Warum die Frage nach den Ursachen der Krise bereits falsch gestellt ist und was
materialistische Gesellschaftskritik im Angesicht der Krise bedeutet.
In den letzten Monaten steht die aktuelle Finanzkrise im Mittelpunkt des
öffentlichen Interesses. Ausgehend vom Crash des US-Amerikanischen
Immobilienmarktes kam es zum Zusammenbruch zahlreicher angesehener Banken wie
Lehman Brothers oder der Washington Mutual, der größten
US-amerikanischen Sparkasse. Es gab staatliche Zuschüsse in
Milliardenhöhe um die Zahlungsfähigkeit der Banken zu erhalten und
das Vertrauen der Anleger wieder zu stärken. Die Krise hat
längst globale Ausmaße angenommen, die so genannte
Realwirtschaft ist betroffen, es wird über finanzielle Hilfspakete
für die Autoindustrie, namentlich bei Opel, General Motors und Chrysler
debattiert. Bei Daimler sind 20 000 Arbeiter auf Kurzarbeit gesetzt: Die
Nachfrage reicht bei weitem nicht aus, die Mercedes-Fabriken auszulasten. Und:
Auch Konkurrent BMW schickt die Beschäftigten [...] in die
verlängerten Weihnachtsferien (FAZ vom 9.12. 08, S. 11). Allerorten wird
über die Ursache der Krise gerätselt. Vom Turbokapitalismus
der Amerikaner über gierige Geschäftspraktiken bis hin zu
Schnäppchenjägern ist mal wieder alles vertreten, was der
Massenwahn so als Erklärungen parat hat. Wo nach Ursachen gefragt, will
man auch wissen, was man tun kann niemand will ja in den Verdacht
kommen, bloß zu reden. Die Zeit des laissez faire, in der
angeblich jeder tun und lassen könne, was er wolle, sei jetzt
endgültig vorbei. Marktwirtschaft dürfe nicht mit Anarchie
verwechselt werden (Hans Werner Sinn). Mit anderen Worten: Der Staat ist
gefragt. Uns wird ein Comeback der Politik (Gregor Gysi bei Anne Will)
in Aussicht gestellt. Gesellschaftskritik kann da nur kräftig
dagegenhalten.
1. Die Möglichkeit der Krise
In der Krise kommt die prinzipielle Nichtidentität der kapitalistischen
Gesellschaft voll zum Ausdruck: es zeigt sich, dass sie auf einem inneren
Selbstwiderspruch gründet. Sie vereint in sich absolut unvereinbare
Tendenzen. Ihr Auseinanderbrechen manifestiert sich in Krisen. Nicht ist die
Krise die Abweichung vom Regelfall, sondern: In der Krise zeigt sich erst die
Wahrheit dieser Gesellschaft.
Ausgangspunkt ist, dass den Individuen der gesellschaftliche Reichtum
entrissen ist. Marx' Hauptwerk beginnt daher, Joachim Bruhn weist in seinen
Vorträgen zu Recht darauf hin: nicht mit der Ware sondern mit dem
Reichtum. Nur unter der Voraussetzung, dass man ihn als Privateigentum besitzt
bzw. ihn sich durch Zahlung zugänglich macht, können die Individuen
an seinen Springquellen (Marx) teilhaben. Seit der gewaltsamen
Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, die man sich als eine
katastrophische Kette von Enteignungsprozessen vorzustellen hat, sind die
einzelnen Menschen von den Produktionsmitteln und ihren Lebensnotwendigkeiten
getrennt.
Menschen in einer solchen Gesellschaft müssen ihre Produkte als
Waren betrachten und durch Geld im Tausch nachträglich
vermitteln. Ihre Gesellschaftlichkeit begründet sich durch
gegenseitigen Ausschluss. Produkte sind nicht natürlicherweise Waren,
sondern dies sind sie nur unter der Bedingung ungesellschaftlicher
Gesellschaftlichkeit (Marx). Die Ware ist in sich ein Widerspruch zwischen
einem nützlichen Ding und dem Wert als Ausdruck eines
gesellschaftlichen Verhältnisses, welcher das Produkt im Tausch gleich
macht, so dass gilt: x Ware A = y Ware B. Dies ist ein Verhältnis
gewaltförmiger Vergleichung. Verschiedene Dinge werden im Tausch mit
Gewalt als etwas Gleiches gedacht und dementsprechend behandelt: Was nicht
passt, wird passend gemacht. Der Wert vollzieht diese Vermittlung. Menschen,
die ihre Produkte als Waren tauschen, sind gezwungen, ihn zu denken. Er
existiert nirgends sonst als in ihren Köpfen. Aber sie denken ihn
außerhalb. Und da alle ihn denken, kommt ihm gesellschaftliche Gewalt zu.
Die Ware ist etwas Gedachtes, d.h. die Menschen in der Warengesellschaft sind
gezwungen, ihre Produkte als Waren zu denken. Aber die Ware ist Ergebnis zweier
sich absolut widersprechender Gedanken, die auf ebenso widersprüchliche
Art praktiziert werden. Jedes Produkt, insofern es Ware ist, hat sowohl als
sinnlicher, dinglicher, nützlicher Gegenstand als auch gleichzeitig als
Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses gedacht zu werden. Nicht
ist der Gebrauchswert das schlicht Natürliche der Ware, sondern das
Produkt als Ware wird sowohl als Gebrauchswert (also als nützliches Ding)
als auch als Wert (als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse)
gedacht.
Im Warentausch entstehen Verkehrsformen, die diesem Widerspruch zum Ausdruck
verhelfen. Dabei wird das sich Widersprechende gewaltsam in eine Form gebracht,
in der es sich dynamisch entwickelt allerdings mit katastrophischer
Tendenz. Die Ware tauscht sich mit Geld. Dabei verdoppelt sie sich, wie Marx
sagt, in Ware und Geld. Im Geld tritt die Ware, die nun als reines
Gebrauchsding gedacht werden kann, dem Geld gegenüber, welches reiner
Ausdruck von Gesellschaftlichkeit wird, die Gesellschaft, die jeder einzelne
in der Tasche mit sich umher tragen kann (Marx, Grundrisse). Der durch
Ware und Geld gestiftete gesellschaftliche Zusammenhang, in dem sowohl die Ware
als auch das Geld in sich zerrissene Einheiten von Gebrauchswert und Wert sind,
fällt so in zwei Bereiche auseinander, von denen die Ware nur den
Gebrauchswert, das Geld nur den Wert ausdrückt. Letzteres wird damit
alleiniger Ausdruck von Gesellschaft. Die Ware hingegen erscheint als
ungesellschaftlich und natürlich. Die ganze gesellschaftliche Welt
erscheint solchem Denken zerbrochen in diese zwei gegensätzlichen Momente.
Das ist die dieser Gesellschaft entspringende fetischistische Denkweise,
die in der Krise schließlich dazu führen kann, die
Finanzmärkte, deren Akteure oder alles, was man mit ihnen in Verbindung
bringt, zu den Verantwortlichen zu erklären.
Die ökonomische Wissenschaft hält das Geld für eine
natürliche Angelegenheit, ein nützliches Austauschmittel:
Schließlich wäre es umständlich eine Kinokarte mit zwölf
Kilo Äpfeln bezahlen zu müssen. Wenn, wie in der Krise,
Geldstrom und Warenstrom sich nicht entsprechen, die Preise in
der Deflation in den Keller stürzen und niemand mehr was verkaufen mag
oder inflationär in den Himmel schießen und keiner mehr was kaufen
kann, ist das für sie kein grundsätzliches Problem dieser
Gesellschaft, sondern lediglich der Ausdruck einer Störung. Der Tausch als
Verdopplung der Ware, in Ware und Geld, versucht die absolute
Unmöglichkeit, ein Produkt als Ware zu fassen, denk- und handelbar zu
machen. Das Geld ist ein Unding, der Ausdruck dafür, dass in der
kapitalistischen Gesellschaft ein Produkt als Ware auf völlig
gegensätzliche Weise sowohl gedacht als auch behandelt wird als
Gebrauchsding und als Wertding. Jede Ware muss im Tausch ihren Salto
mortale, ihren Todessprung also, wagen. Der kann gelingen oder auch
fehlschlagen. Das Produkt, so nützlich es auch immer sein mag, erweist
sich dann als bloßer Schrott. Die Möglichkeit der Krise ist angelegt
im Auseinanderfallen der widersprüchlichen Einheit von Ware und Geld.
2. Die Realität der Krise
In Betrachtungen über den Verlauf der Krise tritt folgende Denkweise
häufig auf. Entweder ist es der aufgeblähte Finanzsektor, der die
Realwirtschaft erstickt oder in den Abgrund reißt oder die Brüche in
der Realwirtschaft, die die Blasen auf den Finanzmärkten erzeugen.
Auf der einen Seite erscheint dann die Realwirtschaft und auf der
anderen die fiktiven Finanzblasen. Stets wird die gesamte Ökonomie
in doppelter, gespaltener Form wahrgenommen. Dieser durchaus
eigentümlichen Betrachtungsweise ist auf den Grund zu gehen.
Über reale Wirtschaft und Finanzmärkte lässt sich
nicht reden, ohne zu diskutieren, was Kapital ist. Der oben dargestellte
Vermittlungszusammenhang von Ware und Geld existiert nur als kapitaler. Eine
Gesellschaft, die auf dem durch Geld vermittelten Austausch von Gütern als
Waren gründet, gibt es ausschließlich als jene, in der sich das Geld
als Selbstzweck setzt, sich unter Ausbeutung von menschlicher Arbeitskraft
verwertet, sprich: einen Mehrwert setzt, sich dabei den gesamten
gesellschaftlichen Produktionsmechanismus unterwirft und die Arbeitskraft zu
einem Teil ihrer selbst macht: So begründet sich das
Kapitalverhältnis als ein Verhältnis der Unterwerfung der Arbeit
unter das Kapital. Alles menschliche Produzieren vollzieht sich so als
Anhängsel der Verwertungsbewegung. Das Kapital bezieht sich immer wieder
auf sich selbst, das verwertete und vermehrte Geld wird zum Ausgangspunkt einer
erneuten Verwertungsbewegung. Auf diese Weise befindet sich das Kapital in
einem ständigen Prozess des Anwachsens und Vermehrens. Die
Arbeitskräfte verwandeln sich dabei in Teile des Kapitals. Sie betreiben
es und müssen sich ihm andererseits unterwerfen. Sie werden Anhängsel
ihrer eigenen gesellschaftlichen Bewegung. Diesen Prozess des unentwegten
Zwangs zum Wachstum, in dem sich die Bewegung des Werts immer mehr von seinen
Akteuren verselbständigt, nannte Marx die Akkumulation des
Kapitals. Genau in dieser setzt Marx auch die Ursachen der Krisen
an. Das Kapital ist in seinem Drang nach Wachstum unersättlich, es hat
keine Schranke als sich selbst. Es ist also bestrebt, immer mehr zu
produzieren, trifft dabei aber auf beschränkte, nur begrenzt
aufnahmefähige Märkte. Die kapitalistisch produzierten Waren
können nicht verkauft werden, der Mehrwert wird nicht realisiert, die
widersprüchliche Einheit von Ware und Geld, in der Akkumulation des
Kapitals notdürftig gewaltvoll zusammengefügt, droht auseinander zu
brechen, da die Waren massenhaft bei ihrem Todessprung in den Abgrund rasseln
und auf dem Boden zerschellen. Aufgrund dessen stößt das Kapital auf
Grenzen in seinem von sich aus schier unendlichen Verwertungsstreben. Marx
spricht von: Überakkumulation. Für dieses Problem gibt es
jedoch eine systemimmanente Lösung, in der sich der prinzipielle
Widerspruch zwischen Ware und Geld ein weiteres Mal entfalten kann. Er
führt auf diese Art zu einem Weitertreiben der gesellschaftlichen Dynamik,
in der der gebrochene und berstende Zusammenhang von Ware und Geld mit
Hängen und Würgen wieder zusammengefügt wird: es kommt zur
Herausbildung des Finanzsektors, in Marxschen Begriffen: zur Bildung des
zinstragenden Kapitals.
Auch das Kapital erscheint, wie die Ware, in doppelter Form. Es beinhaltet
denselben von seinen Akteuren in die Welt gesetzten Widerspruch. Es tritt ihnen
einerseits abstrakt als sich ständig vermehrende Geldmenge und
andererseits konkret als Produktionsapparat entgegen. Es wird in doppelter Form
gedacht und praktiziert. Es existiert nur in der Doppelgestalt von realem
(industrielle Produktion) und zinstragendem Kapital (Geldverleih). Es tritt ein
Kapital auf, das sich in Banken konzentriert, das selbst nicht produziert aber
seinerseits an Produzenten Geld verleiht und sich dadurch verwertet. Ein
produzierender Kapitalist leiht sich Geld von Bankkapitalisten, sprich: er
nimmt einen Kredit auf und zahlt ihn mit Zins zurück. Das
sind die Begriffe von Kredit und Zins auf der Höhe der Marxschen
Gesellschaftskritik. Das reale Kapital und das über den Kredit, das
Treibmittel der kapitalistischen Produktion (Marx, Kapital, Band 3)
vermittelte zinstragende Kapital sind ebenso verrückte Formen wie Ware,
Geld und Wert. Sie sind die wirklichen konkreten Formen, in denen diese gedacht
und gehandelt werden.
Eine besondere Form der kreditären Finanzierung, also eine besondere Form
des zinstragenden Kapitals ist das Aktienkapital. Aktien sind
Anteilsscheine an Unternehmen. Jeder einzelne Aktieninhaber zahlt für den
Kauf seiner Aktien und bekommt damit seinen Anteil am Unternehmen zugesprochen.
Solange er seine Aktien hält, kommt ihm, ein seinem Anteil entsprechender,
Teil am Profit des Unternehmens zu: die Dividende. Solange der
industrielle Kapitalist das entliehene Geld samt Zins zurückzahlt, die
Aktien genug Dividende abwerfen, tritt der unversöhnliche Gegensatz von
realem und zinstragendem Kapital nicht zu Tage. Das geschieht erst dann, wenn
die industrielle Produktion nicht den erwarteten Gewinn abwirft und damit auch
der Kredit samt Zins nicht zurückgezahlt werden kann. Im einfachen Falle
brechen dann sowohl die industrielle Produktion und die entsprechenden Banken
zusammen und der gesamte Zusammenhang kommt zum Erliegen, Produktion und
Verwertung sterben ab. Allerdings kann dieser innere Gegensatz eine ihm
entsprechende Bewegungsform erhalten: bei Überakkumulation bezieht sich
das Kapital als zinstragendes spekulativ auf sich selbst und beginnt eine
eigenständige Verwertungsbewegung: Es wird fiktives Kapital. Das
nennt man Kapitalisierung. Dies geschieht an der Börse, der
zentralen Instanz einer entfalteten kapitalistischen Gesellschaft. Hier werden
Aktien wie Waren gehandelt. Einem Aktienbesitzer fließt jetzt ein
doppelter Gewinn zu: Die Dividente und als weiterer Gewinn der
Aktienkurs. Der bestimmt sich danach, wie die betreffende Aktie an der
Börse gehandelt wird. Besteht nach der Aktie eines bestimmten Unternehmens
eine besonders große Nachfrage (weil die Aktionäre sich in
künftiger Zeit ein kräftiges Wachstum dieses Unternehmens
versprechen), so steigt sie in ihrem Wert. Dieser Zuwachs ist rein fiktiv, er
wird für die Zukunft zwar als realer Gewinn erwartet, kann aber nicht
garantiert werden. Man spricht jetzt von den berühmt-berüchtigten
Finanzblasen, die sich aufblähen. Wird klar, dass die
betreffende Aktie überschätzt wurde, so stürzt der Aktienkurs
ein. Geschieht dies massenhaft, bricht der Zusammenhang des realen und des
zinstragenden Kapitals auseinander. Der realen Produktion, die sich über
die Börse finanziert, fließen keine Gelder mehr zu (der
Volkswirtschafler spricht jetzt von einer Kreditklemme) Aus der
Möglichkeit der Krise wird die Wirklichkeit der Krise. Die
kapitalistische Produktion kann nicht ohne Spekulation existieren. Sie
verlängert sich mit ihrer Hilfe über sich selbst hinaus. Gäbe es
die gierigen Heuschrecken, Private Equities und andere
Finanzhaie nicht, so hätte sich die hochgelobte, namentlich
deutsche Produktion, auf die man sich hierzulande unter Abgrenzung vom windigen
angloamerikanischen Geschäftsgebaren so viel einbildet, längst
erledigt. Der kapitalistische Produktionsprozeß als gebrochene Einheit
von Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß erzeugt notwendigerweise
die Spekulation und kommt mit ihrem Zusammenbruch notwendig zum Erliegen.
3. Bestimmt das gesellschaftliche Sein der Krise das Krisenbewusstsein?
Dem Krisenbewusstsein, in dem speziell der Finanzsektor für den
Krisenverlauf verantwortlich gezeichnet wird, entsprechen die Formen, in denen
die Krise sich vollzieht. Reales und fiktives Kapital müssen als
Gegensätze gedacht und praktiziert werden, damit diese Form von
Gesellschaft funktioniert. Wie bei Wert und Kapital handelt es sich um den
notwendigen Schein falscher Verhältnisse. Das Prinzip der kapitalistischen
Gesellschaftsform liegt jenseits der klassisch-theoretischen Aufteilung in
Theorie und Praxis. Der Kapitalismus ist Praxis weil er gedacht wird, und er
wird gedacht, weil er praktiziert wird. Er kann nur praktiziert werden, indem
er gedacht wird und nur gedacht werden, indem er praktiziert wird. Der Gedanke,
dass die gierigen Spekulanten schuld an der Finanzkrise wären, ist deshalb
Ideologie, also: notwendig falsches Bewusstsein, weil er diesem
Zusammenhang entspricht. Er ist Ideologie, weil er das reale wie scheinhafte
Auseinanderfallen in reales und zinstragendes Kapital nachvollzieht. Genau dann
und nur dann ist ein Gedanke der ideologische Überbau einer
materiellen Basis. Aber: Diesen Gedanken von den gierigen
Spekulanten, gar deren Verbindung mit Juden oder Amerika fasst der Einzelne
selbst. Solch ein Gedanke ergibt sich nicht folgerichtig aus der doppelten
Erscheinung dieser Gesellschaft als konkreter Produktions- und abstrakter
Finanzsphäre. Er entspricht nur ihrer Struktur. Antisemit wird jemand
einzig aus freier Entscheidung. Ob aber die einzelnen den Krisenprozess
antisemitisch interpretieren, beeinflusst seinen Verlauf entscheidend.
Die Krise der kapitalistischen Gesellschaft ist kein rein objektiver Prozess,
der sich unabhängig von den einzelnen vollzöge. Die Krise
verläuft vielmehr mitten durch sie hindurch. Das von den Individuen
ausgelöste Handeln begründet den Krisenprozess als solchen.Waren sind
nur Waren, weil die Produkte als Waren gedacht und behandelt werden. Das
zwingt zum Tausch, zum Wert, zum Geld, zum Kapital als automatischem Subjekt,
zum unentwegten Wachstum, zur Überakkumulation, zum Auseinanderfallen in
reales und zinstragendes Kapital, zum Zerbrechen der kapitalistischen
Gesellschaft. Die ganze gesellschaftliche Welt erscheint den an diesem
Verhältnis Beteiligten verschleiert in doppelter Form. Ohne diese
Verschleierung gäbe es diesen gesamten Zusammenhang nicht. Die
Verschleierung ist realer Schein. Die Individuen handeln so, weil ihnen
Gesellschaft so erscheint. Sie bringt ein ihr entsprechendes Handeln
überhaupt erst hervor. Auf immer weiterer Entwicklungsstufe muss die
widersprüchliche Einheit der Gesellschaft neu gedacht werden. Die richtig
gestellte Frage lautet nicht: Warum kommt es zu Krisen? Sondern: Warum
vermag diese Gesellschaft auch nur den Bruchteil einer Sekunde
zusammenzuhalten? Die Krise ist also das Ergebnis sich notwendig
widersprechenden Denkens und Handelns.
4. Der Staat als Garant der gewaltförmigen gesellschaftlichen Einheit
Und hier sind wir beim Staat. Der Staat muss, wenn es eine gelingende
Entfaltung des Kapitalverhältnisses geben soll, schon vorab da sein. Er
entriss den Individuen ihre Produktionsmittel, vertrieb sie von ihren
Ländereien, organisierte den Zwang zur Arbeit. Bis heute garantiert er die
Geltung des Geldes, gibt eine Landeswährung heraus, und sorgt damit
dafür, dass überhaupt auch nur irgendetwas gilt. Der Staat setzt das
automatische Subjekt Kapital in Bewegung, sorgt für ein
reibungsloses Funktionieren der kapitalistischen Akkumulation, indem er sowohl
Arbeiter und Kapitalisten an ihren jeweiligen Plätzen hält und auch
den Kapitalisten wie Arbeitern untereinander die ökonomische Konkurrenz
aufzwingt, indem er sie davon abhält, sich gegenseitig umzubringen.
Schließlich schafft der Staat die Bedingungen für die Existenz des
zinstragenden Kapitals, indem er die Kreditinstitute unterstützt und
kontrolliert. Der Staat garantiert schließlich in einem umfassenden Sinne
die Geltung von Rechtsverhältnissen, die die kapitalistische Produktion
und den ihr entsprechenden Austausch ermöglichen. Er zwingt die einzelnen
Individuen in die Form des freien und gleichen Rechts- und
Staatssubjekts.
Wie der Wert die Produkte alle in die gleiche Form der Ware presst, so presst
der Staat alle Individuen in die gleiche Form des Subjekts. Er macht sie
identisch und verfährt dabei ungefähr so wie der Riese Prokrustes,
der Wandersleute in seiner Herberge während des Schlafs auf die
Größe des Bettes zurechtschnitt bzw. -zerrte:
Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bevor das
männliche, identische Selbst entstand (Horkheimer/ Adorno, Dialektik der
Aufklärung) das gründet übrigens auf einem patriarchalen
Geschlechterverhältnis und wälzte das vormoderne Patriarchat
vollkommen um, reorganisierte es als modernes warenproduzierendes Patriarchat.
Dass diese Gesellschaft nicht in der ersten Sekunde ihres Bestehens auseinander
fliegt, sondern ihren inneren Widerspruch dynamisch entfaltet, ist auf das
Einsetzen des Staates zurückzuführen, der die Bedingungen gelingender
Verwertung mit Zwang und Gewalt herstellt ebenso tragen patriarchale
Verhältnisse zur Stabilisierung bei das ist in einem
eigenständigen Text zu untersuchen. Der Staat wurde zwar aus vormodernen
Gesellschaften übernommen aber vollkommen umgestürzt, nämlich in
eine Agentur zur Durchsetzung und Bewahrung kapitalistischer Verhältnisse
umgewandelt. Anfangs agierte er offen gewaltförmig, um das Kapital in
Bewegung zu setzen. Später zog er sich zurück und wurde zum liberalen
Nachtwächterstaat. Das Kapital entfaltete sich fortan ohne seine
Hilfe, was nicht heißt, dass er nicht drohend im Hintergrund stand,
allzeit bereit zum Losschlagen. Und das geschah dann auch, als mit dem
Einsetzen der Verwertungsprobleme infolge zunehmender Überakkumulation die
Entfaltung des Kapitals prekär wurde. In Zeiten der Krise sitzt der Staat
in den Startlöchern. Wie sich die Wirkung des Staats äußert,
ist von Fall zu Fall äußerst unterschiedlich, jedenfalls nicht aus
der Entfaltungsbewegung des Kapitals selbst erklärbar.
5. Der Umschlag von Ökonomie und Vernichtung in der Krise
Lässt sich in der Krise die Einheit der gegensätzlichen Momente
dieser Gesellschaft nicht mehr mittels schlichter Staatsintervention heilen,
kann der Staat das Leiden an den versachlichten Verhältnissen zur
regressiv-antikapitalistischen Revolte kanalisieren. Die Verwertung des Werts
wird zur staatlichen Angelegenheit, zur Chefsache. Jeder einzelne hat
sich direkt Staat und Kapital zu unterwerfen. Einzig das Individuelle und
Private gilt diesem Denken als kapitalistisch. Alles Kollektive,
Sinnhafte, dem Gemeinwohl verpflichtete wird in dieser Revolte
als antikapitalistisch wahrgenommen. Dieser Antikapitalismus ist
regressiv von Anbeginn und hat nichts mit einer materialistischen Kritik am
kapitalistischen Gesellschaftsverhältnis zu schaffen. Aber dieser
Antikapitalismus kann wirkmächtig werden: Scheinbar werden dann vormoderne
Verhältnisse, persönliche Abhängigkeitsstrukturen wieder
hergestellt. Aber der Schein trügt: Sie werden auf Grundlage von
Wertverwertung und Kapitalakkumulation eingeführt. Die Harmonie, die der
Zusammenhang von Ware und Geld, bzw. von realem und zinstragendem Kapital immer
nur scheinbar gewähren kann, wird durch eine vergemeinschaftende Ideologie
hergestellt. Der destruktive gesellschaftliche Zusammenhang, zuerst am fiktiven
Kapital, den Börsen und Finanzmärkten verdinglicht, wird nun in den
Juden, Israel oder den USA verortet. Sie bekommen alles Bedrohliche
aufgebürdet, was die Einzelnen durch ihr eigenes gesellschaftliches
Verhalten hervorbringen.
Die Deutschen stellten im Nationalsozialismus die Harmonie durch Massenmord
her. Wert und Kapital wurden durch scheinbar direkte Herrschaft am Leben
erhalten. Treffend lässt sich das ein Produktionsverhältnis des
Todes (ISF) nennen. Die Krise des Kapitalismus führte im
Nationalsozialismus zu ihrer entsetzlichsten Lösung. Da dieses Modell
anknüpfend an das hier vorherrschende romantisch-ganzheitliche
Staatsverständnis als erstes in Deutschland auftrat, kann man diese
Verlaufsform der Krise deutsches Produktionsverhältnis nennen.
Dessen Durchsetzung ergibt sich ebenso wenig wie die Entscheidung einzelner
für die antisemitische Ideologie nicht aus dem Krisenverlauf selbst,
bestimmt ihn aber maßgeblich. Nicht umsonst nannte Leni Riefenstahl ihre
Verfilmung eines NSDAP-Parteitags in Nürnberg Triumph des Willens.
Nicht mehr entspringt die Entscheidung zum Antisemitismus aus der Gesellschaft,
sondern die Gesellschaft wird zum Ergebnis der Entscheidung zum antisemitischen
Massenmord. Der Wille zum Morden schmiedet jetzt die Gesellschaft zusammen.
Derartige Krisenlösungsformen sind längst nicht aus der Welt. In der
völlig zerbrochenen, von jeder Kapitalvermehrung weit entfernten
palästinensischen Gesellschaft wird heute eine gelingende
Gesellschaftlichkeit durch den Hass auf Israel und einen schleichenden
Holocaust durch Selbstmordanschläge suggeriert. Die ausbleibende und
angesichts ökonomischer Schwäche völlig unrealistische
Staatsgründung wird einfach durch Massenmord scheinhaft betrieben.
Antisemitischer Massenwahn suggeriert hier Staatlichkeit.
Wird heute im Zuge der Finanzkrise nach einem Comeback der Politik
gerufen, welches reale Wirtschaft und den Finanzsektor (Gysi) oder gar
die Haftung zwischen Geld und Wert (Burkhard Spinnen) wieder herstellt,
ist Schlimmstes zu befürchten. Weil die nie im Einklang sind und ein
solcher nur scheinhaft durch massiven Zugriff des Staates auf die einzelnen zu
erreichen ist und weil sich dieser Zugriff in der Krise massiv zu potenzieren
droht. Der Wirtschaftsweise Hans-Werner Sinn lässt in einem Interview mit
der FAZ verlauten: Die Weltgemeinschaft wird lernen müssen, dass
Marktwirtschaft nicht Anarchie bedeutet in der jeder tun und lassen
kann, was er will. Das ifo-Chefs ausgerechnet in der Wirtschaftskrise auf
einmal staatlich garantierten Massenwohlstand ermöglichen wollen,
lässt sich mit Fug und Recht bezweifeln. Sinn meint wohl was er sagt:
Jetzt in der Krise ist dafür zu sorgen, dass die Leute nicht mehr einfach
so machen dürfen, was sie wollen. Und da sie das in Wirklichkeit sowieso
noch nie getan haben, geht es also um nichts als massiven Zugriff des Staates
auf die Individuen. Die sollen jetzt gemeinsam den Gürtel enger schnallen
und gemeinsam anpacken. In den Worten des Bundesfinanzministers Peer
Steinbrück klingt das wie folgt: Wenn jemand behauptet, er sehe
Licht am Ende des Tunnels, dann sollte derjenige auch die Möglichkeit in
Erwägung ziehen, dass es sich bei diesem Licht um die Scheinwerfer des
entgegenkommenden Zuges handeln könnte. Wohlgemerkt: das sagt nicht ein
Wahnsinniger, der den Weltuntergang erwartet und auf dem Marktplatz
durchgeknallte Reden hält, sondern immerhin der Finanzminister vor dem
Parlament der Bundesrepublik Deutschland. Diese Leute bereiten uns zielsicher
auf die herannahende Katastrophe vor, um zu zeigen, dass Herrschaft und Zugriff
nötig sind und nichts den einzelnen helfen kann als
Vertrauen auf die Führungskraft durch und die Unterwerfung unter
den Staat: Es ist der Zeitpunkt, um gemeinsam, mit vereinten Kräften
durch die Krise durchzukommen (Regierungserklärung des Bundesministers
Peer Steinbrück Zur Lage der Finanzmärkte im Deutschen
Bundestag). In die gleiche Richtung schlägt der Spiegel, in der
Belobhudelung von Zwangsmaßnahmen gegen so genannte
Langzeitarbeitslose bekanntlich stets das, was man in Deutschland
neoliberal nennt: Können Politiker
die destruktiven
Kräfte der Finanzmärkte wieder in den Griff bekommen? Wer die
angestrebte Neuordnung der Weltwirtschaft verstehen will, muss wissen, wie die
Welt an den Rand des Ruins gebracht werden konnte (Der Bankraub, DER SPIEGEL,
Nr. 47/2008, S. 45).
6. Materialistische Gesellschaftskritik im Angesicht der Krise
Materialistische Gesellschaftskritik denkt von der Krise aus. Sie greift
angesichts der Nichtidentität von Produkt und Ware, Ware und Geld, realer
kapitalistischer Produktion und fiktiver kapitalistischer Spekulation die
Trennung des gesellschaftlichen Reichtums von den Individuen an und agitiert
für eine Gesellschaft, in der sich die frei assoziierten Individuen die
Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums angeeignet haben. Sie
plädiert für die Aufhebung der Trennung der Individuen vom Reichtum
und fordert eine Gesellschaft der gewaltlosen Einheit ohne Zwang, das
heißt: Sie ist bestrebt, die gewaltförmige Vergleichung von
Produkten zu Waren durch den Wert und von Individuen zu Subjekten durch den
Staat zu beenden. Damit agiert sie sowohl kommunistisch, gegen das
Kapital, als Agentur der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen als auch
anarchistisch: gegen den Staat als Agentur der Beherrschung von Menschen
durch Menschen.
Zusätzlich aber weiß sie um die Gefahr des Umschlags von
Ökonomie in Vernichtung und erkennt das Produktionsverhältnis
des Todes als gefährlichste Form kapitalistischer Vergesellschaftung,
erkennt Deutschland (nicht als regionaler Raum sondern als
Produktionsverhältnis verstanden) als äußerste Zuspitzung
gewaltförmiger Vergleichung. Sie sieht sich daher vor die Notwendigkeit
gestellt, gegen die regressive Auflösung des versachlichten
Kapitalverhältnisses, durchaus die versachlichte Gesellschaft von Wert und
Kapital zu verteidigen aber eben auch nur angesichts der Gefahr ihrer
regressiven Auflösung. Bezüglich der Krise schwafelt materialistische
Gesellschaftskritik nicht von der Machtlosigkeit von Staat und Politik. Sie
weiß um deren Wirkmächtigkeit und Gefährlichkeit. Sie
weiß, dass eine andere Politik möglich ist und erwartet von
ihr nichts Gutes. Sie stellt sich gegen den Appell an den Staat. In der
Wiederkehr der Politik sieht sie den wachsenden Zugriff auf den einzelnen.
Unter Bedingungen von und gegenüber von Verhältnissen, in denen sich
besagter Umschlag bereits ereignete, tritt sie dafür ein, die Gesellschaft
so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederholt. Wo der regressive
Antikapitalismus am Zuge ist, lohnt es sich also, die versachlichten
Verhältnisse zu verteidigen. Das genau bedeutet, aktuell eine solidarische
Haltung zum Staat Israel einzunehmen (vgl. meinen Text zur
Kommunistischen Solidarität mit Israel in CEE IEH #158).
Materialistischen Charakter hat besagte Kritik deshalb, weil sie gegen die
gewaltförmige Vergleichung der Produkte zu Waren, die auf ihrer
Entrissenheit von den Individuen gründet, auf ihrem Eigencharakter
beharrt. Gegen die gewaltförmige Vergleichung besteht sie darauf, dass der
gesellschaftliche Reichtum der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse wegen
existiert und zu keinem anderen Zwecke. Ebenso beharrt sie energisch
materialistisch darauf, dass die Menschen trotz aller realer Vergleichung durch
den Staat voneinander verschiedene Wesen sind und erklärt es zu ihrem
Ziel, eine Gesellschaft (das heißt eine Einheit, einen Zusammenhang) zu
begründen, der auf dieser Unterschiedlichkeit gründet.
Materialistisch ist diese Kritik nicht in dem Sinne, dass sie, wie die
Marxisten meinen, das Materielle als Basis der Gesellschaft denkt, gar für
jede gesellschaftliche oder politische Erscheinung eine ökonomische
Ursache sucht. Materialistisch ist sie im Sinne einer Rettung des
Nichtidentischen: sie beharrt auf der Eigenqualität der Dinge und
Individuen gegen ihre repressive Gleichheit, deren letztliche
Unmöglichkeit in der Krise zum Ausdruck kommt.
Martin Dornis
|