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Ideologie des Tourismus


Simple Kausalität, vielfach zu beobachen: Immer im Winter, wenn es kalt und grau wird, manifestiert sich bei vielen Bewohner.innen der gemäßigten Klimazone nur allzu schnell ein Trachten nach ganzjährigen tropischen Temperaturen und azurblauem Wasser. Assoziationsketten von Palmen, Sand und warmem Wasser werden noch verlockender, als es latent häufig der Fall ist, und schwingen sich, mir nichts dir nichts, in die winterliche Bedürfnislandschaft auf.
Diese angemessen zu befriedigen ist allerdings problematisch weil zeitintensiv und teuer, doch es gibt durchaus ein Spektrum verschiedener Möglichkeiten, diese zu handeln: Einmal jene, sich die eigene Phantasie zu Nutze zu machen, sprich das Tor von Imaginaryland weit aufzustoßen und sich grenzenlos vorzustellen, was fehlt; daneben könnte man die Technik des luziden Träumens erlernen und so in den leibphänomenologischen Genuss von wohlig-warmem Wind, Sonnenstrahlen auf der Haut und dem kühlenden Schatten von Palmen zu kommen. Eine dritte glücksverheißende Möglichkeit besteht darin, 12 bis 17 € in einen Besuch der Sachsentherme zu investieren und den Relax-Tarif beim Namen zu nehmen.
Diese Form des Amüsements steht allerdings nicht jedem offen; so manchen versperrt der Eintrittspreis den Weg ins „einzigartige Wohlfühlparadies“, anderen wiederum die selbstauferlegte Authentizitätsschranke. Wer kritisch ist, etwas auf sich hält und mit Erschrecken immer wieder feststellt, dass die Zeiten immer schlechter und die Geister immer flacher werden, der wird ob solch banaler postmoderner Erlebniswelten nur verständnislos den Kopf schütteln und darauf verweisen, dass dort doch alles nur inszeniert, künstlich und so ganz und gar nicht authentisch sei, ja, gar nicht sein könne! Exotik sei kein zu vermarktendes ubiquitäres Gut! Man ließe sich doch verarschen, wenn man für solch ein entfremdetes Vergnügen auch noch Geld bezahle. Viel wichtiger, als fremde Welten im Sinne einer Strandkulisse zu konsumieren, sei die intensive Begegnung mit Land und Leuten, verbunden mit dem Interesse, die fremden Kulturen vor Ort kennenzulernen. Dafür sei das Reisen unabdingbar, und zwar nicht in der banalen Form des gewissen- und kulturlosen Massentourismus, sondern vielmehr als gewissen- und kulturell beflissener sanfter Tourismus, der Königin des guten Reisens.
Dass die, die mit solch einem Anspruch in südliche, exotische Gefilde reisen, sich jedoch unweigerlich auf moralisch dünnes Eis begeben (was in Anbetracht der niedrigen Temperaturen ja nicht provoziert werden muss) und einem in dem Punkt, auf den sie insistieren, nicht das Wasser reichen können, soll im Folgenden mit einem kurzen Abriss quer durch die problematische Geschichte des Reisens dargelegt werden.

Als erste Reisen können die europäischen militärischen Heerzüge verstanden werden, war doch das Ziel stets die geopolitische Expansion, also die Ausweitung des eigenen nationalen Machtbereichs. Von der Überzeugung der kulturellen Überlegenheit Europas ausgehend, standen dahinter strategische Motive des Handels, Entdeckungs- und Eroberungsdrangs
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sowie Missionierung von Bildung und Religion. Bereits die Entdeckungsreisen im ausgehenden 15. Jahrhundert, bei denen sich die Entdecker eher die Rolle von „Schöpfern“ suggerierten, implizieren den eurozentristischen, weißen Überlegenheitsanspruch. Auch die Forschungsreisen sind vor dem kolonialistischen Hintergrund zu sehen, denn wissenschaftliche Aktivitäten zur Erforschung der (heutigen) Dritten Welt leisteten (und leisten) „einen unentbehrlichen, von den Wissenschaftlern selbst gar nicht notwendigerweise intendierten Beitrag zur Etablierung eines kolonialen und postkolonialen internationalen Systems.“ [Sauer 2002, S. 6, zitiert nach (Kolland 2003, S. 102)]. Zwar waren nicht alle wissenschaftlichen Reisen und Aktivitäten in Übersee während der Kolonialzeit funktional zur Förderung imperialistischer oder speziell kolonialistischer Politik ausgerichtet, wohl aber gibt es einige Beispiele die direkt im kolonialen Auftrag durchgeführt waren: Oscar Bauermann für koloniale Erschließung Ost-Afrikas; Otto Ehlers, der in seinem Buch „Samoa, Perle der Südsee“ der deutschen Öffentlichkeit das Land als kolonialisierenswert anpreist. Das Kennenlernen des Fremden stand unter dem Anspruch, die eigenen Machtinteressen zu legitimieren.
Die ersten Vorläufer des neuzeitlichen Tourismus sind im 17. und 18. Jahrhundert auszumachen, da zu jener Zeit das Motiv der Vergnügung relevant wurde. Eine kleine Elite junger Adeliger bereiste die Kolonien im Sinne eines freiwilligen Bildungsurlaubes zur Erweiterung des eigenen Horizontes. Hier tauchte erstmals der Begriff „Tourist“ auf.
Die eigentliche Anfangsphase des modernen freizeitorientierten Ferntourismus ist zeitlich im späten 19. Jahrhundert angesiedelt, da a) in der Industrialisierung die Sphäre der Arbeit von der der Freizeit abgegrenzt empfunden wurde und b) auch Unternehmer, Angestellte und Lehrer das Reisen zur Vergnügung und Abwechslung vom harten Alltag nutzten. Bedingungen hierfür waren erhöhter Wohlstand sowie eine verbesserte Verkehrsinfrastruktur. Für die Masse, die sich den Ferntourismus nicht leisten konnte, wurde die Urlaubsform der ‚Sommerfrische` attraktiv, die ebenso Abwechslung vom harten Arbeitsalltag, nur eben in der nahegelegenen ländlichen Umgebung, ermöglichte.

Exkurs: Kolonialistische Stereotype

Die ersten transkulturellen Begegnungen standen im Zeichen der Legitimation des eigenen Expansionsanspruchs. Dazu brauchte es eines neuen Menschenbildes gegenüber den fremden Kulturen, wurden diese doch als zweitklassig betrachtet.
Eine zentrale Funktion, als Vermittler der Vorstellungen und Bilder der außereuropäischen Welt, hatte die Reiseliteratur inne. Hier wurden Stereotype transportiert, die das Fremde entweder als barbarisch oder als faszinierend-exotisch darstellten. Beispielhaft steht etwa die Beschreibung der Hottentotten in der zeitgenössischen Kultur des 16. bis 19. Jahrhunderts, in der die Faulheit, Dummheit, Hässlichlichkeit und das Fehlen von Vernunft die prägenden Charakteristika waren. Nicht nur eigenständige Kultur, sondern auch Menschlichkeit wurden den Fremden abgesprochen, woraus dann die Notwendigkeit von Erziehung und Belehrung durch die Kolonisatoren abgeleitet wurde.
Dem Barbaren war das Bild des „Edlen Wilden“ gegenübergestellt, dessen noch von Kultur „unentfremdetes“ Dasein ästhetisiert und idealisiert wurde, was den Beleg der eigenen Toleranz liefern sollte; ungeachtet der Tatsache, dass dieser einen ebenso unreflektierten Rassismus darstellte, nur eben von seiner anderen Seite. Die Reiseliteratur im ausgehenden 19. Jhd war nun von Haltungen geprägt, die für die imperialistische Propaganda nützlich waren. Einerseits wurde den Lesern das Gefühl der Überlegenheit geliefert, andererseits lieferten Ethnographen – von Sehnsucht nach anderen Lebensformen getriebene Zivilisationsflüchtlinge – idealisierende Berichte von den fremden Kulturen, wogegen die Herkunftskultur abgewertet wurde.

In der Nachkriegszeit entwickelte sich mit der steigenden Mobilisierung und wirtschaftlich nun möglich werdenden ‚Demokratisierung' des Reisens, der Massentourismus. War Reisen lange Zeit ein Privileg der höheren Schichten gewesen, wurde es nun zum Teil des industriegesellschaftlichen Lebensstils. Nach fordistischer Logik prägten Effizienz und Standardisierung den Charakter des Tourismus, es entstand die Metapher des „standardisierten touristischen Blicks“: Durch die angebotenen Pauschalreisen, häufig verbunden mit All-Inclusive-Paketen, verliert das Produkt „Reise“ seinen Bildungswert, das transkulturelle Erfahrungspotential reduziert sich auf die Entgegennahme von Dienstleistungen durch das einheimische Servicepersonal, die Auseinandersetzung mit der Kultur erschöpft sich im Kauf von Souvenirs und dem Besuch der vom Reiseveranstalter angebotenen Programmpunkte. Die Umgebung wird zur Kulisse.
Wie Jost Krippendorf in seinen Beobachtungen zu den ‚Ferienmenschen' 1986 konstatierte, ist der Hauptantrieb des Reisens die notwendige Bestrebung nach Balance, der Ausgleich zur ‚kahlen', durch die Arbeit getakteten Lebenswelt. Die Freizeit hat die Aufgabe der Rekreation inne, um dem Menschen durch die kurzzeitige Aufhebung der Zwänge körperlich und psychisch neue Kraft zu geben, um im defizitären Alltag zu bestehen und somit die Industriegesellschaft funktionstüchtig zu halten. Marion Thiem ergänzt diese so genannte ‚Fluchtthese' insofern, indem sie dem Tourismus die Rolle zuschreibt, menschliche Bedürfnisse nach dem Mythischen, dem Rituellen und Utopien zu befriedigen.
Je unübersichtlicher und entfremdeter die eigene Lebenswelt empfunden
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wird, desto intensiver wird das Bedürfnis nach dem absolut ‚Anderen', ‚Authentischen', das im ‚realen' Leben der Bereisten verortet wird, im eigenen aber unerreichbar scheint. ‚Echtheit' und ‚Ursprünglichkeit' werden ganz konkret auf der Reise gesucht. Das Motiv ‚Land und Leute kennen zu lernen' gewinnt wieder an Bedeutung – wenn auch natürlich nicht mehr aus „imperialistischen“ Motiven.

Tourismus und Reisen haben in der modernen, als ‚entfremdet' wahrgenommenen Dienstleistungsgesellschaft einen bedeutenden Stellenwert. Während – wie erwähnt – im Fordismus noch ein weitgehend standardisierter Massentourismus für die Befriedigung der suspensiven, regenerativen und kompensatorischen Bedürfnisse sorgte, hat die Tourismusbranche mit dem postfordistischen Umschwung auf die verschiedenen Bedürfnisse der potenziellen Kunden mit einer ausdifferenzierten Angebotspalette reagiert.
Die Motive für die Urlaubsplanung eines Großteils der Touristen sind nach wie vor solche wie Erholung, Sonnenbaden oder sportliche Aktivitäten, statt einem überdurchschnittlichen Interesse an direktem Kontakt zu Land und Leuten. Doch die Zielgruppe mit diesem Motiv ist mittlerweile so groß, dass sich Sparten in der Tourismusbranche herausgebildet haben, die explizit auf diese Interessen eingehen (subsumiert unter dem Begriff ‚Ethnotourismus') und auf dem internationalen Reisemarkt spätestens seit 2000 als etabliert gelten.
Die typischen Repräsentant.innen dieser Zielgruppe gehören der gehobenen sozialen Schicht an, verfügen über ein relativ hohes Einkommen und zeichnen sich durch einen hohen Bildungsstand aus. An Reisen mit dem Ziel transkultureller Erfahrung interessiert sind sowohl Teilnehmer.innen, der mittleren Lebenshälfte, die Studienreisenangebote annehmen, als auch juvenile, individuell reisende Rucksacktourist.innen. Insbesondere werden sie geeint durch das Motiv der rigiden Abgrenzung: Sowohl gegenüber dem standardisierten ‚kulturlosen' Massentourismus, der den Regeln der modernen westlichen Kultur folgt, als auch gegenüber der ‚entfremdeten' westlichen Kultur als solche. Kritik an diesem Wertesystem ist meist von sehr identitärer Bedeutung, die intendierte Abgrenzung gegenüber den banalen Tourist.innen drückt sich semantisch darin aus, dass sie sich als ‚Traveller', ‚Reisende'.‚ Globetrotter' oder ‚Trekker' bezeichnen und ein gewisser Kulturpessimismus ist selbstredend oft die Katze im Sack. Sie bevorzugen Reiseaktivitäten, denen gemeinsam ist, dass sie die Möglichkeit ‚echter' Kulturbegegnung abseits des ‚kulturlosen bis –zerstörenden' Massentourismus versprechen. Zentral ist der Anspruch, eine besonders ‚intensive' und ‚authentische' Begegnung zu Vertretern fremder ethnischer Gruppen zu realisieren. Diese Gruppen zeichnen sich für die Reisenden insbesondere durch ihre ‚Exotik' und scheinbar Unberührtheit von der Zivilisation aus; bezeichnenderweise beschränken sich diese Definitionen zumeist auf die „Dritte Welt“.

Problematisierung des sanften Tourismus

Ein klassisches Objekt im Ethnotourismus stellt exemplarisch die Berberkultur in Marokko dar. Diese ‚Ethnie' wird von deutschen Reiseveranstaltern besonders häufig angepriesen und das Kennenlernen der Berber explizit im Rahmen von Studienreisen angeboten. Bereits in den Reisekatalogen zeichnet sich eine Kulturdarstellung ab, die eine auf dem Märchen ‚Tausendundeine Nacht' rekurrierende europäische Vorstellung vom Orient widerspiegelt und die Menschen auf ihre Funktion als Träger von Kulturen reduziert. Der Aufenthalt in Marokko wird von Reiseführern begleitet, die den Reisenden Land und Leute näher bringen sollen. Wie auf Bali reproduzieren die Bewohner Marokkos (aus ökonomischen Gründen) die bereits in den Köpfen befindlichen Bilder. Beim Besuch auf dem Bazar, wo die Studienreisenden nach Angaben der Händler speziell nach berberischen Produkten fragen, werden Gewürze als solche verkauft, obwohl sie überall erhältlich sind, die VerkäuferInnen tragen traditionelle berberische Gewänder, auch wenn sie einen arabischen Hintergrund haben und Souvenirs, wie sie auch vom ‚geschmähten' Massentourismus bekannt sind, finden großen Absatz.
Nicht anders als durch die Formen des Massentourismus wird der eurozentrische Blick von den Bereisten reproduziert, da dies den ökonomisch höchsten Nutzen mit sich bringt. Vorab bestehende und von den Reiseunternehmen forcierte Stereotype beeinflussen die Begegnung zwischen Tourist und Einheimischem. Die erwartete Kultur wird werbewirksam inszeniert und nicht so kennengelernt, wie sie ist, nämlich in sich selbst gebrochenen und durch Kolonialismus auf der einen Seite, Modernisierung und Kapitalismus auf der anderen, gar nicht so anders. Studienreisende haben in der Regel das gleiche verklärte Bild (etwa von Berbern) wie Badetouristen, nur dass erstere sich unter Führung einer Reiseleitung ausführlich mit dem Land und den Leuten beschäftigt haben.
Darüber hinaus haben sich die „betroffenen Regionen“ schon seit vielen Jahren durchaus für den Umgang mit dem Massentourismus gewappnet: So wies die indonesische Regierung schon in den 1970er Jahren einen Plan für Bali als wichtigste Tourismusregion aus, der zunächst bestimmte, dünn besiedelte Räume benannte, in denen abseits der Kernräume balinesischer Kultur Enklaven-Siedlungen errichtet wurden. In eintägigen Exkursionen sollten Kultur, Land und Leute erfahrbar gemacht, ein zu enger Kontakt zwischen TouristInnen und BalinesInnen aber verhindert werden, damit der ‚Massentourismus' kulturelle Kernräume nur kurzfristig und oberflächlich berührt und es den BalinesInnen erleichtert wird, diese für sich zu sichern. Eine andere, individuelle Form des Schutzes erklärt das Konzept von Vorder- und Hinterbühne. Zurückgehend auf ein in der balinesischen Religion wesentliches, dualistisches Konzept („Rwa Binda“), nach dem sich Elemente im Leben in zwei gegensätzliche Kategorien gliedert, wird im kulturellen Bereich getrennt zwischen den sakralen, nur für sich selber durchzuführenden Facetten einerseits und den profanen, für TouristInnen kommerzialisierbaren andererseits. Schon 1971 gab es ein Seminar, in dem Richtlinien dafür erarbeitet wurden, welche Tänze ohne Gefährdung ihrer religiösen Bedeutung für den Tourismus verwertet werden können. Die Theatermetaphorik bietet sich an, um die Beziehung zwischen TouristInnen und Einheimischen zu charakterisieren. Auf der ‚Vorderbühne' agieren die Autochthonen als freundliche Gastgeber und erfüllen über Inszenierung die Erwartungen der zahlenden Gäste, auf der Hinterbühne wird die eigene, Fremden unzugängliche, kulturelle Identität gelebt. Sanfte TouristInnen überschreiten dahingegen qua vermeintlich „höherem“ Anspruch diese bewusst als Schutz gesetzte Trennung.
Überdies fallen sie stärker als die kulturlosen Massentouristen einem unreflektierten Exotismus anheim, bei dem das ‚Andere' auf seine exotische Seite reduziert wird und dadurch eine große Anziehungskraft ausübt. In der Phantasie wird das Fremde zum Schönen und Besseren übersteigert. Die Ethnopsychoanalyse hält hierfür eine Erklärung bereit, die zwar durch ihre individualisierende Perspektive die gesellschaftliche Reichweite weitgehend außer Acht lässt, an dieser Stelle aber genannt werden soll, um die strukturelle Ähnlichkeit zum pathologischen Verhaltensmuster herauszustellen: Das Grundmuster, das in der Adoleszenz während der Ablösung vom Elternhaus ausgebildet wird, in das die Rückkehr jederzeit möglich ist, weist deutliche Parallelen zum sanften Tourismus auf: zentrales Reisemotiv ist der Kontakt mit dem Exotischen, dem erhofften Besseren. Die eigene Kulturgrenze wird in Richtung des ‚Fremden' überschritten, allerdings mit einem Sicherheitsnetz, welches durch die Reiseveranstalter gegeben ist. Diese organisieren die Reise selbstredend so, dass die fabelhaftesten, attraktivsten Seiten der Fremde präsentiert werden, ohne dass die negativen akzeptiert werden müssen. Problematisch ist hier über die funktionalisierende Projektionsleistung hinaus der Sachverhalt, dass die Motive und Stereotype, die heute in den Erwartungshaltungen der TouristInnen kolportiert werden, dabei weitgehend unbeschadet aus dem Kolonialismus überliefert sind. Die Projektionsleistung ist heute höher als zu den Zeiten, in denen das Fremde noch wirklich fremd und unerreichbar war. Da das ‚Fremde' heute eigentlich gar nicht mehr wirklich fremd ist, wird es doch über TV und Internet ins eigene Wohnzimmer geliefert, müsste eigentlich ein Verschwinden des Exotismus zu verzeichnen sein. Aus Marketinggründen kommt es allerdings zur Exotisierung fremder Kulturen, zu einer „Gegenwelt“. Die Möglichkeit, diese in ihrer Eigenheit zu erfahren, wird verkleinert, die hineinprojizierten Hoffnungen und Erwartungen aber scheinbar angemessen befriedigt.

Die kulturelle Revitalisierung der „fremden Völker“, die mit der Öffnung der eigenen Kultur gegenüber westlichen Besucher.innen finanziell ermöglicht und daher von Vertreter.innen des sanften Tourismus oft lobend hervorgehoben wird, ist jedoch nicht frei gewählt, sondern durch einheimische Eliten und westliche Fernreiseanbieter (in der Rolle von Neo-Kolonisatoren) auferlegt, wodurch fortschrittliche, emanzipative Strömungen im Namen des Tourismus gar nicht erst zum Zuge kommen dürfen. Gegen bares Geld, auf das die Bereisten angewiesen sind, kann die Bestätigung des Bildes vom fremden Kulturkreis jeglicher Art erworben werden. Durch die performative Inszenierung der Einheimischen auf der ‚Vorderbühne' werden die (neo-)kolonialen Verhaltensmuster bedient und verfestigt. Der ‚Freizeitimperialismus' lässt alte Rollenmuster von Dienenden und Bedienten fortschreiben. Müssen die Autochthonen als Überlebenstechnik immer lächeln und gastfreundlich ihre Dienste anbieten, so bestätigt diese Selbstdarstellung das Fremd-Image des ‚edlen Wilden'. Die Hinterbühne indes entzieht sich der touristischen Wahrnehmung. Das transkulturelle Erleben kann so gar nicht erst die vielen Identitäten und mehrdimensionalen Verortungen kennen lernen, sondern fördert lediglich eine Identität zutage, die der westlichen Welt wenn nicht unterlegen, wenigstens entwicklungsgeschichtlich unterlegen (?) erscheint, und stärkt dabei einen unkritischen, sich nicht selbst reflektierenden westlichen Universalismus und einen damit verbundenen Totalitätsanspruch. Potenziert wird dies im Zusammenhang mit ‚sanften' Tourismusformen, die als so gut und unanfechtbar betrachtet werden, dass Kritik aus Reihen der Einwohner.innen gar nicht ernst genommen wird.
Kulturelle, ökonomische und historische Faktoren führen dazu, dass die unverfälschte Begegnung mit dem „Fremden“ in fernen exotischen Welten für Europäer.innen nie unproblematisch sein kann. Je stärker eine Vorstellung von Authentizität forciert wird, in desto gefährlicheren Gefilden bewegt man sich. Vielmehr ist die Voraussetzung für einen aufgeklärten Ferntourismus, sich diesen Einschränkungen gewahr zu sein.
In der Sachsentherme bewegt man sich diesbezüglich selbstredend in sehr sicheren Gefilden: Ohne in etwaige Schwierigkeiten zu kommen, kann man Palmen, Sand und hohe Wellen genießen. Sicherlich ist sie aus gesellschaftskritischer Perspektive betrachtet in vielen Punkten zu kritisieren, geht man auch dem kompensatorischen und reproduktiven Charakter solcher Angebote, die an die Tatsache der ständigen Zeitknappheit und den Imperativ der notwendigen Flexibilität angepasst sind, auf den Leim. Natürlich affimiert man mit ihrer Inanspruchnahme die Politiken unternehmerischer Stadtentwicklung, mit der soziale Polarisierungsprozesse unmittelbar verknüpft und politisch gewollt sind. Vom ökologischen Fußabtritt solcher Etablissement ganz zu schweigen. Aber besser als der Fernflug allemal.
Wenn es einen Punkt gibt, den man locker von sich weisen kann, dann ist das der Vorwurf des Kulturbanausentums! Krude Authentizitätsvorstellungen kann man getrost von sich weisen. Diese Erkenntnis ist zwar weder schwer zu erlangen, noch besonders überraschend und innovativen Charakters, aber in Anbetracht der grauen und kalten hiesigen Umstände kann man es sich ruhig gönnen, sie noch mal vor Augen zu führen, sich und sein Gewissen warm und gemütlich darauf zu betten, ein bisschen luzide zu träumen, von exotischen Stränden zu phantasieren ohne Exotist.in zu werden oder einfach zum Relaxtarif den Whirlpool zu genießen.

A. Vanderloik


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last modified: 18.12.2008