Für eine parteiische Religionskritik
»Babylon brennt! Die Hure muß
sterben!« Ein Aufkleber mit diesen Worten, mittels Flammen und der
US-Flagge illustriert, findet sich an einer Telefonzelle in Sichtweite des
amerikanischen Konsulats in Leipzig. Zufällig klebt er dort nicht. Babylon
ist spätestens seit 95 n.Chr. Symbol des lasterhaften Lebens. Nun wird der
Maler des Aufklebers kaum die Johannes-Offenbarung im Neuen Testament der Bibel
gelesen haben: bemerkenswert ist aber, wie sich sein Antiamerikanismus an die
antisemitische Tradition des Christentums anlehnt. Wahrscheinlich ist er mehr
Christ als er denkt, denn wahrscheinlich ist, daß er alles, was ihn als
Christen kenntlich machen würde, schon aus seiner Identität
herausgestrichen hat und er deswegen meint, er wäre aus dem Schneider.
Dennoch zielsicher das Vokabular der Johannes-Offenbarung.
Dies läßt den Schluß zu: Wenn Erscheinungsweisen einer
Religion verschwinden, sagt das noch nichts über ihr Verschwinden selbst
aus. Es illustriert vielmehr, daß eine bestimmte Religion gar nicht
»an sich« auftreten kann, sondern sich verschlungen mit dem
Niveau der Vergesellschaftung spezifisch entwickelt. Besondere Kultur,
allgemeine Entwicklung der Ökonomie zu trennen, wäre schematisch und
würde der Analyse die kritische Spitze abbrechen. Ein solcher Versuch
endet in einem stumpfen Materialismus. Ergebnis eines solchen Versuchs
wäre auch, pluralistisch und mit Gerechtigkeitsinn anzufangen, die
Religionen als gleich gut, gleich schlecht zu betrachten und ihre Spezifiken
damit zu negieren.
Der Nationalsozialismus ist zum Beispiel nicht ohne den christlichen
Antisemitismus zu denken. Die aufkommende Vergesellschaftung im 15. Jh. rief
den christlichen Protestantismus hervor. Dieser war die konsequente Entfaltung
antisemitischer Ausprägungen des Christentums im Zeichen seiner Zeit. Ohne
diese kulturelle Grundlage wäre die nationalsozialistische
Krisenlösung nicht möglich gewesen. Wir kommen nicht daran vorbei,
die Religionen miteinander zu vergleichen (und haben es schon getan, sonst
wäre der Begriff Religion Unsinn) und die Beschäftigung mit dem
Nationalsozialismus stößt uns darauf: Es war ein christlicher
Kulturkreis, der die Vernichtung von Juden organisierte und ausführte (an
der Ausführung waren dann aber auch Muslime beteiligt). Das Warum?
läßt sich aus der Ökonomie allein heraus nicht verstehen.
Menschen, denen dieses Warum? nun nicht egal ist, die sich dem neuen
kategorischen Imperativ, »daß Auschwitz nicht sich
wiederhole« (Adorno), verpflichtet haben, obliegt nun folglich auch die
Pflicht, sich um ein Verhältnis zu den verschiedenen Religionen zu
kümmern. Das ist, gerade in der jetzigen Weltsituation, essentiell.
Wiederum schematisch wäre es jetzt, die einzelnen Religionen in handliche
und kritikable Förmchen zu fassen. Dennoch sollte man es wagen,
Anhaltspunkte zu suchen, Differenzen zu anderen Religionen zu interpretieren
(auszulegen) und die Nähe des eigenen philosophischen Standpunktes zu
diesen zu reflektieren.
Im Islam und im Christentum findet sich eine ähnliche Struktur in ihrem
Verhältnis zur Welt. Die von Mohammed und Jesus offenbarten bzw.
vorgelebten Regeln haben ihren Fluchtpunkt im Jenseits, das Leben ist ein
Durchlaufstadium, vielleicht die Aufnahmeprüfung zum Leben nach dem Tod,
dem Paradies, dem Himmel. Der Glaube muß sich nicht konsistent zur
zukünftigen Welt verhalten, sondern nur zum Versprechen des Himmels.
Beiden ist es somit möglich und vielleicht nötigt sie diese
Konzeption dazu Zweifel und Widerspruch ins Böse, in den
Gegenspieler der Religion zu verschieben: In den Satan und andere
Ungläubige.
Christentum und Islam stehen dem Judentum in dieser Struktur diametral
gegenüber. Das Judentum zeichnet sich dadurch aus, daß die Regeln
(und die, die das Christentum übernommen hat, sind auch dessen
progressivsten) nach denen es das Leben organisiert, die Ankunft des Messias
auf Erden bescheren. Die Welt, in der wir leben, wird also immer im Kontrast
zur kommenden Welt betrachtet, welche vom Leid befreit ist. Das Denken der
herrschenden Differenz zwischen möglichem guten Leben und bestehendem Leid
ist also im Judentum zentral. Walter Benjamin formuliert so: »Es ist
niemals ein Dokument der Kultur ohne zugleich ein solches der Barbarei zu
sein.« Man müsse »die Geschichte gegen den Strich
bürsten«, die Kritik des Falschen, dem vergangenen, welches nicht
vergehen will und dem jetzigen, hat einen Fluchtpunkt in der nachmessianischen
Zeit. In jener fängt auch Marxens »Geschichte der Menschen«
an und ihre »Vorgeschichte«, in der wir jetzt leben
müssen, weil wir noch nicht mündig genug sind, die Welt in die
eigenen Hände zu nehmen, ist zu ende. So könnte man assoziieren und
es gibt allen Grund dazu.
Christentum und Islam haben (durch den Bezug auf »das Leben nach dem
Tod«) ein anderes Verhältnis zur Geschichte. Strenggenommen ist die
der Christen schon zuende, ihr Messias, Jesus, war schon da. Mit etwas Vorsicht
könnte man beiden Religionen unterstellen, sie hätten kein Interesse
an der vernünftigen Einrichtung der Welt, ihr Fluchtpunkt bleibt das
Jenseits auch trotz des Einwandes »die gute, gerechte Welt zu
errichten ist Aufgabe der Christen und Muslime«.
Die Bereitschaft sich selbst zu töten und andere Menschen
mitzureißen, entspringt diesem Denken und man müsste untersuchen, ob
diese Vorstellungen auch bei nicht-religiös motivierten Amokläufern
eine Rolle spielt. Ein Psychoanalytiker aus Aachen erwähnt, daß
Menschen auch Nichtgläubige , die ihren Suizid
überlebten, sich »mehr oder weniger unbewusst« vor dem
Selbsttötungsversuch vorgestellt haben »in einem Zustand der Ruhe,
des Schlafes oder über den Ereignissen schwebend«, also in
paradiesischer Eintracht mit den Dingen, weiter zu existieren.
Selbsttötung ist hier nicht nur aus einer scheinbar ausweglosen Situation
auf der Erde motiviert, sondern auch durch eine Verschiebung der Wünsche
und Sehnsüchte hinter den eigenen Tod.(1)
Emanzipatorisch denkende Menschen grenzen sich hierzu scharf ab: Ihr Ziel ist
es, diese Verschiebung zu verhindern und daraus folgend die Erde nach den
Bedürfnissen der Menschen einzurichten. Zumindest in dieser Hinsicht steht
fest, und Freunde des kritischen Materialismus sollten sich das bewusstmachen:
Zumindest in dieser Hinsicht ist kommunistische(2) Kritik
säkularisiertes Judentum.
Was sich noch in der Kritischen Theorie personell nachvollziehen ließ,
ist mit dem Zerfall von Kritik überhaupt und der einzugnehmenden
Geschichtslosigkeit im philosophischen Denken verschüttet, und es ist
dringend notwendig, die Genesis des eigenen kritischen Denkens wieder
freizulegen. In der Dialektik der Aufklärung ist beschrieben,
daß Religion selber Aufklärung war; in Zeiten, in denen
Auflärung ihren Umschlag in Mytholgie vollzieht, ist es somit notwendig,
im Mythos nach Aufklärung zu suchen, gerade aus dem Bewußtsein
heraus, daß sich Aufklärung ihre Wurzeln abschneidet, die in den
Religionen ihren Verlauf und ihren Gegenstand zumindest zeitweise gefunden
haben. Religionen waren der Versuch, das Leben der Menschen zu organisieren, da
zumindest in den monotheistischen Religionen die Gottheit als
Projektionsfläche der eigenen Vorstellungen fungiert, vermittels Gott ein
menschenwürdiges Leben zu führen. Sie bergen emanzipatorische Ideen,
welche in welchem Maß wird sich zeigen: auch ob meine These,
kommunistische Kritik sei säkularisiertes Judentum, stimmt, wird sich erst
im weiteren Verlauf eines emanzipatorischen Projekts zeigen, daß es sich
zur Aufgabe macht, sein Verhältnis zu den Religionen zu klären. Mit
den realsozialistischen Trümmerkommunisten und anderen
Vorschlaghammermaterialisten wird dieses ebensowenig Gemeinsamkeiten haben, wie
mit der sogenannten »undogmatischen« Spektakellinken, die der
Sehnsucht auf Befreiung von den herrschenden Zuständen mit
Interesselosigkeit oder Spott begegnet.
Der These folgend, kämen auf jenes Projekt Konsequenzen zu, die schon aus
der Analyse des Nationalsozialismus gezogen worden sind und praktiziert werden:
Das Ineinanderfallen von Gesellschaftskritik und der Kritik des Antisemitismus.
Um das Bewußtsein erweitert, daß sich eben der Antisemitismus auch
gegen zentrale Elemente kommunistischer Emanzipation richtet, gerade weil sie
dem Judentum entspringen. Die Kritik des Antisemitismus ist deswegen auch
Notwehr des eigenen Standpunktes und umgekehrt, radikal formuliert: Kein
kommunistischer Standpunkt ohne die Kritik des Antisemitismus und seinen
Entfaltungsformen. Die Notwendigkeit des Ineinanderfallens von
Gesellschaftskritik und der Kritik des Antisemitismus zeigt sich gerade bei
Betrachtung des eliminatorischen Antisemitismus. Er ist die barbarischste
Konkretion dessen, was wir abstrakt kritisieren und gleichzeitig Indiz für
den zu befürchtenden massenhaften Umschlag der ruinierten
bürgerlichen Gesellschaft in die antikapitalistische Barbarei. Dem ebenso
ruinierten bürgerlichen Glücksversprechen droht gleiches: die
Perspektive auf Befreiung vom Elend würde und ist vielleicht schon
zerschlagen.
Till
(Aus dieser Überlegung heraus ist der Zusammensturz der Hochhäuser in
New York Symbol und Warnung für Menschen, die an einer geniessbaren Welt
des Lasters festhalten wollen(3) und die ihre Erlösung mittels
Kritik in eine lustvolle Zukunft denken.)
Fussnoten:
(1) Zu untersuchen wäre in diesem Kontext, wie sich die Todessehnsucht der
Nationalsozialisten, die Arno Gruen beschreibt, zu diesem Zusammenhang
verhält.
(2) Der Gebrauch des Wortes kommunistisch ist nostalgisch, deswegen aber
keineswegs falsch. Übertriebenen Wert lege ich nicht auf ihn, nur in
sofern, daß der Name Karl Marx eng mit ihm verbunden ist und ohne seine
Kategorien Gesellschaftskritik, die hier gemeint ist, sich nicht formulieren
lassen würde.
(3) Das WTC wurde in einer Erklärung von Autonomen als »Phallus der
westlichen Welt« bezeichnet. Das hat auch aus dieser Argumentation
folgend seine Berechtigung. Lediglich die Intention differiert.
|