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Tomorrow-Café, 1.5k

Theorie und Praxis


Einleitende Bemerkungen zur Veranstaltung „Abschiebehaft – eine deutsche Tradition“ (03.05.2002 im Tomorrow-Café)

Die Bahamas und ihr Leipziger Ableger Antinationale Gruppe (ANG) behaupten ja, dass Antirassismus per se antisemitisch ist – und um das zu beweisen, gebärden sie sich, die selbsternannten Anti-Antisemiten, rassistisch (CEE IEH #82). Hätte sie im Matheunterricht der 4. Klasse

Abschiebehaft - eine deutsche Tradition?

Die Internierung von Flüchtlingen ist in Deutschland keine neue Erfindung. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts enthielten die Fremdengesetze einen Passus über Abschiebehaft. Der starke Antisemitismus nach dem Ersten Weltkrieg führte ab 1920 zur Errichtung von dutzenden Abschiebeknästen in verschiedenen deutschen Städten. In den Kasernen, die damals Konzentrationslager genannt wurden, saßen vor allem Jüdinnen und Juden aus Osteuropa ein. Es waren genau jene Personen, die während des Ersten Weltkrieges von Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt worden waren und nach dem Krieg als nicht mehr nützlich galten. Historische Berichte über den Vollzug der Abschiebehaft in der Weimarer Republik unterscheiden sich kaum von den aktuellen Zuständen: Die völlige Rechtlosigkeit ging einher mit rassistischen Mißhandlungen seitens der Beamten und Beamtinnen. Abschiebehaft ist nun schon seit über 80 Jahren Bestandteil der deutschen Ausländergesetzgebung – in der Weimarer Republik, genauso wie im Dritten Reich und der BRD. In der gesamten Zeit fand lediglich eine Verschärfung und Präzisierung der juristischen Grundlagen statt. So wurden im Lauf der Zeit zwingende Haftgründe eingeführt und die maximale Haftdauer mehrmals erhöht. Im Gegensatz zu den auffälligen juristischen Kontinuitäten steht die Vollzugs-Praxis der Abschiebehaft, die von den jeweiligen politischen Umständen abhing. Es hat sich gezeigt, dass Abschiebehaft immer dann im großen Umfang eingesetzt wird, wenn es gilt, Flüchtlinge und MigrantInnen besonders zu stigmatisieren und abzuschrecken. So war es der Antisemitismus, der 1920 und 1938 zur Errichtung von Abschiebeknästen führte. Und so war es der erstarkende Rassismus und Nationalismus im Zuge der Wiedervereingung, der ab 1992 erneut darin mündete, dass jährlich zehntausende in Abschiebehaft landen. Die historischen Erfahrungen zeigen aber auch deutlich, dass sich Abschiebehaft aufgrund der neuen, scheinbar liberaleren Einwanderungsregelungen nicht erübrigt, sondern beides Seiten ein und derselben Medaille sind. So verblüfft es auch nicht, dass in dem Schily-Papier nicht etwa – wie im Koalitionsvertrag vorgesehen – von der Beschränkung, sondern von der massiven Ausweitung der Abschiebehaft die Rede ist.

ausführlich in:
http://www.fluechtlingsrat-lpz.org/ ashg/text/d9.htm
(vielleicht war es auch die 5.) aufgepaßt, würden sie wissen, daß dieser Schluß jeglicher logischen Beweiskraft entbehrt und somit nur ein Schuß in den Ofen ist.
Der wackere Martin versuchte mit seinem Artikel „Die halbe Wahrheit ist die ganze Unwahrheit“ die Kohlen wieder aus dem Feuer zu holen (CEE IEH #84). Er leitet sowohl Antisemitismus als auch Rassismus aus dem Kapitalismus ab, beschreibt beide jedoch als komplementäre Prinzipien der Ideologieproduktion. Auf den Punkt bringt er es in seiner aktuellen Veranstaltungsankündigung („Rassismus & Antisemitismus – die Ideologien der Biologisierung des Sozialen“, 23.03.2002): „‘Der Jude’ und ‘der Neger’ gelten dem bürgerlichen Bewußtsein spiegelbildlich in der Form von ‘Unmensch’ und ‘Übermensch’...“.
Diese Theorie hat zwei praktische Implikationen für Martin und seine AnhängerInnen. Erstens läßt sie sich direkt aus der Wertkritik ableiten (die nachgeschobene Psychologisiererei im CEE IEH #85 ist da nur schmückendes Beiwerk), zweitens ist sie schön einfach (es gibt zwei Prinzipien, „Über“ und „Unter“, und alles läßt sich scheinbar eindeutig da einsortieren). Unpraktisch an der Theorie ist für uns allerdings, daß sie sich nicht mit der gesellschaftlichen Praxis des Rassismus und Antisemitismus in Übereinstimmung bringen läßt – zumindest nicht eins zu eins. Wir wollen zwar Martins halber Wahrheit, die sie ja ist, nicht unterstellen, „die ganze Unwahrheit“ zu sein, ein paar Einwürfe seien an dieser Stelle aber erlaubt.
Vorweg möchten wir betonen, daß es gewiß ein Theorie-Defizit der deutschen, auch antirassistischen Linken bei Themen wie Rassismus und Antisemitismus gab und gibt. Viele AntirassistInnen haben Antisemitismus als eine Spezialform unter den Rassismus subsumiert, um sich nicht weiter mit ihm auseinanderzusetzen. Der Verdienst von Martin, eingeschränkt aber auch der von Bahamas und ANG, ist es, diese verkürzte Betrachtungsweise aufzubrechen.
Die feinsäuberliche Trennung des Antisemitismus vom Rassismus geht aber zu weit, wo jegliche Gemeinsamkeiten geleugnet werden oder gar behauptet wird, das eine wäre das Gegenteil vom anderen. Nun zu unseren praktischen Einwürfen. Die Denkfiguren von „Über- und Untermensch“ lassen sich nicht eindeutig dem Antisemitismus bzw. Rassismus zuordnen. Auch im Rassismus spielen Unterlegenheitsvorstellungen (der Deutschen gegenüber den anderen) eine wichtige Rolle – und das nicht nur auf sexuellem Gebiet („Die ... nehmen unsere Frauen weg“). Anderseits funktionieren viele antisemitische Stereotype mit rassistischen, kulturellen oder religiösen Überlegenheitsvorstellungen gegenüber den Juden und Jüdinnen. Antisemitismus selbst läßt sich zu weiten Teil als eine rassistische Ideologie (zumal ja der Antisemitismus auch direkt rassistisch argumentiert, nämlich die „Rasse der Semiten“ der „arischen Rasse“ gegenüberstellt) beschreiben – richtig ist nur, daß mensch es nicht dabei belassen darf. Dies sei an drei Beispielen kurz erläutert.

1) Antisemitismus und Antiziganismus (der Haß auf Roma & Sinti) wiesen bis vor ca. 100-150 Jahren sehr ähnliche Erklärungsmuster auf. Ursprünglich auf religiösen Vorurteilen basierend, wurden sie in der Moderne in Ideologien transformiert, die zur Formung des bürgerlichen Subjektes notwendig waren. Sowohl Juden und Jüdinnen als auch Roma und Sinti wurden übernatürliche, teufliche Kräfte angedichtet. Roma und Sinti wurden z.B. für Spione fremder Mächte gehalten – die Tatsache, daß beide Bevölkerungsgruppen keinen eigenen Nationalstaat besaßen, sondern sich in die jeweiligen Gesellschaften assimilierten und somit das Nationen-Konzept in Frage stellten, dürfte eine Rolle bei der Herausbildung ähnlicher Vorurteile gespielt haben. (Zum Weiterlesen – kompakt in: Rassismus in der Diskussion, Elefanten Press: 1999, S. 99 ff.; ausführlich in: Wie die Zigeuner. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Elefanten Press: 1997)

2) Die Einwanderung von Juden und Jüdinnen aus Osteuropa in die Weimarer Republik führte zu heftigen Reaktionen innerhalb der deutschen Gesellschaft, inklusive der hier lebenden Juden und Jüdinnen. Wer sich die damals geführten Diskussionen genauer anschaut, wird erkennen, daß dabei rassistische und antisemitische Argumentationen völlig unproblematisch verschmelzen konnten. Den einwandernden Juden und Jüdinnen wurden keine übermächtigen Kräfte zugeschrieben, sondern ihre Armut und vermeintliche Unzivilisiertheit „provozierten“ eine rassistische Politik, die auch, aber eben nicht ausschließlich (und schon gar nicht von den integrierten Juden und Jüdinnen) antisemitisch aufgeladen wurde. (Zum Weiterlesen – kompakt in: Der Tradition verpflichtet – Eine kurze Geschichte der Abschiebehaft, ZAG Nr. 38/2000, S. 18-22; ausführlich in: Maloche – nicht Mildtätigkeit. Ostjüdische Arbeiter in Deutschland 1914 - 1923, Olms: 1995)

3) Die Debatte um illegalisierte Flüchtlinge enthält viele Stereotype, die als antisemitisch bezeichnet werden können. Im „klassischen“ Rassismus gilt es, „Ströme“ von Flüchtlingen, je dunkler desto gefährlicher, abzuwehren. Der vermeintliche Feind ist sichtbar, sowohl individuell als auch abstrakt in der Statistik, und damit auch bekämpfbar: all die Instrumente der Flüchtlingsabwehr dienen diesem Kampf. Der „Illegale“ hingegen lebt versteckt und unsichtbar mitten unter uns, bekocht uns im Restaurant oder schuftet auf dem Bau – ist nützliches Glied dieser Gesellschaft, gleichzeitig untergräbt „er“ jedoch auch unsere Gesellschaft. Der „Illegale“ ist in der Regel nicht schwarz, sondern so weiß wie wir selbst, kommt aus Osteuropa und ist Teil der Organisierten Kriminalität. Die OK ist allerdings das antisemitische Konstrukt der heutigen Zeit schlechthin. Sie ist alles und nichts, unfaßbar, bedroht uns alle und rechtfertigt alle geheimdienstlichen, polizeilichen und politischen Mittel. (Zum Weiterlesen: Die Verschwörung der „Illegalen“, iz3w 227/1998, S. 14-15)

Die Besonderheit des Antisemitismus liegt darin, „im Rahmen des Nationalismus das zu artikulieren, was jenseits dieses Rahmens ist: Nicht die andere Nation, sondern die Nicht-Nation.“ (Außerhalb der Völkerfamilie. Zum Verhältnis von Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus, iz3w, 259/2002, S. 40). Daraus leiten sich natürlich auch Vorstellungen der Über- und Unterlegenheit ab. Die Unterschiede jedoch darauf zu reduzieren und Gemeinsamkeiten zu verwischen, mag gut sein für jene Linke, die es für Politik hält, israelischen Wein zu trinken, und alle anderen Politikformen diskreditieren will – uns jedoch sind solche Erklärungsansätze zu platt.

In der Veranstaltung im Tomorrow-Café wollen wir ausführlicher auf das zweite Beispiel in diesem Text eingehen und anhand der Geschichte der Abschiebehaft seit den 20er Jahren in Deutschland aufzeigen, wie die rassistischen und antisemitischen Diskurse um die Einwanderung der Ostjuden und -jüdinnen die Grundlage für die bis heute gültige AusländerInnenpolitik in Deutschland gelegt haben.

Antirassistische Gruppe Leipzig, Veranstaltungs-AG 4a


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last modified: 28.3.2007