Grit: Wir haben uns gefragt, als wir zu dieser
Veranstaltung Kritik oder Politik eingeladen wurden, warum wir hier
referieren sollen. Der kurze Text auf dem Veranstaltungsflyer erfaßt das
Problem unserer Meinung nach nicht. Aber der Text drückt ziemlich gut aus,
was für die Antifa das Problem ist bzw. werden wird. Ich zitiere:
Benötigt es einer perfekten Theorie bevor praktische Politik
angegangen werden kann? Ist praktische Politik derzeit immer nur Reformismus
und trägt damit zur Verbesserung des bestehenden herrschenden
kapitalistischen Systems bei? Es diskutieren VertreterInnen aus praktisch und
theoretisch arbeitenden Gruppen.
Klar ist, daß wir hier auf jeden Fall eine kritische Position vertreten
werden, aber aus unterschiedlichen Gründen, die wir anfangs kurz trennen
werden. Zuerst zu mir. Meine politische Heimat war das BGR und ist es jetzt
nicht mehr. Ein wichtiger Grund für mich, dort nicht mehr zu sein, ist
daß dort zwar Auseinandersetzungen gelaufen sind, die gut und wichtig
waren. Für mich entscheidende Diskussionen wurden aber nicht geführt.
Beispielsweise hat das BGR zwar einen linksradikalen Anspruch, kann diesen
meines Erachtens aber nicht verwirklichen.
Lutz: Ich komme ursprünglich auch aus dem BGR und bin zeitgleich
mit Grit ausgetreten. Der Grund, dort herauszugehen war ebenfalls, daß
das BGR den Anspruch linksradikaler Politik, den Anspruch der
gesamtgesellschaftlichen Emanzipation, durch das eigene Vorgehen verwirkt.
Martin: Ich war ehemals lange Zeit in der PDS aktiv, habe also auch
meine Erfahrungen im konkreten Machen von Politik. Ich hab mich von diesem
Spektrum getrennt, als ich mich mit radikaler Staats-, Arbeits- und
Politikkritik beschäftigt habe. Wichtig war die Auseinandersetzung mit
kommunistischen Ideen zu denen ich mich auch heute bekenne. Mit
Kommunismus meine ich dabei nicht jenen doktrinären Staats-
und Parteikommunismus, sondern einen antiautoritären, sozusagen
linken bzw. anarchistischen Kommunismus.
Mit der Einsicht, daß mit Reformismus, egal ob im Parlament oder durch
Demonstrationen, nicht viel zu erreichen ist, vertrete ich den Standpunkt der
absoluten Negation des Bestehenden.
Lutz: Unser Referat ist in neun Thesen gegliedert (Grit: Die schlagen
wir dann noch an die Tür), die dann jeweils erörtert werden.
Ausgangspunkt unseres Standpunktes ist, daß die Gesellschaft, wie wir sie
vorfinden, das Ganze in ihrem Wesen und ihrer Erscheinungsform für uns das
Unwahre, das Falsche ist, daß zu bekämpfen ist, weil diese
Gesellschaft im Gegensatz zu unserem Ziel einer glücklichen Menschheit
steht. Zu den neun Thesen.
1. Wir wollen keine perfekte Theorie, weil diese schlechthin nicht möglich ist.
2. Gesellschaftskritische Politik ist ein hölzernes Eisen.
3. Die befreite Gesellschaft läßt sich nicht herbeireformieren und -politisieren.
4. Wir erkennen an, daß eine Linderung des Leidens von Menschen in der
bestehenden Gesellschaft notwendig ist.
5. Wir sind weder VertreterInnen theoretisch noch praktisch arbeitender Gruppen.
6. Kritik ist das Begreifen, wie wir selbst geworden sind, wie wir sind und was
das mit der Gesellschaft zu tun hat, in der wir leben.
7. Praxis ist die Gesamtheit der bestehenden Verhältnisse, die Einheit der Gesellschaft
und der Ideologie, die daraus entsteht. Sie ist letztendlich das, wozu wir kritisch
stehen. Diese Gesellschaft ist verrückt.
8. Das Ziel von uns ist, nicht im Getriebe zu versanden, sich selbst die Möglichkeit zu
geben, nicht mitzumachen. Besinnung, Reflexion, Genuß, statt im Plenum zu versauern.
9. Agitation, Anstiftung zum Denken, zum Lesen, sich die Gesellschaft bewußt machen.
Martin: Unser Ansatz konzentriert sich auf einen Satz von Leo
Löwental, einem Denker der Kritischen Theorie. (Im Umfeld der kritischen
Theorie wurde in den 20er und 30er Jahren versucht, marxistische Ideen
unabhängig von der Parteidoktrin von SPD und KPD zu entwickeln.)
Er sagt in einem Interview: Ich erinnere mich, oft in intellektuellen und
persönlichen Gesprächen den Vorwurf gehört zu haben, daß
man doch nicht immer kritisch sondern auch mal konstruktiv sein müsse. Wir
aber (er bezieht sich auf die kritische Theorie) waren immer das Skandalon, der
Störenfried. Du kennst den Spruch von Kästner, der die
unerträgliche Dummheit aufspießt. Herr Kästner, wo bleibt das
Positive? Genau das Negative war aber das Positive, dieses Bewußtsein des
Nichtmitmachens, des Verweigerns. Die unerbittliche Analyse des Bestehenden,
soweit wir jeweils dafür kompetent waren, das ist eigentlich das Wesen der
Kritischen Theorie. Das ist eine grundlegende These kritischen Denkens,
wie wir sie vorhaben.
Jetzt werden wir die Thesen genauer erläutern.
1. Wir wollen keine perfekte Theorie, weil diese schlechthin nicht möglich
ist.
Wir denken, daß für Einzelbereiche der Gesellschaft eine perfekte
Theorie möglich sein kann. Wenn man nämlich mitgestalten will, dann
kann man auch eine perfekte Theorie entwickeln. Das Autofahren mag sich
beispielsweise in Theorie und Praxis einteilen lassen. Man mag auch Theorien
formulieren können, wie man am besten angelt. In solchen Bereichen ist
perfekte Theorie möglich.
Aber sobald die gesamte Gesellschaft unser Gegenstand wird und zwar in
emanzipatorischer und kritischer Absicht, wir die gesamte Gesellschaft
kritisieren wollen und sie überwinden wollen, also etwas ganz anderes
wollen, nämlich den Kommunismus, eine Gesellschaft die aus dem jetzt
bestehenden überhaupt nicht zu denken ist, dann kann es keine perfekte
Theorie geben. Also so wie Adorno sagte, daß kein richtiges Leben im
falschen möglich sein kann, ist natürlich auch im Bestehenden keine
richtige Theorie möglich. Deswegen ist das Streben nach einer perfekten
Theorie Blödsinn. Der theoretische Blick ist beispielsweise der Blick des
Ingenieurs, des Managers, des Sozialtechnikers, eines Menschen also, der sich
dafür entschieden hat, das System am Laufen zu halten, also mitmachen
möchte. Dazu ist Theorie da. Wir wenden uns ganz klar gegen Theorie und
stellen die radikale Kritik dagegen.
Wir denken, daß aus dem Bestehenden heraus derzeit keine
revolutionäre Praxis entwickelt werden kann. Es gibt kein
revolutionäres Subjekt, was oftmals fabuliert wurde. Es müßte
als kritische Aufhebungsbewegung eben erst sich herausbilden. Im 19.
Jahrhundert meinten Sozialdemokraten, es sei die ArbeiterInnenbewegung. Man
meinte, es gäbe prinzipielle Widersprüche, die man überall in
der Gesellschaft aufspüren müßte und es gäbe Leute, die
prinzipiell (aus ihrer wirtschaftlichen Lage heraus) gegen das Bestehende sein
müßten. Spätestens mit der Entstehung von Arbeiterstaaten
(Volksdemokratien wie DDR, Sowjetunion, VR China), die dann
letztendlich Modernisierungsdiktaturen wurden, hat sich das dann erledigt. Auch
in ihnen zählte ökonomische Entwicklung alles, während die
Bedürfnisse der Menschen unwichtig waren, wie es in jeder wertvermittelten
Gesellschaft der Fall ist. Später begann man andere revolutionäre
Subjekte zu erfinden, wie die Autonomen oder Gruppen von Menschen,
die am sozialen Rand dieser Gesellschaft existieren. Dies alles erwies sich als
Trugschluß.
Deshalb beharren wir auf der prinzipiellen Kritik des Bestehenden, weil
einerseits, wie Marx es formuliert, die unerbitterliche Analyse des Bestehenden
nötig ist, andererseits sich das revolutionäre Gedankengut erhalten
und weiterentwickeln muß. Prinzipielle Kritik am Bestehenden pflegen
derzeit total wenige Menschen und es droht verloren zu gehen. Die
Auseinandersetzung mit Marx, Engels, Adorno und Co. empfinden wir als eine
absolute Notwendigkeit.
Grit: Kommen wir zur zweiten These, oder anders: Wir kommen jetzt zur
Politik der Antifa. Gesellschaftskritische Politik ist ein hölzernes
Eisen hatten wir gesagt. Diese These verdeutlicht einen Widerspruch.
Genau gesagt, will die Antifa mit den Mitteln der Gesellschaft, nämlich
der Politik, diese Gesellschaft abschaffen. Ihr Eingreifen in die Gesellschaft
ist immer an Einzelbeispiele und einzelne Widersprüche geknüpft.
Entweder man beschäftigt sich mal mit Nationalismus oder anderentags mit
etwas anderem. Die Antifa nimmt, indem sie Politik macht, am demokratischen
Geschäft teil, obwohl sie das von sich weist. Die Antifa betrachtet die
eigene Politik nicht als Partizipation an diesem demokratischem Geschäft,
welches letzten Endes systemerhaltend und nicht sprengend ist. Die Antifa
behauptet von sich, gesellschaftliche Wahrnehmbarkeit und Relevanz zu erlangen.
Da stellt sich die Frage, für wen die Antifa wahrnehmbar sein will und
für wen sie Politik macht? Was ist das Ziel?
Mit der Politik wird das in Anspruch genommen, was der Staat bietet: das Recht
auf Meinungsfreiheit und Teil der pluralistischen Gesellschaft zu sein. Damit
produziert und reproduziert die Antifa das, was abgeschafft gehört. Das
Handeln der Antifa ist ein ohnmächtiges Handeln. Was die Antifa sich aber
nicht eingestehen kann ist, daß es momentan gar keine Praxis zu einer
radikalen Gesellschaftskritik gibt. Die Antifas sind Ideologen, weil sie die
Teilpraxen verabsolutieren, ohne das Ganze in den Blick zu bekommen und ohne
jenes Teil aus der Gesellschaft heraus erklären zu können.
Sie haben selbst ein instrumentelles Verhältnis zum eigenen Ziel. Die
befreite Menschheit ist nicht der Zweck, sondern letztenendes werden die
Menschen zu Mitteln.
Lutz: Die Antifa glaubt, durch das Thematisieren von Widersprüchen
in der Gesellschaft, über die jetzige Gesellschaft hinausweisen zu
können. Und sie glaubt, die politische Kraft zu sein, die
gesellschaftliche Änderungen ermöglichen kann und soll. Die Antifa
macht sich so selber zum revolutionären Subjekt, obwohl die Geschichte
gezeigt hat, daß es dieses revolutionäre Subjekt nicht gibt. Die
Arbeiter waren es nicht, die 68er-StudentInnen waren es nicht und die
Antifa wird es auch nicht sein.
Martin: Ich würde auf jeden Fall den Leuten von der Antifa einen
Ideologievorwurf im marxschen Sinne machen. Ideologie ist die
Verabsolutierung von Teilpraxen. Das passiert, wenn man behauptet, daß
man den Widerspruch gefunden hätte, den man so zuspitzen könne,
daß sich daran revolutionäre Politik entfalten könne.
Schon diesem Anliegen liegt ein falscher Begriff von Praxis zugrunde. Der eine
BGR-Referent meinte vorhin, daß sie vom BGR ein unverkrampftes
Verhältnis zur Praxis hätten, ja sogar Praxisfetischisten
wären.
Praxis heißt, die gesamte Gesellschaft zu erfassen. Das Bestehende, also
das gesamte Geschehen, ist die Praxis. Es gibt eine materielle Praxis und
daraus resultierende Bewußtseinsformen. Sich kritisch mit der
Gesellschaft auseinanderzusetzen, heißt demzufolge, Bezug auf ihre
Gesamtheit zu nehmen und sich kritisch auf die Gesellschaft als Ganzes zu
beziehen. Genau das passiert in der Antifa nicht. Deswegen richten wir den
Vorwurf an das BGR, gar kein Verhältnis zur Praxis zu haben.
Grit: Unsere dritte These: Die befreite Gesellschaft
läßt sich nicht herbeireformieren und -politisieren.
Es ist Unsinn zu glauben, daß eine gesellschaftliche Änderung durch
einzelne Teilpraxen zu ereichen ist. Stattdessen muß das Ganze in den
Blick genommen werden, was bei der Antifa eben nicht passiert. Bei den
verschiedenen Widersprüchen anzusetzen und deren Lösungen zum Ziel
der Praxis zu erklären, ist systemstabilisierend und nicht
Systemsprengend. Es weisen keine Widersprüche auf eine befreite
Gesellschaft hin.
Lutz: Der einzigste Widerspruch, der sich für uns ergibt, ist der
Widerspruch von dieser jetzigen Gesellschaft zu einer befreiten. Das Problem
der Antifa ist, daß sie nicht auf den Begriff einer gesellschaftlichen
Totalität rekurriert. Dadurch kann die Antifa nicht begreifen, daß
die Widersprüche, die sich ihr gesellschaftlich darstellen, sich nur in
diesem System abspielen und daher keine Widersprüche sind, die auf eine
Systemüberwindung hinzielen. Und dieses System gehört abgeschafft!
Unsere vierte These war: Wir erkennen an, daß eine Linderung des
Leidens von Menschen in der bestehenden Gesellschaft notwendig ist.
Wenn wir sagen, es gibt eine gesellschaftliche Totalität, die als Ganzes
abgeschafft gehört, kann uns der Vorwurf gemacht werden, wir würden
uns zurücklehnen und warten. Im Gegensatz dazu denken wir, daß es
notwendig ist, Leiden in dieser Welt aufzugreifen und Verbesserungen zu
erwirken. Bloß darf man sich mit solchem Wirken nicht einbilden, die
Gesellschaft in Frage zu stellen.
Wir wissen, daß die Linderung von Leiden auf dieser Welt wichtig ist.
Aber wir wissen auch, daß ein Eingreifen in diese gesellschaftsimmanenten
Widersprüche zugleich eine Reproduktion dieser Gesellschaft mit dem dann
verbesserten sozialem Verhältnis bedeutet.
Martin: Es wäre ein zynischer und nicht hinnehmbarer Standpunkt,
nichts gegen Leiden machen zu wollen. Fraglich ist, ob beispielsweise die
Antifa diejenige gesellschaftliche Kraft ist, die den Antifaschismus in dieser
Gesellschaft am besten thematisiert. Es gibt auch andere gesellschaftliche
Gruppen, die das Leiden, was durch die Angriffe von Faschisten entsteht,
lindern. Und es ist gut so, daß es die Antifa und andere Gruppen gibt,
die sich antifaschistisch engagieren.
Auch bei anderen Thematiken wie Sexismus ist es wichtig, sich für Reformen
einzusetzen. Aber diese Reformen ändern nichts an dem grundlegenden
patriarchalem Charakter dieser Gesellschaft. Auch hier gilt es, daß Ganze
abzuschaffen.
Unsere fünfte These lautete: Wir sind weder VertreterInnen
theoretisch noch praktisch arbeitender Gruppen. Also Arbeit ist
natürlich generell Scheiße. Darüber sind wir uns hoffentlich
alle einig.
Der aufgemachte Gegensatz zwischen Theorie und Praxis ist Ideologie. Das
Bewußtsein von Menschen ergibt sich historisch betrachtet aus einer
Notdurft. Am Anfang jeder Zivilisation mußten die Menschen gegenüber
der Natur bestehen. Sie mußten sich sozial organisieren, wie es
beispielsweise durch Sprache geschah. Dies ist der Beginn von Gesellschaft. Im
Zuge einer fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung wurde eine
Arbeitsteilung notwendig. So haben dann die einen gejagt, die anderen gefischt
und wieder andere gesammelt. Dieser Widerspruch spitzte sich im Laufe der
Geschichte zu. So kam es auch zu einer Trennung von körperlicher und
geistiger Arbeit und in deren Gefolge zur Bildung von Herrschafts- und
Knechtschaftsstrukturen. Dieser Prozeß führte dazu, daß es in
der Gesellschaft zu der Herausformung einer Gruppe von Menschen kam, die die
Gesellschaft verwalteten. Das theoretische Denken wurde von dem materiellen
Leben der Menschen isoliert. Diese Trennung gehört wesentlich zum
Kapitalismus dazu. Diese Trennung gilt es aufzuheben. Die Theorie, die glaubt,
sich von Praxis lösen zu können, ist Spinnerei. Theoretisches Denken
bildet sich immer aus einer materiellen Praxis heraus. Da derzeit nicht die
Entwicklung eines revolutionären Subjekts abzusehen ist und die gegebene
Praxis eine rein kapitalistische ist, in der sich keine konkreten Alternativen
aufzeigen, macht es wiederum notwendig, auf Kritik zu bestehen.
Wurmend für uns ist die derzeitige Ausweglosigkeit. Es zeigt sich keine
revolutionäre Perspektive. Diese Einsicht ist eine sehr traurige
Angelegenheit. Wir halten es aber für falsch, diesen Pessimismus zu
übertünchen. Wer heute Widersprüche erkennt, die eine
revolutionäre Sprengkraft enthalten, fabuliert. Das ist Revolutionskitsch,
der zum Beispiel kennzeichnend für manche Antifademonstrationen ist. Die
Symbolik dort soll ausdrücken, daß man die revolutionäre Kraft
sei. Diese Verblendung resultiert aus der bestehenden Gesellschaft und ist
höchst kritisierenswert. Die andere Gefahr von dieser Praxisfixiertheit
besteht im Mitmachen. Uns geht es um einen prinzipiell anderen Weg. Ein
Ansatzpunkt innerhalb dieser Ausweglosigkeit ist, daß man den Leuten
versucht klar zu machen, was für ein irrsinniges Teil diese
kapitalistische Gesellschaft ist.
Grit: Unsere sechste These lautet: Kritik ist das Begreifen, wie
wir selbst geworden sind, wie wir sind und was das mit der Gesellschaft zu tun
hat, in der wir leben. Die Auffassung dessen, was für uns Kritik
ist, unterscheidet uns wesentlich von den BGRlern.
Erstens ist es wichtig zu begreifen, daß diese Gesellschaft nicht
für Menschen gemacht ist. Außerdem kann man nicht außerhalb
dieser Gesellschaft stehen, sondern man ist Teil von diesem ganzen Unwesen. Es
geht also darum, zu begreifen, was dieses Ganze ist, was ich von dieser
Gesellschaft in mir trage und wie ich funktioniere. Kritik ist nie positiv, da
wir nicht konstruktiv sein wollen. Wir glauben nicht an die kleinen Schritte
zur Revolution. Diese Tippel-Tappel-Tour zaubert keine befreite Gesellschaft
hervor. Die Gesellschaft als vollkommen Unwahre zu begreifen ist für uns
der Pessimismus in der Theorie. Gleichzeitig sagen wir, daß man einen
unendlichen Optimismus im Leben an den Tag legen soll, weil es falsch
wäre, an dieser Gesellschaft zu zerbrechen.
Lutz: Ein gutes Beispiel für die Politik der Antifa ist, nicht klar
zu kriegen, daß sie jetzt nach dem Antifa-Sommer daß Monopol auf
den Begriff des Antifaschismus verloren hat. Dabei ist diese
Identitätskrise doch dem verschuldet, jahrelang positive Forderungen an
den Staat zu stellen, die jetzt auf einmal in Erfüllung gegangen sind.
Die siebte These lautet: Praxis, daß ist die Gesamtheit der
bestehenden Verhältnisse, die Einheit der Gesellschaft und der Ideologie,
die daraus entsteht. Sie ist letztendlich das, wozu wir kritisch stehen. Diese
Gesellschaft ist verrückt.
Die gesellschaftliche Praxis ist nicht für Menschen gemacht, sondern ihr
Zweck ist die Verwertung von Kapital. Das Kapital hat sich zum automatischen
Subjekt entwickelt. Aus dieser materiellen Praxis resultieren bestimmte
Bewußseinsformen. Wenn die Menschen auf die Gesellschaft, wie sie ihnen
erscheint, zugreifen, produzieren sie Ideologie. Durch diesen bloßen
Zugriff auf die Erscheinungen, können Menschen die Gesellschaft nicht als
die erfassen, die sie ist. Es geht vielmehr darum herauszufinden, was die
Gesellschaft zusammenhält, wie sich Menschen zueinander beziehen und was
Menschen sich so zueinander beziehen läßt.
Beispielsweise muß einem klar werden, warum man diese Gesellschaft als
patriarchale kritisieren muß, warum Antisemitismus weltweit und in
Deutschland im besonderen Maße an der Tagesordnung ist. Man muß
begreifen, wie Denk- und Herrschaftsformen aus dieser kapitalistischen Praxis
entspringen. Und der Schluß daraus, die einzigst gängige Praxis, die
daraus erfolgt, ist, diese Gesellschaft abschaffen zu wollen. Kritik ist,
daß in Begriffe zu schaffen, was abzuschaffen wäre.
Unsere achte These ist dann: Das Ziel von uns ist, nicht im Getriebe zu
versanden, sich selbst die Möglichkeit geben, nicht mit zu machen.
Besinnung, Reflexion, Genuß, statt im Plenum zu versauern.
Eine Gruppe, die Politik macht, läuft Gefahr, selber Maschine oder Fabrik
zu werden. Selbst die Antifa stellt das Machen und Produzieren in den
Vordergrund. Dabei gehen die einzelnen Menschen unter. Wir hingegen versuchen,
uns das Recht herauszunehmen, uns diesem rastlosen Tun entgegenzustellen, indem
wir es in Frage stellen.
Martin: Jetzt kommen wir zur neunten und letzten These: Agitation,
Anstiftung zum Denken, zum Lesen, sich die Gesellschaft bewußt
machen. Diese Frage ist eine Antwort auf die Frage, was wir denn machen
wollen.
Ich möchte Leo Löwental zitieren: Wir haben nicht die Praxis
verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen. Dieser Satz stammt aus
der Zeit des Scheiterns der Novemberrevolution 1918/19.
Für uns ist es absolut entscheidend, nicht mitzumachen, den Leuten
bewußt zu machen, was für ein Mist diese Gesellschaft ist. Wir
wollen agitieren. Diesen Begriff grenzen wir bewußt von dem Begriff der
Propaganda ab. Propaganda ist eine üble Sache. Propaganda ist manipulieren
von Menschen. Ich lese dazu mal etwas aus der Dialektik der
Aufklärung von Horkheimer/Adorno vor: Propaganda für eine
Änderung der Welt, welch ein Unsinn. Propaganda macht aus der Sprache ein
Instrument, einen Hebel, eine Maschine. Propaganda fixiert die Verfassung der
Menschen, wie sie unter gesellschaftlichem Unrecht geworden sind, indem sie sie
in Bewegung (Das Wort Bewegung ist hier wichtig: es gab in Deutschland sehr
scheußliche Dinge, die sich Bewegung nannten) bringt. Sie
rechnet damit, daß man mit ihnen rechnen kann. Im tiefsten weiß
jeder, daß er durch das Mittel zum Mittel wird... Also wir wollen
die Leute anregen, sich kritisch mit dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen,
sich mit revolutionären Ansätzen zu beschäftigen und sich selber
innerhalb dieser Gesellschaft zu verstehen. Am Ende soll immer das
Nichtmitmachen stehen.
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