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Kritik der Politik


Eine parteiische Reprise
von Hannes


    „Was sich als Grundlage für Kritik bestimmen ließe, wäre tatsächlich einen Begriff davon zu haben, was die bürgerliche Gesellschaft ist.“
    (Antinationale Gruppe Leipzig, Der große Radikalinskischwindel, Cee Ieh #79)
Anfang einer treffenden Kritik

Die Kritik der Politik setzte in dem Moment ein, als sämtliche Versuche, die Antifa mit ihren Mitteln zu retten, zum reinen Wahnsinn wurden. Geklammert wurde sich an „Action, Action, Action“ (Bündnis-gegen-Rechts, Plakat, 1.Mai 1999), stringenterer Durchorganisierung (Leipziger und bundesweite Organisierungsdebatte), Symbolik, Pop und politischer Identität, deren Gegenteil – soziale Identität – auf Gedeih und Verderb den politischen Strukturen ausgetrieben werden sollte.
Die erste Kritik an jener reflexionslosen Politik, die aufgrund ihres Wahns, effizient und wirksam sein zu wollen, Menschen zu den Mitteln trimmen will, zu denen sie die bürgerliche Gesellschaft schon so gut wie möglich gemacht hat, gab es im Oktober 2000 von einer „Gruppe ohne Namen“, die später als „La fin de cercle“ ihre Kreise zog und zusammen mit der Antinationalen Gruppe Leipzig gegen Politik allgemein agitierte. Ihr Papier war eine Reaktion auf die Ralfsche Kritik an feministischen Frauengruppen (Ralf, Die Pat.-Situation. Zur Geschichte der Frauenbewegung, CeeIeh #69), in der den Frauengruppen unter anderem zu wenig öffentliche Politik und zu viel soziale Identität vorgeworfen wurde. Die Kritik, welche, post festum vermutet, ihr Ziel Ralf umwälzte, meinte: „Das sich selbst fest im Griff habende, gänzlich durchrationalisierte bürgerlich-männliche Individuum wird zum Ideal des oder der engagierten Linken.“ (Gruppe ohne Namen, Ralf als Vordenker der totalen Vergesellschaftung, CeeIeh #70)
In diesem Artikel soll mit meist eigenen Worten, die sich aber an die damaligen Statements anlehnen, und nötigen Gegenwartsbezügen in die damalige Debatte vom Standpunkt der Kritik aus wiederholend eingeführt werden.

Befreite Gesellschaft

Die aller wichtigste Errungenschaft der Kritik an der Politik war die Wiederbelebung des utopischen Moments. Während sich zuvor der Konsens linker Politik in Leipzig darin erschöpfte, je nach Praxis-Belieben gegen Nazis, Deutschland oder Überwachungsgesellschaft zu sein und phrasenhaft „Kapitalismus abschaffen“ und „Revolution“ zu verkünden, belebte die Kritik-Fraktion das Ziel einer befreiten Gesellschaft als Resultat der Aufhebung des Kapitalismus wieder; und zwar nicht verbal-radikal, sondern als Ausgangs- und Endpunkt einer fundamentalen Gesellschaftskritik. Während die Politik der Antifa und analog dazu sämtlicher linken Bewegungen anhand jeweiliger gesellschaftlicher Widersprüche funktionierte, stellte die Kritik die gesamte Gesellschaft in Frage.

Politik und Staat
    „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
    (Grundgesetz von Deutschland, Artikel 3.3)
Der Staat als Form bürgerlicher Herrschaft ist keine fremde Macht, sondern die Abstraktion des politischen Willens aller seiner Bürger. Er gewährleistet den Kapitalprozess, an dem alle Bürger auf die eine oder andere Weise Teil haben, in dem er wirtschaftliche und politische Konflikte so weit vermittelt, dass die Gesellschaft nicht auseinander bricht. Der Staat ist selber als Ideologie in den bürgerlichen Subjekten immer schon vorhanden, da ihr Privatinteresse innerhalb der gängigen kapitalistischen Produktionsverhältnisse ein allgemeines Souverän voraussetzt und produziert. Die Bewegungslinken inklusive der Antifas hatten nie eine allgemeine Kritik am Staat. „An dem (...) Charakter des bürgerlichen Staates wird deutlich, dass sich die Antifa nicht gegen den Zweck des Staates wendet, sondern ausschließlich gegen sein Mittel. Das Allgemeine, der Staat selbst, ist nicht Gegenstand der Kritik, sondern das Besondere, sein Formgehalt, sein Erscheinung. (...) Der Kampf gegen Nationalismus ist also keineswegs der Kampf für die Abschaffung des Staates, sondern Kampf um ‘zivilisierte’ Mittel zum Zweck – dem Staat. (...) Im Vorhinein schon hat sie sich zum Souverän freiwillig auf die Plätze verweisen lassen und anstatt das Besondere über das Allgemeine zu kritisieren, das Besondere am Besonderen als anstößig empfunden“ (Ralf, Kritik der Antifa I, Cee Ieh #74). Die Antifa war keine staatskritische Bewegung, sondern eine Lobby innerhalb eines Staates, dem Antifaschismus zwar nicht immer Gebot, aber auch nicht immer fremd ist. Immerhin ist der Antifaschismus in seiner Tradition eine Volksfrontbewegung gewesen, die den bürgerlichen Staat gegen den Nationalsozialismus verteidigen wollte. Der Kampf gegen Nazis wäre nicht falsch, sondern sogar begrüßenswert, wenn die Antifa ihre Revolutionsromantik abgelegt hätte. Überhaupt geht es nicht darum, politischen Strömungen, die gesellschaftsimmanent Gefahren und Leiden für Menschen bekämpfen wollen, in Grund und Boden zu stampfen. Doch indem die Antifa sich die Revolution auf die Fahnen schrieb, sollte sie auch an diesem Anspruch gemessen werden. Wenn keine kapitalistischen Produktionsverhältnisse und damit einher gehende Ideologien kritisiert werden, kritisiert man auch keinen Staat.

„Smash Capitalism“
    „Nur als unerkannte Natur, als blinde Notwendigkeit wirkt das Gesellschaftliche zerstörend.“
    (Max Horkheimer, Invarianz und Dynamik in der Lehre von der Gesellschaft, 1951)
Das Bündnis gegen Rechts reagierte widersprüchlich. Einerseits affirmierte das BgR ziemlich schnell die Kritik, in dem sich der Antikapitalismus auf die Fahnen und unter die Aufrufe geschrieben wurde, andererseits stellte es den Begriff der Totalität, welcher Gesellschaft als Ganzes kennzeichnet, in Frage: Der Totalitätsgedanke impliziert (so das BgR auf der Veranstaltung „Kritik oder Politik“ am 3. März 2001) dass allen Phänomenen Grundaxiome zugrunde liegen. Bei der Wertkritik ist das Grundaxiom der marxsche Begriff des Werts. „Wir (das BgR – H.) können das Prinzip nicht sehen, das alles erklärbar macht, sondern wir sehen vielfältige Widersprüche an verschiedenen Punkten, die für uns auch Ansatzpunkte sein können, ohne dass wir zum Beispiel auf den Wert reduzieren müssen.“ (Gegen die Verwirrung, Cee Ieh #77)
Während die Kritik gegen den Kapitalismus als negative Totalität und deren synthetisierendes Prinzip, den Wert gerichtet ist, kritisierte das BgR eben jene Rede von der Totalität und kam so in einem anderen Papier zu dem Schluss, „Gesellschaft als Verhältnis zu begreifen, welches von handlungs- und denkfähigen Menschen, von ideologischen und ökonomischen Strukturen bestimmt ist...“ (Kritik2, Cee Ieh #78). Überspitzt ausgedrückt: Das BgR betrachtet die jetzige Gesellschaft als eine, die sich die Kritiker für die Zukunft erträumen. Eine Gesellschaft reflektiert-“handlungsfähige(r) Menschen“. Genau jene Gesellschaft, mit der die Geschichte der Menschen erst beginnen soll, wenn der Kapitalismus und die Vorgeschichte der Menschheit aufgehoben ist, eine Gesellschaft in der die Menschen anfangen, bewusst ihre Geschichte zu machen, resümiert das BgR mit der Rede von „handlungs- und denkfähigen Menschen“ schon heute.
Doch ‘irgendwie’ gibt es auch für das BgR noch so etwas wie „ideologische und ökonomische Strukturen“, die dann eine Ahnung davon lassen, warum das BgR doch noch zu seinem revolutionären Anspruch kommt. Inwiefern diese nun mit dem Handeln und Denken der Menschen zu tun oder nicht zu haben, bleibt in der vor anderthalb Jahren veröffentlichten BgR-Position geheimnisvoll. In materialistischer Gesellschaftskritik wird das Verhältnis zwischen „ökonomische(r) Struktur“ und Denken als eine Einheit von Warenform und Denkform erfasst.

Theorie und Praxis
    „Also, die kritische Theorie hat sich ganz und gar nicht als esoterisch empfunden, die Reflexion des Verhältnisses von Theorie und Praxis war ihr innerstes Element.“
    (Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie, 1980)
Das größte Missverständnis, welches einerseits bei Teilen der Politik-Fraktion, andererseits bei einigen Adepten der Kritik-Fraktion auftrat, war die Übersetzung des Widerspruchs Politik und Kritik mit Praxis und Theorie. Der Kritik-Fraktion wurde unterstellt, nur noch lesen zu wollen und jegliche Praxis abzulehnen. Und der Grund dieses Missverständnisses liegt darin, das die Kritik-Fraktion den Leuten die Lektüre von Werken bestimmter Gesellschaftskritiker (K. Marx, Th. W. Adorno, R. Scholz etc.) sehr ans Herz legte. Lesen! hieß es. Und zwar nicht entsprechend eines bürgerlichen Bildungsideals, sondern als Bedingung für eine Gesellschaftskritik, die nicht in augenscheinlichen gesellschaftlichen Widersprüchen befangen bleibt, sondern der es darum geht, unversöhnlich den Kapitalismus in seiner Einheit von Waren- und Denkform zu reflektieren. Schließlich kehrte so die Kritik-Fraktion den Vorwurf, Praxis-fern zu sein, bei einer Veranstaltung am 3. März 2001 gegen das BgR: „Ideologie ist die Verabsolutierung von Teilpraxen. Das passiert, wenn man behauptet, daß man den Widerspruch gefunden hätte, den man so zuspitzen könne, daß sich daran revolutionäre Politik entfalten könne. Schon diesem Anliegen liegt ein falscher Begriff von Praxis zugrunde. Der eine BgR-Referent meinte vorhin, daß sie vom BgR ein unverkrampftes Verhältnis zur Praxis hätten, ja sogar Praxisfetischisten wären. Praxis heißt, die gesamte Gesellschaft zu erfassen. Das Bestehende, also das gesamte Geschehen, ist die Praxis. Es gibt eine materielle Praxis und daraus resultierende Bewusstseinsformen. Sich kritisch mit der Gesellschaft auseinander zu setzen, heißt demzufolge, Bezug auf ihre Gesamtheit zu nehmen und sich kritisch auf die Gesellschaft als Ganzes zu beziehen. Genau das passiert in der Antifa nicht. Deswegen richten wir den Vorwurf an das BgR, gar kein Verhältnis zur Praxis zu haben“ (Cee Ieh #78).
Karl Marx, auf den die Kritik-Fraktion rekurriert, schildert die Unterscheidung von Theorie und Praxis als Ergebnis einer arbeitsteiligen Gesellschaft: „Die Teilung der Arbeit wird erst wirkliche Teilung von dem Augenblick an, wo eine Teilung der materiellen und geistigen Arbeit eintritt. Von diesem Augenblick an kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas anderes als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen – von diesem Augenblick an ist das Bewusstsein imstande, sich von der Welt zu emanzipieren und zur Bildung der reinen Theorie (...) überzugehen“ (Karl Marx, Die deutsche Ideologie). Die Arbeitsteilung selber ist ebenso wie die Entstehung der Sphäre Arbeit ein Ergebnis der Durchsetzung des Kapitalismus, in dem Arbeitsprodukte als Waren gewinnbringend miteinander getauscht werden sollen, was einerseits eine effizient durchorganisierte Sphäre voraussetzt, in der zweckgerichtete Arbeit unter Ausschluss möglichst aller anderen Formen menschlichen Lebens, sei es in den Himmel starren, labern, ficken oder saufen, durchgeführt wird und andererseits nur dann geschieht, wenn von einander unabhängige Privatarbeiten miteinander getauscht werden.
Noch verrückter ist: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen. (...) Es ist nun das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für die phantasmagorische Form von Dingen annimmt. (...) Dies nenne ich Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden (...) Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für (die Produktenaustauscher) die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren.“ (ders., Das Kapital, Bd.1) Dieser Fetischismus ist es nun, der einem die kapitalistische Gesellschaft als natürliche und fremdbestimmte widerspiegelt, ihre Bewegungsgesetze verschleiert und der eben nicht der Blick auf das Ganze ist. Gleichzeitig erweist sich dieser Fetischismus als ein Bewusstsein, welches den Verhältnissen adäquat ist und sie somit gewährleistet. Fetischistische Denkformen verschleiern nicht nur den Warenverkehr als gesellschaftliches Verhältnis von Menschen, sondern alle möglichen Erscheinungsformen des Kapitalismus.
Das BgR kämpfte immer gegen Nationalismus und Rassismus, betrachtete diese aber nicht als bürgerliche Ideologien, die auf Grundlage kapitalistischer Vergesellschaftung entstehen und als solche fetischistische Denkformen kritisiert werden müssen. Vom Standpunkt der Kritik soll der Zusammenhang von Theorie und Praxis nicht zu Gunsten der Theorie aufgelöst, sondern heutiges Denken als kapitalistische Praxis kritisiert werden.

Erkenntniskritik vs. Politik
    „Befriedigt schiebt begriffliche Ordnung sich vor das, was Denken begreifen will.“
    (Th. W. Adorno, Negative Dialektik)
Gesellschaftskritik kommt nicht ohne Erkenntniskritik, ergo Selbstkritik, und Politik kommt nicht mit Selbstkritik aus, da der eigene Aktionismus, der Begründung und Ziel der Politik zugleich ist, dann Gegenstand von Kritik wäre.
Da die Gedanken eben nicht frei, sondern den gesellschaftlichen Verhältnissen gemäß sind, bedeutet Erkenntnis eben immer auch Erkenntniskritik. Erkenntnis, die eine Theorie bauen will und sich einen festen Standpunkt zementiert, gerät in die Erkenntnisfalle, ahistorisch zu sein. Erkenntniskritik dagegen versucht die eigene Erkenntnis als von der Gesellschaft hervorgebrachte Erkenntnis zu reflektieren. Damit muss sie ihr Verhältnis zum Gegenstand immer neu bestimmen, anstatt ihn von einem festen Standpunkt aus zuzurichten. Das bedeutet für die Kritik, dass sie sich als immanente reflektiert und den Weg immanenter Kritik zu gehen versucht. Immanente Kritik, welche anhand der vorgefundenen Gesellschaft diese kritisieren will, kann daher nicht von einem gesellschaftsexternen oder zukünftigen Punkt aus die gegenwärtige Wirklichkeit kritisieren, sondern muss der Gesellschaft ihre eigene Melodie vorspielen. Das bedeutet, anhand der Begriffe, die sich die Menschen von der Gesellschaft machen, Kritik zu formulieren. Jegliche Erkenntnis richtet ihren Gegenstand zu, da sie immer schon von einem Allgemeinen ausgeht. Schon die Begriffe von den Gegenständen, auf die sie zugeht, zeugen von der Zurichtung der Begriffe durch die Erkenntnis. Erkenntniskritik weiß um dieses Problem und möchte daher keine Theorie bauen, die anhand von Begriffen der Wirklichkeit Vernunft unterstellen will. Erkenntniskritik zielt auf keine Theorie, welche die Verhältnisse rationalisiert, sondern will anhand der Gesellschaft aufzeigen, dass diese eben nicht vernünftig ist. Das was man selber als Vorstellung entwickelt, muss zugleich Bestandteil der kritischen Reflexion sein: „Kritik ist, dass in Begriffe zu schaffen, was abzuschaffen wäre. (...) Kritik ist das Begreifen, wie wir selbst geworden sind, wie wir sind und was das mit der Gesellschaft zu tun hat, in der wir leben“ (Kritik ist großartig, alles andere ist Quark, Cee Ieh #78).
Während Theorie Verhältnisse hypostasieret, indem sie die Vernunft aus ihnen pressen will, möchte Kritik eben anhand der Begriffe aufzeigen, dass die Verhältnisse nicht überhistorisch sind und unnötiges Leid für die Menschen erzeugen. Natürlich ist die Trennlinie zwischen Theorie und Kritik unmöglich zu ziehen, da, wie schon erwähnt, auch Kritik ihre Gegenstände nur per begrifflicher Ordnung und damit per Theorie zu begreifen pflegt. Der allgemeine Ausgangspunkt jedoch muss im Sinne dialektischer Methode, deren Weg die Wechselwirkung zwischen Erkenntnis und Erkanntem sein soll, kritisch reflektiert werden und bestimmbar bleiben. Politik, deren Identität sich anhand von Widersprüchen und damit ihren Feinden nährt, kommt schnell in die Teufelsküche der Theorie, da der Selbstbezug zur Gesellschaft sich in dem Moment verflüchtigt, wo man eben von der Abgrenzung lebt, sich mit symbolischer Politik Feinde macht, die Analyse der Gesellschaft zum Mittel des Aktionismus werden lässt und der Pragmatismus zum Dogma wird. Revolutionäre Politik ist die fälschliche Selbstvergewisserung, revolutionäres Subjekt zu sein oder anhand eines gesellschaftlichen Widerspruchs revolutionäre Massen erzeugen zu können.

Die Möglichkeit kritischen Denkens
    „Wie ist eigentlich kritisches Denken möglich, wenn uns der Wert alle im Würgegriff hat?“
    fragte das BgR (Kritik2, Cee Ieh #78).
Da der Mensch und die Umwelt eben nicht in der Form kapitalistischer Vergesellschaftung und deren Begreifens vollständig aufgehen, da eben jegliche Form stofflichen Inhalt zur Voraussetzung hat, ist gesellschaftliche Zurichtung eben nur mit einem gesellschaftlichen Unbehagen zusammen möglich, welches sich beispielsweise ergibt, wenn man ständiger Existenzangst ausgesetzt ist, nichts zu fressen hat, keinen Schlaf bekommt oder sozial kalt lebt. Ob dieses Unbehagen sich als Antisemitismus, Rassismus und Ähnlichem äußert oder als Kritik des Ganzen daherkommt, hängt maßgeblich davon ab, ob man bereit ist, sich der Gesellschaft als Ganzes kritisch zu nähern, oder ob man sich gegen Symboliken und Personifikationen und anhand von Teilpraxen und Widersprüchen zum schaffenden Subjekt halluziniert.
„Das Leben des Allgemeinen wird ihm (dem Staatsbürger – H.) nicht bloß ein Spiel feindlicher und konkurrierender Parteien bedeuten, sondern die Produktion und Reproduktion des Ganzen, dass auch ihn selber als Individuum bestimmt und in das er tagtäglich mit jedem seiner Akte, auch der egoistischsten, unlöslich verflochten ist.“ (Max Horkheimer, Politik und Soziales, 1950)
Um sich dem Ganzen kritisch zu nähern und kritisches Denken weiter zu entwickeln, bedarf man der Tradition kritischen Denkens, welches eben noch aus Zeiten stammt oder selber auf Kritischem Denken jener Zeiten aufbaut, in denen der Kapitalismus noch nicht so verbreitet und eindringlich wie heute war.

Aktionismus und Kritik
    „Kriterium des Wahren ist nicht seine unmittelbare Kommunizierbarkeit an jedermann. Zu widerstehen ist der fast universalen Nötigung, die Kommunikation des Erkannten mit diesem zu verwechseln und womöglich höher zu stellen, während gegenwärtig jeder Schritt zur Kommunikation hin die Wahrheit ausverkauft und verfälscht.“
    (Th. W. Adorno, Negative Dialektik)
Nun hat es ja etwas Verwunderung hervorgerufen, dass die Antinationale Gruppe Leipzig und das Bündnis für Israel, Gruppen die eher der Kritik-Fraktion zugerechnet werden, in den letzten Monaten etwas aktionistischer als klassische Politikgruppen waren. Diese Verwunderung entspringt einerseits dem anfänglich geschilderten Missverständnis, dass Kritik als Theorie verstanden wurde und andererseits dem anfänglichen Beharren der Kritik auf der Kritik des Kapitals. Das Besondere im Kapitalismus, was dann eben im Guten bürgerlich-pluralistische Verhältnisse und im Schlechten deren faschistische Regression bedeutet, wurde teils nicht mehr mitgedacht oder nicht mitgenannt, weil rhetorisch das Primat der Kritik auf das Allgemeine des Kapitalismus’ gerichtet werden musste, um der Antifa und deren Vorläufer- und Nachfolgebewegungen ihr Problem aufzuzeigen. Wenn heute die Kritik-Fraktion Antisemitismus, Nationalismus und Ähnliches kritisiert, dann entweder von einem Standpunkt aus, von dem das Ganze kritisch reflektiert wird oder als pragmatisch gesellschaftsimmanentes konkretes Eingreifen ohne revolutionären Gestus.
Eine Sensibilisierung für fundamentale Gesellschaftskritik kann immer nur anhand des verursachten Leidens in dieser Gesellschaft beginnen und muss auf die Kritik des Ganzen zielen. Dies ist ein Drahtseilakt, weil sich jeder Aktionismus zu Markte tragen muss und nicht die Kritik sondern die Gesellschaft die Spielregeln für die Agitation bestimmt. So verkommt auf dem Markt der Meinungen jegliche Kritik erst mal zur Propaganda, weil sie die gängigen Formen der Anbiederei eines Produktes nicht zu verlassen vermag.
Ziemlich unreflektiert ging und geht Agitation bei der Antifa und anderen Polit-Bewegungen den Weg der Propaganda. Mit Pop-Layout beweist man dann, dass man auf der Höhe der Zeit ist, mit Manga-Comics und Militanzverherrlichung bedient man sich bewusst oder unbewusst der Gewalt als den „blinden Fleck im bürgerlichen Selbstverständnis“ (Antifaschistischen Aktion Berlin, 11.6.’02) und mit revolutionären Attitüden verpackt man die Bewegung dann endgültig zum markttauglichen Produkt. Die Antifa spielte das politische „Spiel“ von Machteroberung, Machterhaltung und Machtausübung nach dem Motto „Das Problem seid ihr, die Lösung sind wir“ ziemlich hemmungslos mit. Mit Politik wird nicht die Ohnmacht thematisiert, die diese Gesellschaft erzeugt, sondern sich Macht vorgegaukelt. Die Antifa ist niemals über die Sensibilisierung anderer Leute für ihre Politik hinausgegangen, weil sie selber den gesellschaftlichen Widerspruch zwischen sich selbst und Nazis nie gesellschaftlich eingeordnet, sondern immer nur als subversiv oder revolutionär verordnet hat. Der scheinbare Trumpf von „revolutionärer“ Bewegungspolitik, den Gegenstand im Visier zu haben und diesen empfindlich zu treffen, verschleiert die Tatsache, dass man eben ein Symbol einer Gesellschaft angreift, deren Repräsentant man selber ist. Ein Aktionismus, welcher der Kritik der bürgerlichen Gesellschaft adäquat wäre, würde diese aufheben. Dieser Aktionismus hätte einen weit verbreiteten Hass auf die bürgerliche Gesellschaft zur Voraussetzung, der nicht Ergebnis und Identität des Aktionismus selber wäre, sondern aus einer kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben und der eigenen Ohnmacht innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entspränge.
Parolen, Sprechchöre und Vermittlung gehören so auch zum Repertoire einer Kritik, die wahrnehmbar sein will, und sind gleichzeitig deren Persiflage. Die stattfindende Verkümmerung des bürgerlichen Bildungsideals, zu dem eben das Lesen von Büchern und Allgemeinbildung dazugehört, bekommt die Kritik der bürgerlichen Gesellschaft in dem Moment zu spüren, wo die Begriffe, mit denen man der Gesellschaft ihre eigene Melodie vorspielt, nicht mehr erfasst werden können und die Leute sich mehr und mehr mit reinem Müll, ob per Fernsehen, Radio, Internetforen oder Boulevard-Zeitschriften, zustopfen. Genau jene Menschen, die diese Gesellschaft erzogen hat, sind diejenigen, die eine Sensibilisierung für Gesellschaftskritik erfahren sollen. Anhand der Abwehrhaltung, die textschwangere Gesellschaftskritik als universitären Kram bezeichnen, verrät sich das Kind heutiger Gesellschaft, die nichts anderes hervorzubringen vermag, als an platter Identifikation orientierten plumpen Aktionismus. Dies äußert sich auch dann, wenn sich die notwendige Solidarität mit Israel mehr mit Fahnen schmückt, als dass sie aus Gesellschaftskritik hervorgeht, oder der Kommunismus zum Codewort für die eigene Coolness wird. Da sich Kritik ihrer Wahrnehmbarkeit wegen einer Verpackung gemäß heutiger Anforderungen geben muss, ist das Ideal, dass sich nicht die Kritik an der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit an der Kritik messen lassen muss, schon in dem Moment, in welchem Kritik vermittelt wird, unterlaufen. Diese Einsicht, die Ohnmächtigkeit gesteht, ist nicht Indiz für einen falschen weil schier unmöglichen Weg, sondern die Vergewisserung falscher Verhältnisse und der Notwendigkeit, diese zu beseitigen.


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last modified: 28.3.2007