Anmerkungen zu den Reaktionen der Linken aud die Terroranschläge von New
York und Washington
von Roswitha Scholz
1.
Der Terror in den USA und der anschließende Bombenkrieg gegen Afghanistan
haben (nicht nur) in der wertkritischen Linken zu Verwirrung und
Polarisierungen geführt. Einer Position, wie sie Bahamas und
mehrheitlich die Jungle World vertreten, die sich beide
vorbehaltlos auf die Seite der westlichen Werte und der westlichen Zivilisation
vor dem geschichtlichen Hintergrund der Nazis und des Holocaust stellen, bis
hin zur Extremforderung einer flächendeckenden Bombardierung der
islamischen Länder (Bahamas-Erklärung), stehen u.a. Ansätze
gegenüber, die eine wertkritische Erhellung von objektiven Strukturen der
gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklung, ,also der
(welt)gesellschaftlichen Ursachen dieser barbarischen Terrorangriffe betreiben.
Die Germeingefährlichkeit der Bahamas-Position in ihrer Zuspitzung liegt
dabei auf der Hand.
Im folgenden will ich zeigen, dass es darum gehen muss, sowohl den
übergreifenden Mechanismen und abstrakt-allgemeinen Strukturen Rechnung zu
tragen (also gesellschaftsanalytisch die heutigen Ursachen des Terrorismus
herauszuarbeiten), als auch die spezifisch deutsche Geschichte und in der Folge
auch die Reaktionen hierzulande auf die Terroranschläge ideologiekritisch
ins Visier zu nehmen, ohne das eine mit dem anderen zu verwechseln oder
gleichzusetzen. Beide Ebenen müssen einerseits getrennt, andererseits in
ihrer Vermitteltheit betrachtet werden.
Dies betrifft insbesondere den antisemitischen Charakter der Anschläge.
Dabei gilt es meines Erachtens die Ansätze von Moishe Postone, der
Dialektik der Aufklärung und der fundamentalen
Wertkritik auf heutige Verhältnisse bezogen, zu verbinden. Mit
Postone gehe ich davon aus, dass die Juden schon seit dem 19. Jahrhundert mit
den zerstörerischen Seiten von Kapitalismus und moderner Zivilisation
identifiziert werden, eine Vorstellung, die schließlich im Holocaust
kulminierte. Der Krisis-Position ist dabei insofern recht zu geben,
wenn sie verschiedene Phasen des Kapitalismus und damit verbunden auch
verschiedene Formen des Antisemitismus auseinanderzuhalten bestrebt ist, also
auf einer kapitalistischen Entwicklungslogik besteht. Diese Position scheint
mir am ehesten fähig, den gegenwärtigen welt-gesellschaftlichen
Hintergrund der Globalisierung angemessen, nämlich als
Verfallsprozeß des Kapitalismus zu analysieren. Allerdings plädiere
ich dafür, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Qualitäten bei
weitem stärker in ihrem historischen Gewordensein (also auch die aktuellen
Entwicklungen und Ereignisse in ihrer historischen Dimension) zu beachten, als
dies bis jetzt in der Theoriebildung der Krisis vor allem inbezug
auf Deutschland geschieht.
Wenn die entsprechenden Bestimmungen prinzipiell von der Annahme einer
Dialektik der Aufklärung ausgehen sollen, so müssen sie
auch mittels einer Kritik der Identitätslogik geleistet werden, wie sie
bei Horkheimer und Adorno zu finden ist. In diesem Zusammenhang muß daran
erinnert werden, dass Horkheimer und Adorno die Vernichtung der Juden im
Nationalsozialismus selbst mit der im Kapitalismus dominierenden
Identitätslogik in Verbindung gebracht haben, wonach das Allgemeine
über das Besondere herrscht und von oben her Ordnung gemacht werden
muß, d.h. auch Differenzen und Differenzierungen ausgeblendet werden
müssen. Diese Denkform führte im NS zur Liquidierung der
Abweichenden.
Für Adorno und Horkheimer ist es freilich nur der Warentausch, der diese
Denkform bestimmt und wonach Ungleichnamiges gleichnamig gemacht wird. Dagegen
ist hinsichtlich der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Grundform mit der
Krisis und Postone vom Wert (bzw. in meinemVerständnis von der
Wert-Abspaltung, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann) als
Verhältnis auszugehen und nicht bloß vom Warentausch. Dabei ist es
ein Manko der Krisis-Position, dass sie bis jetzt eine mit der
Wertkritik einhergehende Kritik der Identitätslogik weitgehend
ausgeblendet hat und noch immer die Tendenz besteht, unterschiedslos alles
unter den Wert-Hut zu packen. Das birgt die Gefahr, noch im kritischen Wissen
vom Wert als Negativprinzip die anstehende Subjekt-Kritik insofern zu
verfehlen, als in der negativen Bestimmung der Subjektform dennoch ein alter
Subjekt-Objekt-Dualismus beibehalten wird.
Ganz und gar identitätslogisch, wenngleich in anderer Hinsicht,
verfährt die Bahamas-Position, indem sie noch nicht einmal
eine entwicklungslogische Differenzierung zuläßt. Geht sie doch
prinzipiell unhistorisch von einem immergleichen Kapitalismus aus und wird von
ihr imgrunde eine bestimmte historische Konstellation der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts als Denkschablone auf jedwede neue Entwicklung gelegt.
2.
Der Terror in den USA war ganz offensichtlich antisemitisch motiviert. Postones
Thesen bewahrheiten sich hier symbolisch verdichtet. Die Anschläge zielten
aus einer rückwärts gewandten Ideologie heraus auf die
Zerstörung des Abstrakt-Universalistisch-Allgemeinen im
Kapitalverhältnis. Islamischen Fundamentalisten ist es, wie sie immer
wieder bekräftigen, um den Kampf gegen die Juden und Christen, den Westen,
zu tun. Auch wenn sie keinen affirmativen Bezug auf die Arbeit
proklamieren, so pochen sie doch auf die Religion als das scheinbar kulturell
Konkrete.
Dennoch ist ein abstrakter positiver Bezug auf den Kapitalismus in dieser
Situation von radikallinker Seite falsch. Er zeugt ebenso von falscher
Unmittelbarkeit. Dabei wird verdrängt, dass der Antisemitismus selbst ein
durch und durch kapitalistisches Produkt ist. Je mehr sich die Warenform und
darüber auch westlich-universalistische Werte verallgemeinerten, desto
mehr wurden die Juden damit in personalisierender Weise identifiziert. Erst mit
dem Kapitalismus kam eine durchgängige warenfetischistische Denkform und
demzufolge ein ideologisierender positiver Bezug auf das Konkrete
und die Arbeit auf, ohne dass gesehen wurde, wie dieses scheinbar
Ursprüngliche selbst schon immer Produkt der warenförmigen
Realabstraktion ist. Die Juden wurden fast schon als Verursacher, auf jeden
Fall aber als die eigentlichen Nutznießer des Kapitalismus angesehen,
dessen destruktive Potenzen ihnen egal seien. Dieses antisemitische Stereotyp
ist fester Bestandteil der westlichen Kultur; die in vieler Hinsicht durchaus
zutreffende Rede von der judäo-christlichen Kultur verschleiert diese
Tatsache.
Dabei ist es jedoch wichtig, den Kapitalismus als historischen Prozeß
aufzufassen und in diesem Zusammenhang auch den Antisemitismus jeweils
historisch zu bestimmen unter Berücksichtigung von Kontinuitäten. So
unterscheidet sich etwa der eliminatorische fordistische Antisemitismus der
Nazis vom Antisemitismus in der Globalisierungsära, wobei der heute
dominierende Antisemitismus in Deutschland ein sekundärer ist (nicht
trotz, sondern wegen Auschwitz). Gerade eingedenk der Tatsache, dass die Juden
schon seit dem 19. Jahrhundert in der identitätslogischen Setzung mit der
zerstörerischen Erscheinung des Kapitalismus schlechthin identifiziert
wurden, gilt es verschiedene historische Phasen auseinanderzuhalten. So handelt
es sich bei den Terroranschlägen in den USA einfach nicht um eine
systematische, fabrikartig-planmäßig betriebene Vernichtung der
Juden wie im NS, sondern eben um die Militanz von selbst-mörderischen
Terrorakten, auch wenn diese noch so postmodern ausgeklügelt waren und als
solche einer High-Tech-Hybris gleichzeitig den Stinkefinger gezeigt haben.
Die historische Differenzierung impliziert nicht zuletzt, dass wir uns heute
nicht in positivistisch-platter Manier einfach auf die Seite der
abstrakt-universellen westlichen Werte stellen können gegen
einen imgrunde unhistorisch gedachten Antisemitismus, sondern wir müssen
uns dieses Unmittelbarkeitsdenkens entschlagen, um noch viel
grundsätzlicher in der kritischen Theorie und Analyse auf die Ebene des
übergreifenden Abstrakt-Allgemeinen zu gehen. Das bedeutet, eine kritische
(negative) Totalitätsperspektive geltend zu machen, und zwar in ihrer
historischen Dimension; also heute im Hinblick auf den
Globalisierungsprozeß. Insofern geht es darum, die
Abstraktionszumutungen von Moishe Postone noch zuzuspitzen. Darauf
ist freilich erst recht gegenüber antiimperialistischen Positionen zu
bestehen, die ebenfalls positivistisch-platt in einer schon immer affirmativ
gedachten Nation, Kultur usw. das unterdrückte Partikulare
retten möchten. Die Parole Zivilisation ist Völkermord
ist völlig abwegig, denn Völker wurden erst mit der
Entstehung der Nation konstruiert und konstituieren sich seither in rituellen
Zwangshandlungen selbst.
Es verbieten sich somit eine reflexhafte Scheinanalyse und entsprechend kurz
greifende Schlußfolgerungen. Gerade aus der Perspektive einer
übergreifenden Analyse auf der Ebene des Abstrakt-Allgemeinen in
gleichzeitiger historischer Konkretion kann weder für die USA noch gar
für Bin Laden Partei ergriffen werden. Dabei gilt es auch zu bedenken,
dass man sich z.B. wie Stoiber dezidiert auf die Seite des
christlich-abendländischen Universalismus schlagen und zugleich stolz
darauf sein kann, mit den demokratisch gewählten Medien-Rechtsradikalen
wie Berlusconi ebenso wie mit Rassisten und Antisemiten vom Schlage Haiders die
Köpfe zusammenzustecken. Der Kontext der Terroranschläge in den USA
muß so auf der gebotenen Abstraktionshöhe, im Weltmaßstab und
auf der historischen Stufe der postmodernen Globalisierung geklärt werden,
ohne deswegen irgendetwas zu entschuldigen. Das heißt auch, sich nicht in
oberflächlicher Weise von der widerlichen und kriegslüsternen Rambo-
und postmodernen Gutsherrenart der US-Funktionseliten provozieren zu lassen,
wie sie sich allabendlich in den Medien präsentiert.
3.
Aus der Perspektive einer Kritik der Identitätslogik gilt es, nicht nur
die historische Dimension, sondern auch länder- und kulturspezifische
Differenzen zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang fragt es sich
insbesondere auch, wie in Deutschland mit seiner Geschichte des NS und des
Holocaust auf die Terroranschläge in den USA reagiert wird. Welche Motive
hegen diesen Reaktionen in der Globalisierungsära zugrunde?
Ein Fehler wäre es dabei, wie etwa die Bahamas immer noch von einem
schweinsbraten- bzw. körnerfressenden Ruralteutonen mit einer
entsprechenden Psychostruktur auszugehen. Stattdessen haben wir es heute mit
einem Typus zu tun, den ich einmal in essayistischer Verallgemeinerung als
teutonischen Yuppie bezeichnet habe. Dieser teutonische Yuppie
schätzt die Errungenschaften des
postmodern-kapitalistischenVergesellschaftungs- und Konsumniveaus durchaus.
Deutschland gehört zu den führenden Weltmarktnationen. Just als
indirekte Folge des 2.Weltkriegs und durch das Eingreifen der USA wurden der
BRD ein Wohlstand und eine Machtstellung zuteil, die den bestialischen Taten im
NS eigentlich Hohn spricht. Dennoch hält sich ob der Kriegsniederlage ein
kaum hörbares, tabuisiertes Grollen, ein Ressentiment gegenüber den
(ehemaligen) Besatzern. Dabei spricht einiges dafür, dass
Industrialisierungsschübe hierzulande erst durch die
nationalsozialistische Transitphase (und damit in dieser NS-Form) vorbereitet
wurden; wurde doch der Ausbau des deutschen Sozialstaats als Voraussetzung
für die Individualisierungsprozesse des Nachkriegszeit erst durch den NS
forciert und institutionalisiert, während dabei jeglicher sozialer Ingrimm
in der deutschen Volksgemeinschaft aufging. Jene postmoderne
Individualisierung, wie sie heute im Zuge der Globalisierung und mittlerweile
auch in zunehmender Entbundenheit von sozialstaatlichen Leistungen für das
kapitalistische System dringend gebraucht wird, basiert so in Deutschland
imgrunde auf den Leichenbergen von sechs Millionen ermordeten Juden.
Dieser Zusammenhang, auch wenn er nicht thematisiert wird, wirkt nach in allen
deutschen Reaktionen auf die weltkapitalistische Entwicklung. In einer Art
Hassliebe formuliert man so eine totale Beistandschaft, wie Rita
Süßmuth während des Golfkriegs Anfang der 90er Jahre
gegenüber Israel und gegenwärtig wieder deutsche Politiker
gegenüber den USA. Ich gebe Holger Schatz recht, wenn er feststellt, dass
ein neues BRD-Nationalbewußtsein sich gerade durch diese bedingungslose
Beistandschaft gegenüber den USA behaupten kann, und zwar eben in einer
Zeit, in der das traditionelle Nationsverständnis durch
Globalisierungsprozesse ausgehöhlt wird. Dabei zeigt sich der deutsche
sekundäre Antisemitismus heute, allen Mahnmaldiskussionen, Gedenktagen und
-reden zum Trotz, gerade darin, daß unter dem Druck der Globalisierung
die permanente Modernisierung der Gesellschaft beschworen wird,
notwendigerweise der Gesellschaft, wie sie geworden ist, und in dieser
hektischen Betonung des Neuen die Besinnung auf die Opfer in den
Hintergrund tritt. Man will also imgrunde nichts mehr zu tun haben mit der
geschichtlichen deutschen Schuld, indem man bloß noch rituelle Waschungen
vornimmt.
Die Situation ist somit mehrfach paradox und die Gefühle sind
ausgesprochen gemischt. Deshalb ist die einfache Deutung einer Identifikation
der deutschen Tätergesellschaft mit den islamistischen Terroristen auf
einer Heideggerschen Todestrieb-Seinsgrundlage mehr als reduziert. Die
Bahamasposition kann Widersprüche und Ambivalenzen kaum aushalten und
selbst dort, wo sie benannt werden, erscheint letztlich doch das Bild eines
selbstmordgeilen Ruralteutonen, bleibt die Analyse also identitätslogisch.
Umgekehrt ist es jedoch ebenso problematisch, wenn man (wie es teilweise in der
Krisis-Position erscheint) nur die historisch neue Situation
benennt und die auch historisch bedingten Motivationen weitgehend ausgeblendet
werden.
Stehen traditionellen Stereotypen zufolge die Juden für die
überzivilisierten Übermenschen, so in der kolonialen
Tradition z.B. die Schwarzen für die unterentwickelten
Untermenschen. In der heutigen Situation sieht man sich in der BRD
gleichermaßen in einer Übermenschen wie einer
Untermenschenposition. Dies ist die Grundlage für die Identifikation mit
den USA wie auch einen damit zusammenhängenden Wohlstandschauvinismus: aus
der Furcht heraus, dass jetzt der Globalisierungsterror auf die Zentren
zurückschlägt und womöglich auch zu uns her kommt.
Von daher auch das kitschig inszenierte Mitgefühl mit den US-Terroropfern.
In diesem Zusammenhang ist allerdings ein Verweis etwa auf die Verhungernden in
der Dritten Welt und andere Modernisierungsopfer äußerst angebracht;
denn dabei handelt es sich um keine Aufrechnung, sondern um die
Kritik einer westlich-wohlstandschauvinistischen Empfindungsweise.
Eine Konsequenz der spießigen deutschen Heraushalte-Position, die
bloß die Krisengewalt verdrängen möchte, ist die sich
konstituierende Friedensbewegung. In diesem Kontext können das
chauvinistische Bangen um erreichte Lebensstandards und ein vulgärer
Antiimperialismus antiamerikanischen Zuschnitts ein paradoxes Amalgam eingehen,
wobei die Angst vor Bin Laden und den USA ungefähr gleich groß ist,
weil man befürchtet, daß die Militärschläge der USA neuen
Terror womöglich auch hierzulande auslösen. Insofern ist eine solche
Friedensbewegung scharf zu kritisieren und zu bekämpfen, ohne deswegen (in
bloßer Scheinkritik daran) umgekehrt in die hysterische Kriegshetze
á la Bahamas einzustimmen, die das kapitalistische Abstrakt-Allgemeine
selber bloß abstrakt bejaht und mit ihrer wertkritisch und antideutsch
frisierten, geradezu religiös anmutenden Bekundung der totalen
Beistandschaft gegenüber Israel prinzipiell auf einer Linie mit der
Art der Süßmuth-Bekundungen liegt. Eine Friedensbewegung, die
antisemitischen Tendenzen entschieden entgegentritt und das Problem
reflektiert, könnte dagegen unterstützt werden.
In Wirklichkeit hätte vor allem Israel nichts von einem
abstrakt-reduktionistisch begründeten militärischen Kreuzzug gegen
die islamischen Länder. Selbst Scharon dürfte sich kaum
ernsthaft für eine solche Haltung einsetzen, die für Israel
selbstmörderisch wäre. Man wagt es kaum in Betracht zu ziehen, aber
dies bedenkend könnte man fast meinen, daß die Bahamas mit ihrer
vordergründig absolut pro-israelischen Haltung und ihrer maßlosen
Denunziation in Wahrheit Israel die Pest an den Hals wünschen, sprich die
von einem islamistischen Selbstmordattentäter überbrachte Atombombe.
Das wäre die naheliegende Konsequenz der Bahamas-Strategie, wie sie sich
vor den Hintergrund einer solcherart hoch problematischen
Kulturalisierung des Sozialen zeigt.
Abwegig erscheint mir in diesem Zusammenhang auch der Vorwurf des
Bahamas-Autors Horst Pankow gegen Robert Kurz, dieser könne ob seines eher
systemischen Kapitalismusbegriffs, der Personalisierungen vermeidet, keine
Schuldigen mehr erkennen, sprich den Islam bzw. die islamistischen
Terroristen (während absurderweise Gerhard Scheit inzwischen den genau
umgekehrten Vorwurf einer Personalisierung des Kapitalismus qua fehlender
Parteinahme für die USA erhoben hat). Hier findet eine Projektion statt,
nämlich eine wiederum identitätslogische Gleichsetzung von
Nazi-Deutschland mit den islamischen Ländern.
Antiamerikanische und antisemitische Haltungen könnten sich künftig
umso mehr zeigen, je stärker die ökonomische Lage sich verschlechtert
und der Wohlstandslevel dementsprechend heruntergefahren wird; auch wenn die
Anti-Globalisierungsbewegung, die sich mit der Friedensbewegung überlappt,
infolge der Terroranschläge momentan bemüht ist, einen
unverblümten Antiamerikanismus zu vermeiden. Zu erwarten ist aber auch
gleichzeitig, dass die Rassismen jedweder Couleur zunehmen und sich eine
multikulturelle Barbarei (R. Kurz) noch stärker als bisher
zeigen wird, die von der Dominanzkultur (B. Rommelspacher) durch
verschärfte Sicherheitsauflagen eingedämmt werden soll. Eine Linke,
die dabei wie die Bahamas den Kampf gegen den Antisemitismus und den gegen den
Rassismus platt prowestlich gegeneinander ausspielt, ist nichts anderes als ein
bewußtloser Teil dieser barbarischen Konstellation.
4.
Eine nicht-identitätslogische Analyse kann nicht umhin, festzustellen,
daß der Antisemitismus in den arabischen bzw. islamischen Ländern
einen anderen Charakter als im Westen und insbesondere auch in Deutschland hat.
Die Selbstmordanschläge in Israel wie in den USA stehen im Unterschied zur
planmäßigen, selektiven und massenhaften Vernichtung der Juden durch
den NS nur in einer kriegsmetzlerischen Tradition, wie sie die
konventionellen Kriege ganz allgemein auszeichnen, wenngleich in einer neuen
postmodernen Form; schließlich handelt es sich bei den Tätern um
extrem westgeprägte Hybridexistenzen auf der technischen Höhe der
Globalisierung. Auch müßte dabei die spezifische Geschichte und
Beziehungskonstellation: arabische Länder-Israel-USA und
hintergründig auch Deutschland genauer unter die Lupe genommen werden.
Zwar gab es schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts im islamischen Raum
ebenfalls Gleichsetzungen Jude=Geld. Jedoch ist zu vermuten, dass es selbst im
islamischen Fundamentalismus keine antisemitische Biologisierung bzw.
überhaupt Ontologisierung wie im NS gibt. Würde ein Angehöriger
mosaischen Glaubens zum radikalen Islamismus konvertieren, so würden seine
jüdischen Ursprünge keine Rolle mehr spielen. In den Bahamas, aber
auch bei Matthias Küntzel wird permanent eine Ähnlichkeit zwischen
Islamismus und Nazismus propagiert, die dann letztlich und schon von der
ganzen Intention her zur Identität wird.
Dabei sind Selbstmordattentate auch als solche postmoderne, neue Gewalt- und
Barbareiformen, die es in der Vergangenheit (meines Wissens nur mit Ausnahme
von Japan) nicht gegeben hat und die heute in einer Selbstlosigkeit
im Sinne von Hannah Arendt gründen, die ähnliche Erscheinungen aus
der Zwischenkriegszeit noch bei weitem übergipfeln. In den arabischen
Ländern war diese Erscheinung noch bis vor kurzem nicht anzutreffen. Die
deutsche Selbstmordsehnsucht im NS war etwas anderes; sie war eher über
das Kollektiv und nicht über Individualisierungsprozesse vermittelt.
Hybridexistenzen, die freiwillig Selbstmordattentate mit einer
quasi-ausgesetzten neoreligiösen Ideologie und insofern
fanatisch-fundamentalistischen Stoßrichtung begehen, waren damals noch
gar nicht denkbar.
5.
Grundsätzlich muß bei solchen Analysen der Tatsache Rechnung
getragen werden, daß es dem kritischen Gesellschaftstheoretiker im
Gegensatz zum positivistischen (Natur)wissenschaftler unmöglich ist, sich
im Sinne eines omnipotenten, allwissenden Subjekts zum Objekt zu verhalten, da
er sich immer als Teil der von ihm untersuchten Gesellschaft weiß. Das
heißt auch, dass wir, sofern wir als Deutsche aufgewachsen sind und der
deutschen Dominanzkultur angehören, unter Einbeziehung der
intergenerationalen Übertragung die besondere Qualität des Holocaust
im deutschen Kontext mit seinen Konsequenzen bis zum heutigen Tag
berücksichtigen müssen.
In diesem Zusammenhang ist es übrigens problematisch, auch wenn dies auf
einer Metaebene zutrifft, den (deutschen) Rechtsextremismus, der bekanntlich
aus der Mitte der Gesellschaft kommt, ebenso als zur demokratischen
Gesellschaft selbst gehörendes Reich des Bösen zu
betrachten wie den islamischen Fundamentalismus im Weltmaßstab. Das
Spezifisch-Partikulare im Kontext der modernen kapitalistischen Zivilisation
wird so nicht berücksichtigt und die eigene Involviertheit in die deutsche
Dominanzkultur, indem diese im unspezifischen Abstrakt-Allgemeinen
ersäuft wird.
So sehr es jedoch wahr ist, daß ein Gesellschaftstheoretiker sich niemals
außerhalb der Gesellschaft befinden kann und seine Position jeweils in
einem spezifischen kulturellen und historischen Kontext verorten muß, so
wenig darf sich radikale Gesellschaftskritik in einer derartigen Einsicht
gemütlich einrichten. Gerade weil Theorie immer einen Zeitkern
(Horkheimer/Adorno) hat, Gesellschaft ein Prozeß ist und in diesem
Zusammenhang eine Subjekt-Objekt-Dialektik, eine Dialektik zwischen Individuum
und Gesellschaft bei einem prinzipiellen Übergewicht der Gesellschaft
besteht, verbietet sich eine verdinglichte, statische Herangehensweise, die
unhistorisch ein schon immer gleich bleibend gedachtes
Subjekt-Objekt-Verhältnis logisch zementiert und ontologisiert.
Dabei kann gerade eine neuartige Situation es erfordern, dieses Verhältnis
von Subjekt und Objekt, von Gesellschaft und Individuum innovativ zu denken. So
erscheint es in der postfordistischen Phase der letzten Jahre angezeigt, das,
was die kapitalistische Welt, die Gesellschaft im Innersten
zusammenhält, nämlich den Wert als gesellschaftliche
Grundtatsache (Adorno) neu zu bestimmen, d.h. vom alten
Mehrwertmarxismus zur grundsätzlichen Wertkritik im Sinne von
Arbeitskritik überzugehen. Dies meint, wir haben die Aufgabe, aus der
Verstrickung in die gesellschaftliche Formobjektivität auszubrechen.
Insofern sind wir gezwungen, trotz des Wissens um dieses Drinnen-verhaftet-sein
um den Begriff zu ringen, der dieses Drinnensein überwindet, eingedenk der
erreichten historischen Entwicklungsstufe. Es ist dies vielleicht ein
Kennzeichen kritischer Theoriebildung überhaupt, das sogar für die
alte Arbeiterbewegung in gewisser Weise gültig war.
Sich dieser Verstrickung bewußt zu sein und zugleich den Versuch
unternehmen zu müssen, aus ihr auszubrechen, ist übrigens selbst noch
für antideutsche Positionen, die das bürgerliche
Subjekt-Objekt-Verhältnis wie etwa Gerhard Scheit ontologisieren,
charakteristisch; allerdings eben in affirmativer Wendung, wähnt er sich
doch, indem er sich in verkürzter Kapitalismuskritik umstandslos auf die
Seite des abstrakten Universalistisch-Allgemeinen stellt, seinerseits
draußen und gewissermaßen aus dem
Schneider. Konsequent in dieser Weise zu Ende gedacht, gäbe es somit
aus der bürgerlichen Subjekt-Objekt-Ontologie überhaupt keinen
Ausweg. Wir sind verstrickt, verstrickt, verstrickt ... müßte bis
ins Unendliche der Refrain lauten.
Wenn dem aber so wäre, dann fragt es sich, wie vom Wert überhaupt
kritisch als von einem automatischen Subjekt und objektiver
Grundstruktur gesprochen werden kann. Verharren wir nämlich in der
bürgerlichen Subjekt-Objekt-Ontologie, so ist damit automatisch und
reduktionistisch ein immanent perspektivisches Denken einer imgrunde
wissenssoziologischen Tradition verabsolutiert, dass jegliche Möglichkeit
des Erkennens einer objektiven Wahrheit bestreiten muß.
Trotzdem sind wir auch bei Erkenntnis dieses Zusammenhangs weiter Bestandteil
der Gesellschaft, die wir analysieren, und kommen der Subjekthaftigkeit
(Subjektform) nicht aus. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als
einerseits unsere Existenz als jeweils historisch, kulturell, ökonomisch
und sozialpsychologisch bestimmte Subjekte zu denken, und das heißt im
hier verhandelten Zusammenhang auch Abwehrmechanismen zu reflektieren, die mit
einem heute in neuer Weise virulenten Antisemitismus einhergehen; andererseits
gilt es aber auch den objektiven, übergreifenden
Totalitätszusammenhang zu denken, in den unsere subjektive Befindlichkeit
eingebettet ist. Wir kommen nicht umhin, die Spannung zwischen diesen beiden
Momenten auszuhalten.
6.
In diesem Zusammenhang ist es geboten, grundsätzlich die ideologische
Ebene und objektive Entwicklungen analytisch auseinander zu halten, was im
Krisis-Kontext bislang zugunsten der Objektivität im
Großen und Ganzen vernachlässigt wurde. Die ideologische Dimension,
die immer auch historische Überhänge umfaßt, geht nicht in
objektiven Mechanismen und Entwicklungen auf. Ideologische Manifestationen
können dem objektiven Prozeß hinterher hinken.
Andererseits geht Ideologie jedoch auch nie in historischen
Überhängen auf und ist immer auch mit objektiven Prozessen gekoppelt.
Auch wenn die Bahamas inzwischen selbst einräumen, daß
gesellschaftlicher Wandel und objektive Strukturen mitberücksichtigt
werden müssen, haben diese bei ihnen letztlich bloß einen
akzidentiellen Charakter, während die ideologische Ebene das
Ausschlaggebende ist. Die Vermittlung zwischen ideologischer und objektiver
Dimension wird verfehlt. So wird etwa, was affektive und
Bewußtseinsstrukturen angeht, in der gegenwärtigen BRD immer noch
der selbstmordsüchtig-militaristische, ruralideologische
Weltkriegsdeutsche gesehen; und man muss heute trotz allen Wissens darum, dass
Religion längst obsolet geworden ist, eine klassische
bürgerlich-altmarxistische Religionskritik paradox hingebogen im Sinne
eines ungeglaubten Glaubens (so Uli Krug vor allem im Hinblick auf
den Islamismus) wie weiland zu Aufklärungszeiten leisten.
7.
Es dürfen somit insgesamt nicht verschiedene historische, kulturelle und
ideologische Ebenen und Dimensionen, das Allgemeine, das Besondere, das
Spezifische und Partikulare identitätslogisch in eins gesetzt werden.
Nichts verschont uns vor der Mühsal der Ebenen, gerade in der
fragmentierten Totalität der Postmoderne. Andererseits müssen diese
Differenzierungen jedoch unbedingt in der Reflexion durch ein
(welt)gesellschaftliches Band, den Wert, der in der Globalisierungs-Ära
gerade durch seine endgültige weltgesellschaftliche Durchsetzung zugleich
brüchig wird, als miteinander verbunden gesehen werden.
So ist kaum zu übersehen, dass eine verkürzte Kapitalismuskritik der
Globalisierungsgegner mit Nähe zu antisemitischen Stereotypen den
Terroranschlägen in gewisser Weise entspricht und man es auch so
betrachten kann, dass letztere eine Zuspitzung der ersteren darstellen. Diese
unfreiwilligen Zusammenhänge ergeben sich gerade durch die Globalisierung,
die es mit sich bringt, daß jedes einzelne Land nicht mehr für sich
ist, sondern wir eben eine One World haben. Insofern ist Benjamin Barher
zuzustimmen, wenn er sagt, daß McDonald und Djihad sich gegenseitig
bedingen. Dies gilt gleichermaßen für ein postmodernes Insistieren
auf Identität als auch für eine dekonstruktivistische Sicht, die
jedwede Identitätsvorstellung unglaubwürdig zu machen bestrebt ist.
Queer-Politik z.B. und die Taliban haben mehr miteinander zu tun, als ihnen
lieb ist. Auch insofern ist es völlig falsch, zu meinen, man könne
sich bloß entweder auf die reaktionäre Seite eines antiwestlichen
Fundamentalismus oder auf die Seite der westlichen abstrakt-universalistischen
Werte in Form des Goutierens einer, meines Erachtens, ebenso
oberflächlichen Libertinage, die viel mit repressiver
Entsublimierung und wenig mit Emanzipation zu tun hat, stellen. Insofern
gehören freilich auch Spaßgesellschaft und Islamismus zusammen. Eine
radikal kritische Position muß diesen inneren Zusammenhang aufzeigen,
sich das Recht auf eine radikale (eben nicht abstrakte) Negation der
Weltverhältnisse herausnehmen und damit beide sich bedingenden Optionen
verwerfen.
So darf es auch keineswegs bloß darum gehen, in ideologiekritischer
Reduktion auf die zumal in Deutschland geschichtlich wirkmächtigen
Gefahren einer verkürzten, mit dem Antisemitismus kompatiblen
Kapitalismuskritik bei Globalisierungsgegnern aufmerksam zu machen, die den
Wert nicht als Verhältnis auffassen, ohne gleichzeitig eine Analyse
weltgesellschaftlicher Strukturentwicklungen und eine Kritik an den sozialen
Katastrophen der kapitalistischen Globalisierung zu betreiben. Eine nach dem
Muster der Bahamas innerhalb der Linken tabubrecherische, die
kapitalistische Globalisierung und Zivilisation in verbogener
gesellschaftskritischer Absicht affirmierende Position stellt so ceterum
censeo selber eine verkürzte, identitätslogisch verfahrende
Kapitalismuskritik dar.
Entschlagen wir uns dieses identitätslogischen Vorgehens, so müssen
wir auch sehen, dass in Zeiten der Globalisierung nirgendwo mehr der Staat wie
im NS den Holocaust organisiert, sondern die Staaten bzw. Staatenbünde
einerseits gerade aus den Erfordernissen der Globalisierung heraus gegen den
mörderischen antisemitischen Mob vorgehen, andererseits jedoch
gleichzeitig die affirmative Funktion des Antisemitismus und überhaupt
einer Fremdenfeindlichkeit gewissermaßen durch ein
Outsourcing dem Volk (in der traditionellen Diktion) bzw. der
Zivilgesellschaft (in der postmodernen Diktion) überlassen und
geradezu übertragen.
Ganz abwegig ist dabei Huntingtons These vom Krieg der Kulturen,
die das Globalisierungsproblem von der materiell-ökonomischen Ebene
ablöst. Eine radikallinke Gegenposition gegen die falschen Alternativen
innerhalb des Globalisierungsprozesses muss hingegen die materielle Dimension,
somit also auch die soziale Frage thematisieren und (ohne Verzicht auf
Ideologiekritik) wieder in den Vordergrund rücken. Auch wenn selbst von
Regierungsseite in wortkosmetischer Absicht mehr Gerechtigkeit im
Weltmaßstab als Ziel bemüht wird, ist die soziale Ebene
seitens radikaler Kritik umso mehr zu besetzen. In diesem Zusammenhang hat
nicht zuletzt der krisentheoretische Ansatz seinen Stellenwert, d.h. die
Einsicht, dass heute die Zerstörung der Wertvergesellschaftung durch den
Wert selbst manifest geworden ist. Die Zerstörungskraft des Terrors
entspricht dem Obsoletwerden der Arbeit, den Finanzcrashs usw. zugespitzt
könnte so auch formuliert werden: Die islamistischen Attentäter sind
durch ihre postmoderne Hybridexistenz, ihre technologische Kompetenz usw. der
Wert; der Wert in seiner Selbstzerstörung.
8.
Als Maßstab der Zivilisationskritik müssen die Menschenrechte
gelten. So sehr es zutrifft, dass schwerste Verbrechen im Namen der
Menschenrechte verübt wurden, so sehr gilt auch, dass noch das Kriterium,
derartige Verbrechen als solche zu benennen, die Menschenrechte selbst sind.
Ansonsten gibt es keine allgemeinen Maßstäbe, Mißstände
überhaupt wirksam anzuprangern. Bei dem Empfinden, daß Folter, Mord,
Totschlag etc. unmöglich zu rechtfertigen sind, handelt es sich imgrunde
um emotional abgelagerte Menschenrechtsnormen. Hinter die Menschenrechte darf
weder zurückgefallen noch ihre Kritik als Metakritik ausgeklammert werden;
vielmehr ist momentan die Spannung zwischen diesen gegensätzlichen
Anforderungen auszuhalten.
Das heißt allerdings auch, daß es ebenso unmöglich ist, sich
mit dem Gestus radikaler Kritik letztlich doch wieder auf die Seite der
über Leichen gehenden Aufklärung zu stellen. Der Westen und die USA
selbst sind barbarisch, tagtäglich werden elementare humane Normen
verletzt. Das zeigt sich nicht nur an den modernen Kriegen und rassistischen
Diskriminierungen in diesen Gesellschaften bis zum heutigen Tag; auch muß
man nicht erst einen Blick in US-Gefängnisse und Psychiatrien werfen oder
die hauptsächlich an Schwarzen vollstreckte Todesstrafe
bemühen, um dies zu erkennen. Dieselbe Barbarei findet sich hierzulande im
Knastalltag, in der Abschiebepraxis, im Umgang mit Herausgefallenen. Die
innerdemokratische Brutalität und Gemeinheit wird im offiziellen wie im
linken West- und US-Patriotismus eskamotiert.
So ist die in der Jungle World gegenüber den Kritikern an ihrer
Kriegsbefürwortung ausgegebene Parole God bless the
Meinungsfreiheit nichts als repressive bürgerliche
Toleranzideologie, von der die Weltmacht-Brutalität als Ursprung
westlich-zivilisatorischer Werte abgefeiert wird. Man hört geradezu die
Glocken der lila Milka-Kuh klingeln, wenn in Reklame-Manier die hohlen
Demokratenphrasen für bare Münze genommen und ein kitschiges
Freiheitsritual zelebriert wird. Diese Toleranzideologie steht schon immer
positivistisch auf der Seite dessen, was der Fall ist, und blendet
von vornherein aus, was in radikal kritischer Absicht möglich ist. Der
innerdemokratische Multikulturalismus stellt dabei übrigens keinen Angriff
auf die repressive Toleranz des abstrakten Universalismus von Aufklärung
und westlichen Werten dar, sondern er befindet sich vielmehr gerade in der
Ära des Kollaps der Modernisierung ganz in deren Tradition.
Denn nun wird nicht mehr bloß die Gleichheit unter Gleichen, sondern in
paradoxer Verkehrung die Gleichheit in der Differenz im Kontext mit den bisher
inferior gesetzten Anderen postuliert. Dies trifft ebenso für
das weithin positiv besetzte Konzept der hybriden Identitäten
zu, in dem das austarierungs- und übersetzungsfähige Individuum im
Gegensatz zum klassischen, einheitlichen Aufklärungssubjekt hochgehalten
wird. Ironischerweise gehören gerade die Selbstmordattentäter zu
diesem Typus.
9.
Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass in der ganzen Auseinandersetzung um den
Terrorismus Frauen in der westlichen Welt wieder einmal zu Zeichen werden. Man
zieht die geknechteten Taliban-Frauen heran, um mit der Inhumanität der
Barbaren Kriegspropaganda zu machen. Frauen sind das Pfund, mit dem
gewuchert wird. Die westlich-bellizistische Seite unter Einschluß ihrer
linken Sekundanten erweckt manchmal gar den Eindruck, daß die Bomben auf
Afghanistan ausgerechnet zur Befreiung der Frauen abgeworfen werden. Dabei
haben Frauen bei der mit den USA verbündeten Nordallianz und im
befreundeten Saudi-Arabien weniger Rechte als zum Beispiel im Iran. Man kann
getrost davon ausgehen, daß die Situation von Frauen in islamischen
Ländern dem Westen in Wirklichkeit am Arsch vorbei geht.
Dabei wird so getan, als würden die westlichen Werte schon immer die
Befreiung der Frauen einschließen, als gehörte nicht ihre
historische Konstruktion als Andere, per definitionem Ungleiche
wesentlich zur Konstitution der Menschenrechte und damit zu deren negativer
Kehrseite. Suggeriert wird erst recht, daß das hierarchische
Geschlechterverhältnis heute im Westen kein Problem mehr und
grundsätzlich gelöst sei, um davon abzulenken, wie sich die
geschlechtliche Asymmetrie in postmodernen Zeiten neu darstellt, neuartige
Geschlechterproblematiken und -Dilemmata hervorruft. Der Westen stilisiert sich
so wieder einmal unberechtigt zum Vorbild für die ganze Welt.
Jenseits des Geredes von Chancen für Frauen, die im Zuge der
Globalisierung entstünden, sind in Wahrheit auf diese Weise weltweit eine
große Masse von Frauen nicht mehr bloß primär für die
Reproduktion, sondern mittlerweile für Geld und
(Über)Leben (Irmgard Schulz) gleichermaßen zuständig
gemacht worden, ohne die Möglichkeit der Existenzsicherung und ohne
Überwindung der soziokulturellen Geschlechter-Asymmetrie. Im solcherart
bloß verwildernden postmodernen Patriarchat hat der Mann als
Familienernährer ausgedient und wird von den Frauen vielleicht sogar noch
durchgezogen, wobei die Geschlechterbeziehung immer unverbindlicher wird bei
gleichzeitiger Weiterexistenz männlicher Dominanz. Dies sind die
Real-Konsequenzen der westlich-kapitalistischen
Geschlechterbefreiung für den größten Teil der
Weltbevölkerung im Zerfallsprozeß des Kapitalismus.
Ebenso falsch wie hinsichtlich der Frauenfrage wird in diesem
Kontext der Westen auch inbezug auf das Sexualverhalten, auf männliche und
weibliche Homosexualität etc. als ultra-aufgeschlossen dargestellt. Die
oberflächliche Toleranz gegenüber Flexi-Transis soll darüber
hinwegtäuschen, dass es hier weniger um ein Zulassen verschiedener
sexueller Orientierungen geht, sondern um die Durchsetzung
globalisierungs-kompatibler und durchökonomisierter
Flexi-Zwangsidentitäten, ohne deswegen die zwangsheterosexuelle
Grundstruktur zu überwinden. Die barbarischen Taliban als Frauenfeinde und
Gegner der Perversen werden so zur bloßen
Projektionsfläche gemacht, um das der bürgerlichen Gesellschaft
zugrunde liegende frauenfeindliche und zwangsheterosexuelle geschlechtliche
Basisverhältnis in der Feier bürgerlicher Zivilität wegblenden
zu können.
Dazu noch eine quasi methodische Schlußbemerkung: In meinen Thesen fehlt
ein systematischer Rekurs auf die Form und Entwicklung des
Geschlechterverhältnisses in der maßgeblichen
westlich-kapitalistischen Zivilisation. Dies habe ich mir deshalb verkniffen,
weil dafür erstens hier nicht der Raum ist und es zweitens immer noch
genug Männer und ebenso auch Frauen gibt, denen bei der Thematisierung der
unüberwundenen geschlechtlichen Asymmetrie die Jalousien heruntergehen,
sodass der Text von vornherein bloß unter der Perspektive eines
Sonderaspekts oder vielleicht gar nicht gelesen würde. Ich
kann hinsichtlich der weiteren Problematik nur auf mein demnächst
erscheinendes Buch mit dem Arbeitstitel Das Unbehagen an den
Differenzen/Klasse, Geschlecht, >>Rasse<< und postmoderne
Individualisierung verweisen, in dem die Matrix für die hier
formulierten Thesen entwickelt wird. Im Anschluß an die Kritik der
Identitätslogik geht es dabei darum, im Begriff des
Geschlechterverhältnisses (Wert-Abspaltungsverhältnis) als
grundlegendem Vergesellschaftungsprinzip gleichwohl mit der Vorstellung eines
Haupt- und Nebenwiderspruchs zu brechen, also Rassismus, Antisemitismus und
Sexismus nicht voneinander abzuleiten und sie gleichzeitig durch qualitative
Unterschiede, besondere Kontexte und spezifische Konstellationen hindurch als
miteinander zusammenhängend darzustellen.
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