämpfen war und ist. Weil Jesus ein Jude war, Teil des
auserwählten Volkes Israel, und trotzdem als Messias von den Juden nicht
anerkannt wurde, verachteten die Christen das Judentum. Nicht nur die Christen,
auch die Moslems hatten indes mit Muhammed einen Gesandten Gottes auf Erden,
der ihnen verkündete, wie ein gottesfürchtiges Leben auszusehen habe.
Von den drei monotheistischen Religionen blieben nur die Juden, die die
Auslegung der Heiligen Schrift und so alle Fragen der Moral und Ethik
der eigenen Vernunft überließen und nicht zuletzt deshalb
Gottes Reich auf Erden als Glücksversprechen der Versöhnung
aufrechterhielten.
Das irdische Versprechen ist ihnen ein weltliches. Und die Ordnung des
Profanen hat sich auszurichten an der Idee des Glücks. (...) Denn im
Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist
ihm der Untergang zu finden bestimmt (Walter Benjamin). In seiner Schrift
Der Mann Moses und die monotheistische Religion stellt Sigmund
Freud fest, daß es der Mann Moses war, der dem jüdischen Volk
diesen für alle Zukunft bedeutsamen Zug aufgeprägt hat. Und
weiter schrieb er: Als es später Gott gefiel, der Menschheit einen
Messias und Erlöser zu senden, wählte er ihn (...) aus dem Volke der
Juden. Die anderen Völker hätten damals Anlaß gehabt, sich zu
sagen: Wirklich, sie haben recht gehabt, sie sind das von Gott auserwählte
Volk. Aber es geschah anstatt dessen, daß ihnen die Erlösung durch
Jesus Christus nur eine Verstärkung ihres Judenhasses brachte,
während die Juden selbst aus dieser zweiten Bevorzugung keinen Vorteil
zogen, da sie den Erlöser nicht anerkannten. (...) Das
Selbstwertgefühl der Juden erfuhr durch Moses eine religiöse
Verankerung, es wurde ein Teil ihres religiösen Glaubens.
Es ist also kein bloßer Zufall der Geschichte, daß der
jüdische Glaube den Materialismus als Philosophie quasi vorweggenommen
hat. Da der Erlöser eben noch nicht auf die Erde kam, steht das irdische
Glücksversprechen des jüdischen Glaubens damit im tatsächlichen
Gegensatz zur überirdischen Verheißung des Paradieses des
Christentums wie des Islams. Genau deshalb aber hat man die Juden und den
verweltlichten alttestamentarischen Materialismus schon immer
besonders verabscheut.
Der Zusammenhang von 9.11. und 11. 9.
Die Motive der Pogrome vom 9. November 1938 waren zutiefst antisemitisch. Sie
entsprangen den deutschen Zuständen (Karl Marx) des
völkischen Wahns von Blut, Boden, schaffender Arbeit und
Volksgemeinschaft. Die Anschläge vom 11.September waren ebenso zutiefst
antisemitisch wie es der Wahn der palästinensischen Mörderbanden von
Hisbollah, islamischer Dschihad und Hamas ist. Sie richteten sich gegen die
verjudete westliche Kultur und entspringen dem völkischen Wahn
der islamistischen Massenbewegung, der sich gleich dem deutschen aus einer
Bluts-, Boden-, schaffende Arbeit- und Gemeinschaft-Ideologie speist.
Wie soll man sich also zu jenen verhalten, die diese historische Wiederkehr des
maßlosen Vernichtungswillens strikt leugnen und stattdessen den USA und
Israel eine Mitschuld an den Anschlägen zuschreiben? Wie können
Leute, die den USA und Israel absprechen, sich gegen den Terror entschieden und
somit militärisch zur Wehr zu setzen, es nur wagen, im Falle der
Intervention in Afghanistan oder im Falle des Vorgehns der israelischen Armee
in Gaza oder Westjordanland vor alttestamentarischer Rache zu
warnen? Was wohl
geht in ihren Köpfen vor, wenn sie vom jüdischen
Rachegott Jahve schwafeln, der aus den Israelis wie aus den Amerikanern
sprechen würde? Um es nochmals zu wiederholen: Das Gerücht über
die Juden ist die Wahrheit über den Antisemiten. Die Verbreitung desselben
stellt ihn als solchen bloß.
Der Kampf der Kulturen: Deutschland gegen Amerika
Ich wurde nie antisemitischen Versuchungen ausgesetzt, schreibt der
Zeit-Redakteuer Christoph Dieckmann Zum 9. November in der
Ausgabe vom 8. November 2001, als wäre Antisemitismus ein Sündenfall
im Paradies und in Deutschland eh nicht virulent, um sich sodann gleich selbst
zu widerlegen: (...) Heute wird Israel auch vom jüdischen
Nationalismus bedroht, wagt er zu schreiben, weil er sich eine Zeile
vorher mit Bezug auf den jüdischen Schriftsteller Jurek Becker glaubt
genügend abgesichert zu haben. Was Dieckmann hier verbreitet, ist das
Gerücht über die Juden, die an ihrem Schicksal zumindest eine
Teilschuld hätten. Ich wurde nie antisemitischen Versuchungen
ausgesetzt, schreibt er ganze sieben Zeilen später und hat damit
tatsächlich recht. Denn von einem Ausgesetzt-Sein kann wahrlich nicht
gesprochen werden: Seine Propaganda ist das Gerücht über die Juden
selbst. Gerade die Deutschen wollen vom antisemitischen Charakter der
palästinensischen Anschläge gegen Israel und der vom 11. September
nichts wissen. Stattdessen labern deren Intellektuelle daher wie Martin Walser,
der von Auschwitz als Dauerrepräsentation unserer Schande
nichts mehr hören mag. Oder wie jüngst Günter Grass, der im
Angesicht der Anschläge nichts weiter zu tun hat, als das Existenzrecht
Israels unter Berufung auf Blut und Boden anzuzweifeln, in dem er rumposaunt,
daß Israel nicht nur die besetzten Gebiete räumen
sollte, sondern auch die Besitznahme palästinensischen Bodens und
seine Besiedelung eine kriminelle Handlung sei, die
nicht nur aufhören, sondern rückgängig gemacht
werden müsse. Auch Günter Grass ist bekanntlich nicht
irgendwer. War er es doch, der einstmals richtig feststellte, daß
Deutschland denken Auschwitz denken heißen müsse. Offensichtlich hat
er dies verdrängt. Solidarität mit Israel aber ist die einzigste
Konsequenz nach Auschwitz: Es geht unter allen Umständen darum, den
Staat Israel zu erhalten, so lange, bis Frieden, wirtschaftlicher und
technischer Vorausgang die Araber in einen allgemeinen Gemütszustand
versetzen, der ihnen die Anerkennung Israels innerhalb gesicherter Grenzen
gestattet (Jean Amery).
Der traditionelle Kampf der Kulturen zwischen amerikanischer Kulturindustrie,
der man mal so richtig die deutsche Dichter- und Denkerstirn zeigen müsse,
und deutschem ideologischen Wesen, an dem die Welt genesen solle, ist
längst wieder entbrannt. Die deutschen Friedensengel von links bis rechts,
vom Leipziger Pfarrer Führer bis zum ehemaligen Schröderschen
Kulturminister Naumann wirds freuen. Letzterer brachte es in der
Zeit vom 31. Oktober auf den Punkt: Zum Glück, so schreibt er allen
Ernstes, gibt es die naturgemäß kühlere, intellektuelle
Reaktion in Deutschland. (...) Dank dieser Differenzen wächst in
Deutschland inzwischen die Neigung, sich vom Krieg des großen
Bündnispartners gegen die Taliban zu verabschieden. (...) Das
amerikanische Fremdwort Angst ist in sein Ursprungsland
zurückgekehrt.
Nun darf man sich ruhig mal fragen, welche german angst wohl umgeht im
Ursprungsland des modernen Antisemitismus. Die Todesangst, die Jüdinnen
und Juden beispielsweise am 9. November 1938 vor dem deutschen Mob hatten? Oder
die Angst vor dem Bombenterror der Alliierten im Zweiten Weltkrieg,
der den Deutschen ein schlimmeres Verbrechen ist als ihr Vernichtungsprogramm
zur Ausrottung der Juden? Jede Deutsche, jeder Deutsche soll sich
diese Fragen stellen und Antwort geben auf die Frage, was Angst bedeutet.
Vielleicht, so bliebe zu hoffen, erschrickt sich der Eine oder der Andere
zumindest ein wenig vor sich selbst.
Zurecht attestierten die Psychoanalytiker Margarete und Alexander Mitscherlich
den Deutschen, daß sie zur wirklichen Trauer unfähig seien. Denn die
Angst ist ihr Trauerersatz. Die Angst davor nämlich, dabei ertappt zu
werden, daß sie den Antisemitismus nicht etwa konsequent bekämpfen,
sondern letztlich deshalb für ehrbar halten, weil die Ehre ihrer Eltern
und Großeltern, also ihre individuelle Zugehörigkeit zum Kollektiv,
es ihnen ehrenvoll gebietet.
Der Antiamerikanismus, der derzeit überall offen ausbricht, gehört
zum deutschen Hass auf die amerikanische Massenkultur wie das Ei zur Henne. In
ihm ist inzwischen traditionell der sekundäre Antisemitismus der
Antisemitismus nach Auschwitz verpackt. Fragt man einmal deutsche
sogenannte Kulturschaffende, was sie erstens unter amerikanischer Kultur
verstehen und zweitens, was sie von ihr halten, gelangt man recht schnell an
den Punkt, wo sich der deutsche Kollektiv-Kreis schließt. Erst
jüngst brachte es der Regisseur Leander Haußmann unbewußt im
Interview auf diesen Punkt. Befragt, was er denn zum Thema Nationalsozialismus
zu sagen hätte, meinte er, daß er nun wirklich einer Generation
junger Deutscher angehöre, die man Achtung! jetzt kommts
nun nicht mehr in Sippenhaft nehmen könne. Damit hat er
zwei Dinge des kollektiven deutschen Unbewußten ausgeplaudert. Erstens,
wie die Nazis andere, so hätte man die Deutschen in Sippenhaft
genommen, was nichts anderes heißt, als die anderen seien im Endeffekt
nicht besser als die Nazis gewesen. Und zweitens legte er offen, wie sehr die
kollektiven deutschen Bande generationsübergreifend geknüpft sind,
wenn er für das, was er sagt und denkt, keine anderen Begriff findet als
denjenigen, den die Deutschen zur Rechtfertigung ihrer Greuel benutzten.
Gesellschaftliche Emanzipation und menschliche Vernunft
Die Position hinsichtlich der Reaktion der USA und Israels auf den
gegenwärtigen antisemitischen Terror der Islamisten, die eingenommen
werden muß, kann sich nur widersprüchlich formulieren.
Emanzipatorische Kritik heute steht vor einer ähnlichen Herausforderung
wie die adornitische damals: Auf die Frage, was man mit dem geschlagenen
Deutschland anfangen soll, wüßte ich nur zweierlei zu antworten: ich
möchte um keinen Preis, unter gar keinen Bedingungen Henker sein oder
Rechtstitel für Henker liefern. Dann: ich möchte keinem, und gar mit
der Apparatur des Gesetzes, in den Arm fallen, der sich für Geschehenes
rächt. Das ist eine durch und durch unbefriedigende, widerspruchsvolle und
der Verallgemeinerung ebenso wie der Praxis spottende Antwort. Aber vielleicht
liegt der Fehler schon bei der Frage und nicht erst bei mir.
Adorno und Horkheimer erkannten zudem, daß die individuelle und
gesellschaftliche Emanzipation von Herrschaft (...) die Gegenbewegung zur
falschen Projektion ist. Und dies ist genauso wahr wie die Feststellung
in einer linken Zeitung, daß sich hinter dem Ruf nach Frieden immer auch
die Mörder verschanzen können.
Die Leidensfähigkeit der Menschen ist nach Auschwitz so unermeßlich
wie die menschliche Vernunft zutiefst diskreditiert. Doch liegt zugleich im
Leiden die Hoffnung auf Glück als Ausdruck menschlicher instrumenteller
Vernunft.
Das objektive Problem und die gleichzeitige Hoffnung, die die kapitalistische
Gesellschaft in sich trägt, beschrieb Leo Löwenthal
folgendermaßen: Die Träume der westlichen Zivilisation
können immer noch Wirklichkeit werden, wenn die Menschheit aufhört,
menschliche Wesen als Überschußware oder bloße Mittel zum
Zweck anzusehen. Wenn das nicht gelingt, könnte uns auch die Woge des
Terrors überschwemmen.
Leipzig, den 09. November 2001
Antinationale Gruppe Leipzig
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