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Dokumentation:
Professor Micheal Wolfssohn, Dozent an der Bundeswehrakademie zu München zu den Anschlägen vom 11. September – entnommen aus der
Allgemeine Jüdische Wochenzeitung vom 26. September 2001

"Die Juden sind schuld!"

Der Terror in den USA und das Wiederaufleben alter Stereotypen.

„Die Juden sind schuld“, zumindest „die Juden in Israel“. In diesen apokalyptischen Tagen des sich auf den Islam berufenden Terrors ist dieses Argument von einer das Christentum praktizierenden Umwelt zu hören. Nicht weniger direkt in unserem christlich sich nennenden Deutschland stößt man auf diesen gedanken- und kenntnislosen Gedanken. Je gebildeter und geschulter die Argumentierenden, desto eher formulieren sie verklausuliert, aber wer’s versteht, versteht’s. Und „wir Juden“ verstehen. Mit dem Antisemitismusvorwurf sollte man dabei freilich zurück haltend sein, denn subjektiv sind die meisten, die jene These vertreten durchaus Juden- und Israelfreunde. Objektiv müssen wir leider feststellen, daß auch viele dieser Freunde sich in ihren Tiefenschichten nicht von uralten antisemitischen Klischees befreit haben. Man wäre versucht, zu sagen, daß wir mit solchen Freunden keine Feinde mehr benötigten.
Das Denkmuster der Freunde, von den Gegnern und wahren Antisemiten ganz zu schweigen, ist schnell skizziert: Weil Israel, „die Juden“, seit Jahrzehnten eine „völlig uneinsichtige und brutale“ Palästinenserpolitik betrieben hätten, bekämen jetzt die USA als Israelfreunde und -helfer die Rechnung für Israels (vermeintliche oder tatsächliche) Mißachtung der Menschenrechte in den besetzten Gebieten, und besonders für die Methoden von Israels Ministerpräsident Scharon vorgelegt.
Daß die USA seit dem Sechstagekrieg von 1967 (aus eigenem Interesse!) eine strategische Allianz mit Israel geschmiedet haben, ist unbestreitbar. Daß sie deshalb Israels Politik insgesamt unkritisch gebilligt und nicht zu ändern versucht hätten, ist eine abenteuerliche, kenntnislose Behauptung.
Doch um Nahost geht es nur vordergründig. Das sind vorgeschobene Argumente, willkommene Anlässe, um eine grundsätzliche Distanzierung „des Westens“ von Israel zu rechtfertigen. Längst gibt es diese Distanzierung in Westeuropa, besonders in Frankreich. Nun sollen auch Deutschland und vor allem die USA folgen. Darum geht es denen, die einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Terroranschlägen gegen die USA und Nahost herstellen. Sie übersehen oder wollen übersehen, daß ein derartiges Terrorinferno nur nach jahrelangen Vorarbeiten verwirklicht werden konnte. Da Scharon erst im Februar dieses Jahres zum Premier Israels gewählt wurde, scheidet schon aus zeitlich logischen Gründen das Scharon-Argument aus. Davor, bei den Wahlen vom Mai 1999, hatten die Israelis der „Fallren“-Politik Netanjahus einen Korb gegeben und Barak den Auftrag erteilt, eine friedenspolitische Offensive einzuleiten. Sie scheiterte, aus welchen Gründen auch immer, aber es gab sie. Eine Reaktion auf Israels Fortsetzung der Konfrontation kann daher weder der antiisraelische noch der antiamerikanische Terror sein, zumal Israel, genau an dem Tag, an dem die „Al-Aksa-Intifada“ (29. September 2000) ausbrach, die weitestgehenden Zugeständnisse in der Jerusalemfrage verkündete und im Januar 2001 sogar bereit war, fast hundert Prozent des Westjordanlandes zu räumen. Trotzdem wurden die Intifada und die Vorbereitungen der Terroranschläge fortgeführt. Sowohl Israels vermeintliche Nachgiebigkeit als auch Israels Unnachgiebigkeit scheiden deshalb als Erklärung aus. Intifada und Terror gab und gibt es unter beiden Vorgaben israelischer Politik.
Die Verbindung zwischen Israel und dem islamistischen Anti-US-Terror ist also unsinnig, weil falsch. Dieser Terror richtet sich nicht gegen Israel oder die USA, sondern gegen „den Westen“, die westlich-freiheitlich-demokratische-marktwirtschaftliche Ordnung schlechthin und letztlich natürlich auch gegen Deutschland als unbestreitbaren Teil des Westens. Israel „verantwortlich“ zu machen, bedeutet, es in die Rolle zu drängen, die traditionell „den Juden“ zugedacht war: als „Ruhestörer“ und Sündenbock für alles und jedes.
Blauäugig dachten viele Amerikaner bis zum 11. September, Außenpolitik finde weit draußen statt und gehe sie nichts an. Sie mußten leidvoll erfahren, daß Außenpolitik ihr Innenleben, ganz wörtlich, vital trifft. Sie verstanden bis zum 11. September auch nicht, daß man Terror mehr präventiv als reaktiv begegnen müsse. Deshalb lehnten sie damals die gezielte Ermordung der Väter des Terrors ab. In Deutschland und Westeuropa ist man außen- und weltpolitisch nicht mehr ganz so provinziell, hielt aber in den vergangenen Jahren den Terror weitgehend für ein innernahöstliches Problem und kritisierte heftig die gezielten Tötungen der Terrordrahtzieher. Man übersah und übersieht, daß der gegen Israel gerichtete „Terror“ eigentlich schon seit langem ein „Krieg“ ist, daß Angriffe auf und in Jerusalem oder Tel Aviv im Kern nichts anderes als jene Angriffe auf New York und Washington sind. Bei letzteren spricht man nun auch vom „Krieg“ und dort, in und gegen Israel, ist es „nur“ Terror.
Krieg ist „ein Akt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen“ (Clausewitz, Vom Kriege). Jeder Krieg, das wissen wir auch vom alten Clausewitz, hat ein „ursprüngliches Motiv“, einen politischen Zweck. Krieg ist kein Selbstzweck, er „ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Israels gezielte Ermordung beziehungsweise „Liquidierung“ von Palästinensern, Politikern oder Terroristen oder beiden, ist also kein politischer, sondern ein rein kriegerischer Akt. In jedem Krieg sterben Menschen. Das ist überall und immer das schreckliche, unmenschliche Gesetz des Krieges.
Wenn Menschen – unter dem Gesetz des Krieges – sterben müssen, gibt es folgende Alternative: Sollen möglichst viele Menschen auf der anderen (im Krieg nennt man sie „feindlichen“) Seite sterben oder nur diejenigen, die einer politischen Lösung im Wege stehen und ihrerseits sogar militärisch („terroristisch“) gegen die eigene Seite vorgehen? Die Frage zu stellen, heißt sie zu beantworten, es sei denn man haßt die andere Seite insgesamt. Weil selbst die Regierung Scharon nicht aus kollektivem Haß, sondern aus politischen Zielen Palästinenser (nicht aber „die“ Palästinenser, also das palästinensische Volk) bekämpft, wählt sie die gezielte Ermordung.
Das bedeutet: Wenn schon Unmenschlichkeit durch Krieg und im Krieg, dann so wenig wie möglich, nur so viel Unmenschlichkeit wie militärisch nötig und vor allem gezielt auf Einzelne, um die politische Lösung (welche auch immer) im Kollektiv der anderen mit den dort politisch Denkenden und dann Handelnden auch eines Tages durchsetzen zu können. Nicht zuletzt deshalb bleibt Arafat verschont. Die meisten Israelis wissen nämlich: Die Arafats kommen und gehen, aber das Palästinenserproblem bleibt.
Die derzeitige Vorgehensweise der Anti-US-Terroristen und Palästinenser, ihrer Führung ebenso wie der islamischen Fundamentalisten und der weltlichen „Ablehnungsfront“, geht kollektiv vor. Ihre Aktionen richten sich blind „gegen den Westen“ und „gegen Israel“, nicht gezielt gegen bestimmte Menschen. Ihre Vorgehensweise ist deshalb durch und durch unpolitisch und ohne jede Perspektive, also – leider – dem Islam sowie dem palästinensischen Volk schädlich.
Über die Gerechtigkeit, Richtigkeit oder gar Weisheit der israelischen Politik mag man streiten, nicht jedoch darüber, daß Israel nur ein Vorwand für antiwestlichen Terror von Islamisten ist.
Den USA wird geraten, sie werden so gar gewarnt, ja nicht „alttestamentarisch“ zu reagieren. Nicht „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, sei die Parole, sondern die „Verhältnismäßigkeit“ von Verbrechen und Strafe. Jene Warnung ist im Kern eine Warnung vor „den Juden“, denn das „Alte Testament“, die Hebräische Bibel, ist das A und B und C von Juden und Judentum. Ganz abgesehen davon besagt „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ nichts anderes als „Verhältnismäßigkeit von Verbrechen und Strafe“. Auch wenn jüdische Museen wie Pilze aus dem Boden sprießen, die Unkenntnis über uns Juden und das Judentum ist geblieben und auch die Bereitschaft, uns als „Ruhestörer“ und „Sündenböcke“ anzusehen.
Vor einem Jahr rief Kanzler Schnöder die Deutschen zum „Aufstand der Anständigen“ auf. Jetzt spricht man vom „Krieg der Anständigen“. Hoffentlich ist dieser erfolgreicher als jener – so schlimm jeder Krieg ist. Doch manchmal ist das Schlimme notwendig, um das Schlimmste zu verhindern.
Michael Wolfssohn



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last modified: 28.3.2007