Joseph Goebbels, der hinkende Leichnam des NS, hatte
recht: wenn die Menschen in den Krieg wie in einen Gottesdienst hineingehen,
stimmt das allgemeine Feeling überall. Die Terroranschläge in den USA
betrachtet
von Ralf
11. September 2001. Vermummte, Trümmer, Feuer,
Bullen mitten in New York City und Washington D.C. Zustände fast
wie in Genua, könnten die Autonomen assoziieren. Und echte Tote gab es
auch viel viel mehr als in Genua sogar. Soviel tolle Symbolik, medial
gut inszeniert. Ein Traum jedes Schwarzen Block-Warts muß das sein. So
wohl müssen sie sich richtig radikale Kritik der Verhältnisse
vorstellen. Das zumindest wäre die Logik, folgte man ihren wirren
Gedankengängen konsequent, daß viel Militanz gleichbedeutend mit der
Qualität radikaler Kritik ist. Und dazulernen, das können sie auch
noch: fetzig ist nämlich, daß die Vermummung nicht nur cool
aussieht, sondern auch gegen Staublungen zu helfen scheint so
suggerieren es die Bilder von den Menschen, die staubbedeckt in den Epizentren
der Anschläge umherirren.
Cut
Krieg überall also. Wurde am ersten September in Leipzig
anläßlich eines unbedeutenden Naziaufmarsches von einer Gruppe
pubertierender Möchtegern-Fundamentalisten Deutschland der Krieg
erklärt, dem ein Anschlag mit Blumenerde auf das Podium der zivilisierten
Gesellschaft der Leipziger auf dem Fuße folgte, gab es nur wenige Tage
später in den USA eine Kriegserklärung gegen die zivilisierte
Welt (Gerhard Schröder). Kann man über erstere Dummheit
zumindest so viel sagen, daß das Leben in einem Paralleluniversum fern
der Realität nicht vor Strafe schützen sollte, läßt sich
unter Hinwendung zum wirklichen Leben letzterer Wahnsinn, daß wir am 11.
September alle zu Amerikanern wurden, nur dann fassen, wenn man sich lange
genug die Ohren zuhält, um das unerträgliche Läuten
sämtlicher Kirchenglocken des christlichen Abendlandes
(junge Welt) nicht hören zu müssen. Getreu dem heiligen Motto,
daß der Schoß, aus dem es kroch, noch fruchtbar sei, krochen sie
kollektiv in den abendländischen der Kirche zurück. Dieses
erbärmliche Szenario, es war kaum zu ertragen: der religiöse
Fundamentalismus, den sie der islamischen Welt zum Vorwurf machen, ohne auch
nur einen ernsthaften Gedanken an dessen Ursache zu verschwenden, wird ihnen in
Zeiten der Weltkrise (Leipziger Volkszeitung) genauso zur
Fluchtburg wie allen anderen Menschen dieser Erde. Das Opium des Volkes (und
nicht etwa für das Volk, wie die verschwörungstheoretischen
Linken es gerne hätten) ist die Droge, die diese Weltgesellschaft dann
verstärkt erzeugt, wenn Krise ist sie steigert die Bereitschaft der
Menschen immens, in einen Krieg wie in einen Gottesdienst (J. Goebbels)
hineinzutaumeln. Die christlichen Pfaffen als die Dealer werden so zu
Führern, die der weinsaufenden Masse ihr Gesöff zu stillen
Wässerchen umpredigen. Daß letztere wiederum tief sind, darüber
darf dann aber nicht gesprochen werden, um eben zu keinem anderen Schluß
wie Samuel Huntington in seinen Cultural Studies der Phänotypen (The
Clash of Civilizations) kommen zu können.
Die globale Vorherrschaft der westlichen Welt zeigt Risse. Das ist der Fakt,
der die Krise belegt. Die Terroranschläge selbst sind nur Ausdruck davon
und die Piloten der Jets sind dabei quasi die Hiobsboten, die in ihren
fanatischen Selbstmordgelüsten in den Tod fürwahr wie in einen oben
schon benannten Gottesdienst hineingehen. Diese Risse sind nicht etwa
politischer oder moralischer Natur. Sie haben, und das war einstmals eine linke
Binsenweisheit, eine Ursache, die man nach Marx und Engels zu vermeintlich
linken Hoch-Zeiten schlicht Basis schimpfte: weil das Kapital an die Grenzen
seiner weltgesellschaftlichen Wirkungsmächtigkeit stößt, das
heißt, nicht vermag, alle Menschen ausreichend einzusaugen und allgemein
gleiche Warenbesitzer und -produzenten aus ihnen zu machen, gerät hier und
dort etwas partiell außer Kontrolle. Der logistische und geistige
Aufwand, der für die Anschläge betrieben werden konnte, befindet sich
dennoch auf der Höhe der entwickelten kapitalistischen
Produktivkräfte. Denn es ist ein Irrsinn zu meinen, daß man mit
archaischem Wissen oder Hilfsmitteln wie Teppichmessern, welche die
Flugzeug-Kidnapper bei sich gehabt haben sollen, solche Anschläge
ausführen könnte: wer in der Lage ist, ein modernes Flugzeug zu
steuern, muß so mittendrin in den modernen Produktionsverhältnissen
stehen, wie jeder westliche durchschnittliche Möchtegern-Citoyen, der
reichlich genug von den Früchten des Kapitals genascht hat, sonst
nämlich wären die Anschläge zum Beispiel wohl nur mit fliegenden
Orientteppichen aus Tausend und einer Nacht geplant worden, was dann wohl zur
schnellen Verwerfung geführt hätte.
Das Kapital als Weltmacht bezieht seine Stärke und Dynamik einzig und
allein aus seiner Produktionsweise, der ebensolche Verhältnisse zugrunde
liegen müssen, die sich bekanntlich als der Gegensatz von Lohnarbeit und
Kapital und dem privaten Eigentum an Produktionsmitteln verstehen lassen. Als
Logik dieser ungeheuren Macht weckt das Kapital bei den Menschen
Bedürfnisse, die es nur dann halbwegs zu befriedigen vermag, wenn die
Bedingungen für die Entfaltung der Produktivkräfte perspektivisch
genügend Entwicklungsmöglichkeiten verheißen können. Das
erzeugte Bedürfnis nach materiellem Wohlstand gerät so zum Ideal von
Freiheit und Glück, das sich überall auf der Erde mit der jeweiligen
kulturhistorischen Situation unter gewissen Zugeständnissen arrangieren
muß zumal es niemals und nirgends irgendwo als Neutrum im
historischen Sinne daherkommt. Dieses Bedürfnis als nicht befriedigt zu
begreifen, kann beim einzelnen Menschen einen Gegenreflex erzeugen, der auf der
Grundlage der anhaltenden Nicht-Befriedigung zu einem Wunsch nach asketischem
Leben der Geordnetheit und Übersichtlichkeit führt, das dann den
Zweck der Befriedigung des Unbefriedigten erfüllen soll. Mittel dafür
sind da insbesondere der Aberglaube, die Religion oder Esoterik. So neidet man
es allen, die dem idealisierten Wohlstand näher sind als man es angeblich
selbst nicht mehr als Bedürfnis empfindet, in irrationaler Form einer
pathischen Projektion (Adorno/Horkheimer), die als solche die entscheidenden
Elemente des Antisemitismus ausmachen, und sucht nach den Drahtziehern einer
solchen ungerechten Welt.
Die Gesellschaftsformation des Kapitals produziert objektiv den Antisemitismus
als den Schein ihrer Verhältnisse, deren besondere Ausformung eines
allgemeinen namens Deutschland die industrielle Massenvernichtung verbrochen
hat. Im Namen desselben allgemeinen Herrschaftsverhältnisses aber ist
Auschwitz auch gestoppt worden. Und auch diejenigen, die das taten, haben Namen
und Adresse: unter anderem waren es die US-Amerikaner, motiviert durch ihre
Interessen und gespeist von ihren Ideen. Daß dieser geschichtliche Fakt
im Zweifelsfalle zur Solidarität verpflichtet, ist keine Frage von
Überzeugungsarbeit, sondern die eines vorauszusetzenden Allgemeinplatzes,
von dem die deutsche Linke lange Jahre so weit entfernt war (und teilweise noch
ist), wie der Axel Springer-Verlag zu nah dran. Daß das nichts mehr und
nichts weniger bezeichnet als die Dialektik der Aufklärung nach Auschwitz,
die die Shoa (auch) in ihrem Namen hervorbrachte, um sie dann unter ihrem Ideal
wieder zu beenden, ist nicht etwa das Problem von Horkheimer/Adorno, das
heißt der ersten Veröffentlichung (1944) und der zweiten (1947)
ihres Werkes, sondern samt und sonders die Bestimmung des Verhältnisses
einer aufgeklärten Linken zum Bürgertum.
Die Totalität der bürgerlichen Weltgesellschaft, die Marx
prognostizierte, wird, ernstzunehmenden Analysen zufolge, gemeinhin als das
Ende der Moderne begriffen. Dieses Ende aber ist der Beleg dafür,
daß das Kapital seinen Zenit erreicht hat, weil die Expansion desselben
real keine unendliche mehr ist, sondern nur noch eine endliche
Wirkungsmacht entfalten kann. Wer nun wie die Postmodernen daraus den
Schluß zieht, es könne bei dieser totalen Gleichmacherei der
Totalität nur noch um die Findung von Differenz- und
Andersartigkeitsidentitäten gehen, macht sich zum Steigbügelhalter
der Barbarei. Wer das spätestens nach den Anschlägen nicht begriffen
hat, wird es, über 10 Jahre nach dem Zusammenbruch des Reiches des
Bösen (R. Reagan), wohl nie verstehen. Die sogenannte
Globalisierung, welche, und das hat sich innerhalb der Linken mittlerweile ein
wenig herumgesprochen, von Marx schon vor über 150 Jahren als
Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus benannt wurde, ist nichts anderes
als das regressive Umschlagen der Moderne, das die barbarisierte zunehmend
entstaatlichte Aggression zur Folge hat, die auch Ergebnis vom materiellen
und nicht etwa ideologischen Souveränitätsverlust der
Staaten gegenüber dem Kapital ist.
Begreift man, daß die Marxsche Kritik an der Bourgeoisie in all ihrer
Radikalität und Schärfe gleichzeitig eine uneingeschränkte
Hochachtung ihr gegenüber einschloß, ja die Kritik sogar auf ihr
fußte, dann läßt sich das Verhältnis zur Aufklärung
nach Auschwitz wiederum nur als eines begreifen, daß sich die Kritik an
der Aufklärung gleichzeitig mit der Bereitschaft paaren muß, genau
jene auch gegen ihre Angriffe verteidigen zu wollen. Jenen, denen so leicht und
locker gegen die Reflexion ihrer eigenen ganz persönlichen Existenzweise
über die Lippen kommt, die Aufklärung wäre nun mal gescheitert,
ist dies allenthalben unter die Nase zu reiben. Nimmt man in Tagen wie denen
nach dem 11. September einmal das Kommunistische Manifest zur Hand, um sich in
einer Art Rückversicherung des eigenen Denkens ganz verständlich ein
wenig Halt gegen den gesellschaftlich flottierenden Wahnsinn zu suchen
sich objektiv also auch nicht frei von einer Art Opiumersatz machen kann
, so findet man darin Zeilen, die nicht nur das persönliche
Verhältnis zur Bourgeoisie äußerst schnell wieder erhellen
können, sondern eben auch Antwort auf das Verhältnis von Ursache und
Wirkung der Selbstmordattentate geben: (...) Die Bourgeoisie hat in der
Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie,
wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen,
idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen
Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten
knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und
Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose
bare Zahlung. Sie hat die heiligen Schauer der frommen
Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der
spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer
Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den
Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und
wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie
hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen
Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte,
dürre Ausbeutung gesetzt. Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen
und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins
entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann
der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt. Die Bourgeoisie hat
dem Familienverhältnis seinen rührend-sentimentalen Schleier
abgerissen und es auf ein reines Geldverhältnis zurückgeführt.
Die Bourgeoisie hat enthüllt, wie die brutale Kraftäußerung,
die die Reaktion so sehr am Mittelalter bewundert, in der trägsten
Bärenhäuterei ihre passende Ergänzung fand. Erst sie hat
bewiesen, was die Tätigkeit der Menschen zustande bringen kann. Sie hat
ganz andere Wunderwerke vollbracht als ägyptische Pyramiden, römische
Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge
ausgeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.
Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also
die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen
Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte
Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung
aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung
der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen
Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche
vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem
Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden
aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern
können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird
entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre
gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen. Das
Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte
jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. Überall muß sie
sich einnisten, überall anbauen, überall Verbindungen herstellen. Die
Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und
Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen
Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den
Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrien sind vernichtet
worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch
neue Industrien, deren Einführung eine Lebensfrage für alle
zivilisierten Nationen wird, durch Industrien, die nicht mehr einheimische
Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten
und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Weltteilen
zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse
befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der
entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die
Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und
Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige
Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch
in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen
werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr
und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen
bildet sich eine Weltliteratur. Die Bourgeoisie reißt durch die rasche
Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte
Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die
wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle
chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den
hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie
zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen,
wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte
Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit
einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.
Unter dem Eindruck dieser Zeilen setzt sich das, was am 11. September in den
USA passierte, in eine Relation, die klarstellt, welches die Freiheit ist, die
sie meinen, wenn sie von der zivilisierten Welt reden. Nicht die
Zivilisation als allgemeine Menschheitsgeschichte, sondern die bürgerliche
Herrschaft im besonderen bringt den Terror hervor. So wurde eben nicht einer
terroristischen Macht ihre eigene Melodie vorgespielt, wie die
Tageszeitung junge Welt in links-traditioneller
antiamerikanisch-antizionistischer Diktion verkündet. Vielmehr ist der
Terror die verzweifelte Antwort, der kein stummer Schrei nach Liebe (Die
Ärzte) vorausging, sondern die Erkenntnis, daß die Weltmacht so
mächtig ist, daß man sich dem von ihr ausgehenden Zwang nur mit
Fanatismus zu erwehren glaubt. Wer sich so außen wähnt, nimmt
zumindest die Versteinerung wahr, die die bürgerlichen Verhältnisse
erzeugen: die Besinnungslosigkeit der Menschen in einem System, das den Schein
der Freiheit mittels abstraktem Tauschwert den Menschen verdinglicht
zurückspiegelt. Auf dieser Grundlage halluziniert sich das
bürgerliche Subjekt ein persönliches Gewissen, das der herrschende
Weltgeist des Kapitals in den einzelnen Menschen hinein mittels dieser Form
übersetzt.: So wie uns unser Gewissen Antwort auf die Frage gibt,
was gut und was böse ist. So kann uns nur unser Anstand sagen, was wir zu
tun und zu lassen haben, schreibt Bild im Leitartikel der ersten
Samstagausgabe nach den Anschlägen und bringt einige Zeilen weiter fast
beispiellos auf den Punkt, was den unverrückbaren Mittelpunkt
bürgerlichen Verstandes und Gewissens ausmacht: Weltmeister Michael
Schumacher verkörpert diese Haltung, wenn er morgen in Monza um den Sieg
kämpft ohne Sponsoren-Logos und mit einer schwarzen Schnauze an
seinem Ferrari.
Das Unbewußte, das hier hervortritt, ist die leise Ahnung davon,
daß man nicht unschuldig am Elend dieser Welt teilhat, wenn man in Europa
oder Nordamerika lebt. Und so gerinnt jeder Verzicht auf Werbeeinnahmen, jeder
abgesagte Kultur-, oder Sportevent unfreiwillig zu einer
christlich-nächstenliebenden Selbstkasteiung vor dem Herrn namens Kapital.
Ahnend, in den bürgerlichen Verhältnissen keine Unschuld je verlieren
zu können, weil man sie qua Geburt als Citoyen, als bürgerliches
Rechtssubjekt, niemals besitzen kann, wird die Betroffenheit von den
Ereignissen nicht etwa geheuchelt. Sie ist stattdessen der ehrliche und
ernsthafte Ausdruck des unvorstellbaren Unheils, das da plötzlich
heraufschimmert. Es ist der autoritäre Charakter, der aus ihren ehrlichen
Empfindungen spricht. Jener, der die eigene Kultur und Nation vergötzt, in
dem er dem Multikulturalismus huldigt, der über die folkloristisch
anmutende Welt gebracht werden soll. Es ist gerade diese autistische
Selbstherrlichkeit, die kurz vor dem Umschlagen zum kollektiven Zombietum
steht, die man reflektiv kaum fassen kann. Das Maß aller Dinge ist man
gerade nicht selbst im Stande seiner Unfreiheit. Denn es ist ein Abstraktum,
das die Gleichheit aller Menschen missionarisch über die Welt gebracht hat
und ständig wieder von neuem in der Warenform bringt, welches sich jene
nicht gefallen lassen wollen, die ihre Identität erst recht in Abgrenzung
zu diesem unmittelbaren omnipräsenten Gleichheitsversprechen finden: die
abstrakte Gleichheit als Ursache hat auch ihre Ablehnung zur Folge. Das ist die
Gleichung der bürgerlichen Gleichheit als Weltgeltung.
Gefühle werden ausgestellt, und da gilt: Je weniger einer hat, desto
mehr muß er vorzeigen, schrieb Wiglaf Droste wenige Tage nach den
Anschlägen dankenswerterweise in den grassierenden Wahnsinn hinein. Wen
die Bilder von Manhattan und vom Pentacon noch ernstlich erschüttern
konnten, offenbarte damit gleichzeitig, sich nicht etwa ein Stück
Menschlichkeit bewahrt zu haben, sondern die eigene Abstumpfung, die notwendige
Eindimensionalität seiner eigenen Existenzweise, überhaupt nicht zu
reflektieren. Mit diesen Menschen läßt sich so allerhand an
Schweinereien anstellen und ganz bestimmt auch ein KZ betreiben, in dem die
Verantwortlichen der Anschläge und ihre Helfershelfer darben sollen. Denn
letztlich ist das alles nur eine Frage der gesellschaftlichen Projektionskraft,
der Verschleierung der wahren Verhältnisse. Denn wer die zynische
Wirklichkeit des realen Lebens nicht mal kennen will, ist von einer
Bewußtwerdung der bürgerlichen Zustände weiter entfernt als das
antiamerikanischste, antizionistischste Arschloch. Und selbst die F.A.Z.
räumt dem Prinzip Hoffnung auf der Feuilletonseite ein klitzelkleines
Plätzchen ein, das hier nicht unzitiert bleiben soll: Man muß
kein Islamist sein, um vor derartigen Fühllosigkeiten der kapitalistischen
Welt schaudernd die Augen zu verschließen. Nein, man kann sie auch,
und das ist bekanntlich die Stärke der F.A.Z., einfach rational
fassen und aussprechen. Wenn die Anschläge nämlich eines verdeutlicht
haben, dann das: wir sind weiter von einer menschlichen Gesellschaft entfernt,
als man es sich nur denken konnte. Jedoch nicht etwa wegen der Terroristen,
sondern der Menschen des Westens und deren entfremdeten Charakters von jeder
Form wirklich subjektiver Aneignung wegen. (Schließlich, und das hier nur
am Rande, sind sie in der großen Masse diejenigen, die dem Bombardement
der Nato in Jugoslawien und vielen anderen Schweinereien ihren Segen gegeben
haben.)
Daß alle nach dem starken Staat schreien (Angst,
Vergeltung etc.) ist Ausdruck der gesellschaftlichen
Herrschaftskrise, die eine Welt nicht mehr zu beherrschen scheint und in deren
Folge mittels Perspektivwechsel diese zum Sicherheitsrisiko erklärt wird.
Denn überall sieht man sie plötzlich herumlümmeln, die
barbarischen Schurken und ihren unzivilisierten Volks-Anhang. Die
bürgerlichen Produktions- und Verkehrsverhältnisse, die
bürgerlichen Eigentumsverhältnisse, die moderne bürgerliche
Gesellschaft, die so gewaltige Produktions- und Verkehrsmittel hervorgezaubert
hat, gleicht dem Hexenmeister, der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu
beherrschen vermag, die er heraufbeschwor. So steht es im Kommunistischen
Manifest. Und so steht es in Bild: Es ist wie bei Hitler. Die
Weltmacht Terror überfiel uns im Schlaf. (...) Wer redet noch von Terror?
Das ist eine Kriegserklärung aus dem Dunkel.
Die dunklen Mächte also verrichten ihr Werk der Vernichtung. Die
kulturindustriellen Hollywood-Fantasien vom flammenden Inferno bis zum Tag
danach transformierten sich binnen weniger Augenblicke zur grausamen und
wirkungsmächtigen Realität. Und das zeigt das Ende der medial
inszenierten Symbolik an, die in linken Politikkreisen längst als
postmodernes Geschwafel bloßgestellt , letztlich schon seit dem
Toten von Genua einen Knacks durch ungewollte Materialisierung wegbekommen hat.
Was für ein schlichtes aber dolle aufgeladenes Symbol gehalten wurde,
löste eine Kette aus, die das weltgesellschaftliche Fundament, die
politische Ökonomie, erschaudern und erschüttern ließ. Es waren
zwar nicht die Zentren der Macht, die es unter der Herrschaft des Kapitals eben
gerade nicht gibt, aber Macht-volle Zentren allemal: Die Angst vor der
Rezession ging in einem Maße um, wie man es gerade im Vergleich zum
Golfkrieg nicht für möglich gehalten hätte. Denn das Öl,
so etwas wie das Lebenselixier moderner Wirtschaften
(F.A.Z.) stieg in seinem Preis. Die Analysten, Banker und Broker
lauschten den Verlautbarungen der OPEC, der Organisation
erdölfördernder Länder, weil der Barrel-Preis auf 30 US-Dollar
hochschoß und alles über diese Marke wirklich bedrohlich
ist (Financial Times Deutschland). Nach Schätzungen des
US-amerikanischen Beratungsunternehmens Economy.com liegen die Einbußen
durch die Anschläge und deren Folgen für das Bruttoinlandsprodukt der
USA bei 0.1 Prozent das sind rund 10 Mrd. US-Dollar. Und das ist nach
den Worten eines Sprechers der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit (OECD) erheblich.
Wie fest der Glaube an die Zentralbanken als guter Ersatz für die Deckung
des konvertierbaren Weltgeldes durch Gold überhaupt ist, offenbarte sich
kurzzeitig nach den Anschlägen. Man flüchtete vom fiktiven ins
konkrete, kaufte Gold auf. Und trotz des regulierenden Eingreifens der
Zentralbanken und der wahrscheinlichen Absenkung der Leit-Zinssätze,
um der Gefahr von Finanzierungsengpässen in der Kreditwirtschaft
nach dem Terroranschlag zu begegnen (Financial Times Deutschland),
und dem sofortigen Nachlassen des Goldaufkaufs daraufhin läßt sich
konstatieren: Was kaum noch klar war, nämlich warum man überhaupt die
staatlichen Goldschätze trotz der längst beendeten Golddeckung der
Währungen noch hütet statt sie längst verkauft zu haben, ist so
wieder zur krisenfesten Gewißheit geworden. Man braucht den Goldschatz
für den Fall der Fälle. Denn er wird im Falle des Zusammenbruchs der
Zentralbanken, den sonst einzigsten Garantien papierner Werte, die Rettung sein
können. Die kurzzeitige Flucht an den Börsen in das Gold als
äquivalenter verdinglichter Wertausdruck eines Weltgeldes, das also in den
Momenten von Krise unter Umständen nicht einmal das Papier wert sein kann,
auf dem es gedruckt wurde, verdeutlicht nicht weniger als die Fiktion eines
immerwährenden Gesellschaftszustandes, dessen Weltgeltung immer
stärker eine auf spekulativen Pump ist. Das quasi Einsaugen der eigenen
Zukunft ausgedrückt im fiktiven Kapital nicht mal mehr toter Arbeit
ist so irrsinnig wie das Kapital, das die Menschen in Produktion und
Tausch wegen dieser anhaltenden Sogwirkung zur bürgerlichen
Rationalität zwingt. So hat der Wahnsinn der Herrschaft des Kapitals
Methode durch die Menschen hindurch: man kann sie einsaugen aber auch
ausspucken ganz nach Belieben der Konjunktur. Und, last but not least:
Humankapital ist das wichtigste Kapital der Investmentbanken und
Handelshäuser. (F.A.Z.) Das ist die kapitalistische Wahrheit
zum ersten. Zum zweiten besteht sie darin, was die Financial Times
Deutschland angesichts eines drohenden Krieges als Gesetz des Kapitalismus
konstatierte. Nach einer Katastrophe, ob nun durch Naturgewalt oder Krieg,
können Wiederaufbaumaßnahmen (...) die Nachfrage
erhöhen. Und zum dritten wissen Spiegel-Leser manchmal
wirklich mehr: Die Vernichtung der Pazifikflotte im Dezember 1941 war
für die Amerikaner ein Desaster, militärisch, politisch,
psychologisch aber eben nicht ökonomisch. Wirtschaftshistoriker
(...) glauben, daß zumindest die Börsen heute so wie im Jahr 1941
binnen weniger Tage zur Normalität zurückfinden werden.
Weder habe der Angriff auf Pearl Harbor die Aktienmärkte langfristig in
die Tiefe gedrückt, noch sei das Land in einer allgemeinen Depression
versunken.
Auch andere historische Großereignisse ließen die Investoren
relativ kalt. So hat der Beginn des Zweiten Weltkrieges (...) die Anleger in
Übersee nicht negativ beeinflußt (...). Im Gegenteil: Der Dow Jones
legte in den ersten Kriegstagen um 20 Punkte zu, in der damaligen Zeit ein
kräftiges Plus. Tatsächlich leitete die Kriegskonjunktur einen
stetigen Aufstieg ein, am 31. Dezember 1949 stand der Dow Jones bei knapp 200
Punkten und hatte sich damit gegenüber 1940 nahezu verdoppelt. (...) So
wird es auch diesmal sein, sagen etliche Ökonomen.
Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen, fragen Marx und
Engels im Kommunistischen Manifest. Ihre Antwort: Dadurch, daß sie
allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet (...).
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