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Dokumentation des Referats, welches von VertreterInnen der Gruppe „la fin du cercle“ (das Ende des Kreises) auf der Veranstaltung „Kritik oder Politik“ am 3. März 2001 in der Braustraße gehalten wurde.

Kritik ist großartig, alles andere ist Quark

Grit: Wir haben uns gefragt, als wir zu dieser Veranstaltung „Kritik oder Politik“ eingeladen wurden, warum wir hier referieren sollen. Der kurze Text auf dem Veranstaltungsflyer erfaßt das Problem unserer Meinung nach nicht. Aber der Text drückt ziemlich gut aus, was für die Antifa das Problem ist bzw. werden wird. Ich zitiere: „Benötigt es einer perfekten Theorie bevor praktische Politik angegangen werden kann? Ist praktische Politik derzeit immer nur Reformismus und trägt damit zur Verbesserung des bestehenden herrschenden kapitalistischen Systems bei? Es diskutieren VertreterInnen aus praktisch und theoretisch arbeitenden Gruppen.“
Klar ist, daß wir hier auf jeden Fall eine kritische Position vertreten werden, aber aus unterschiedlichen Gründen, die wir anfangs kurz trennen werden. Zuerst zu mir. Meine politische Heimat war das BGR und ist es jetzt nicht mehr. Ein wichtiger Grund für mich, dort nicht mehr zu sein, ist daß dort zwar Auseinandersetzungen gelaufen sind, die gut und wichtig waren. Für mich entscheidende Diskussionen wurden aber nicht geführt. Beispielsweise hat das BGR zwar einen linksradikalen Anspruch, kann diesen meines Erachtens aber nicht verwirklichen.

Lutz: Ich komme ursprünglich auch aus dem BGR und bin zeitgleich mit Grit ausgetreten. Der Grund, dort herauszugehen war ebenfalls, daß das BGR den Anspruch linksradikaler Politik, den Anspruch der gesamtgesellschaftlichen Emanzipation, durch das eigene Vorgehen verwirkt.

Martin: Ich war ehemals lange Zeit in der PDS aktiv, habe also auch meine Erfahrungen im konkreten Machen von Politik. Ich hab mich von diesem Spektrum getrennt, als ich mich mit radikaler Staats-, Arbeits- und Politikkritik beschäftigt habe. Wichtig war die Auseinandersetzung mit kommunistischen Ideen – zu denen ich mich auch heute bekenne. Mit „Kommunismus“ meine ich dabei nicht jenen doktrinären Staats- und Parteikommunismus, sondern einen antiautoritären, sozusagen „linken“ bzw. anarchistischen Kommunismus.
Mit der Einsicht, daß mit Reformismus, egal ob im Parlament oder durch Demonstrationen, nicht viel zu erreichen ist, vertrete ich den Standpunkt der absoluten Negation des Bestehenden.

Lutz: Unser Referat ist in neun Thesen gegliedert (Grit: Die schlagen wir dann noch an die Tür), die dann jeweils erörtert werden. Ausgangspunkt unseres Standpunktes ist, daß die Gesellschaft, wie wir sie vorfinden, das Ganze in ihrem Wesen und ihrer Erscheinungsform für uns das Unwahre, das Falsche ist, daß zu bekämpfen ist, weil diese Gesellschaft im Gegensatz zu unserem Ziel einer glücklichen Menschheit steht. Zu den neun Thesen.

1. Wir wollen keine perfekte Theorie, weil diese schlechthin nicht möglich ist.
2. Gesellschaftskritische Politik ist ein hölzernes Eisen.
3. Die befreite Gesellschaft läßt sich nicht herbeireformieren und -politisieren.
4. Wir erkennen an, daß eine Linderung des Leidens von Menschen in der bestehenden Gesellschaft notwendig ist.
5. Wir sind weder VertreterInnen theoretisch noch praktisch arbeitender Gruppen.
6. Kritik ist das Begreifen, wie wir selbst geworden sind, wie wir sind und was das mit der Gesellschaft zu tun hat, in der wir leben.
7. Praxis ist die Gesamtheit der bestehenden Verhältnisse, die Einheit der Gesellschaft und der Ideologie, die daraus entsteht. Sie ist letztendlich das, wozu wir kritisch stehen. Diese Gesellschaft ist verrückt.
8. Das Ziel von uns ist, nicht im Getriebe zu versanden, sich selbst die Möglichkeit zu geben, nicht mitzumachen. Besinnung, Reflexion, Genuß, statt im Plenum zu versauern.
9. Agitation, Anstiftung zum Denken, zum Lesen, sich die Gesellschaft bewußt machen.

Martin: Unser Ansatz konzentriert sich auf einen Satz von Leo Löwental, einem Denker der Kritischen Theorie. (Im Umfeld der kritischen Theorie wurde in den 20er und 30er Jahren versucht, marxistische Ideen unabhängig von der Parteidoktrin von SPD und KPD zu entwickeln.)
Er sagt in einem Interview: „Ich erinnere mich, oft in intellektuellen und persönlichen Gesprächen den Vorwurf gehört zu haben, daß man doch nicht immer kritisch sondern auch mal konstruktiv sein müsse. Wir aber (er bezieht sich auf die kritische Theorie) waren immer das Skandalon, der Störenfried. Du kennst den Spruch von Kästner, der die unerträgliche Dummheit aufspießt. Herr Kästner, wo bleibt das Positive? Genau das Negative war aber das Positive, dieses Bewußtsein des Nichtmitmachens, des Verweigerns. Die unerbittliche Analyse des Bestehenden, soweit wir jeweils dafür kompetent waren, das ist eigentlich das Wesen der Kritischen Theorie.“ Das ist eine grundlegende These kritischen Denkens, wie wir sie vorhaben.
Jetzt werden wir die Thesen genauer erläutern.
1. Wir wollen keine perfekte Theorie, weil diese schlechthin nicht möglich ist.
Wir denken, daß für Einzelbereiche der Gesellschaft eine perfekte Theorie möglich sein kann. Wenn man nämlich mitgestalten will, dann kann man auch eine perfekte Theorie entwickeln. Das Autofahren mag sich beispielsweise in Theorie und Praxis einteilen lassen. Man mag auch Theorien formulieren können, wie man am besten angelt. In solchen Bereichen ist perfekte Theorie möglich.
Aber sobald die gesamte Gesellschaft unser Gegenstand wird – und zwar in emanzipatorischer und kritischer Absicht, wir die gesamte Gesellschaft kritisieren wollen und sie überwinden wollen, also etwas ganz anderes wollen, nämlich den Kommunismus, eine Gesellschaft die aus dem jetzt bestehenden überhaupt nicht zu denken ist, dann kann es keine perfekte Theorie geben. Also so wie Adorno sagte, daß kein richtiges Leben im falschen möglich sein kann, ist natürlich auch im Bestehenden keine richtige Theorie möglich. Deswegen ist das Streben nach einer perfekten Theorie Blödsinn. Der theoretische Blick ist beispielsweise der Blick des Ingenieurs, des Managers, des Sozialtechnikers, eines Menschen also, der sich dafür entschieden hat, das System am Laufen zu halten, also mitmachen möchte. Dazu ist Theorie da. Wir wenden uns ganz klar gegen Theorie und stellen die radikale Kritik dagegen.
Wir denken, daß aus dem Bestehenden heraus derzeit keine revolutionäre Praxis entwickelt werden kann. Es gibt kein revolutionäres Subjekt, was oftmals fabuliert wurde. Es müßte als kritische Aufhebungsbewegung eben erst sich herausbilden. Im 19. Jahrhundert meinten Sozialdemokraten, es sei die ArbeiterInnenbewegung. Man meinte, es gäbe prinzipielle Widersprüche, die man überall in der Gesellschaft aufspüren müßte und es gäbe Leute, die prinzipiell (aus ihrer wirtschaftlichen Lage heraus) gegen das Bestehende sein müßten. Spätestens mit der Entstehung von Arbeiterstaaten („Volksdemokratien“ wie DDR, Sowjetunion, VR China), die dann letztendlich Modernisierungsdiktaturen wurden, hat sich das dann erledigt. Auch in ihnen zählte ökonomische Entwicklung alles, während die Bedürfnisse der Menschen unwichtig waren, wie es in jeder wertvermittelten Gesellschaft der Fall ist. Später begann man andere revolutionäre Subjekte zu „erfinden“, wie die Autonomen oder Gruppen von Menschen, die am sozialen Rand dieser Gesellschaft existieren. Dies alles erwies sich als Trugschluß.
Deshalb beharren wir auf der prinzipiellen Kritik des Bestehenden, weil einerseits, wie Marx es formuliert, die unerbitterliche Analyse des Bestehenden nötig ist, andererseits sich das revolutionäre Gedankengut erhalten und weiterentwickeln muß. Prinzipielle Kritik am Bestehenden pflegen derzeit total wenige Menschen und es droht verloren zu gehen. Die Auseinandersetzung mit Marx, Engels, Adorno und Co. empfinden wir als eine absolute Notwendigkeit.

Grit: Kommen wir zur zweiten These, oder anders: Wir kommen jetzt zur Politik der Antifa. ‘Gesellschaftskritische Politik ist ein hölzernes Eisen’ hatten wir gesagt. Diese These verdeutlicht einen Widerspruch. Genau gesagt, will die Antifa mit den Mitteln der Gesellschaft, nämlich der Politik, diese Gesellschaft abschaffen. Ihr Eingreifen in die Gesellschaft ist immer an Einzelbeispiele und einzelne Widersprüche geknüpft. Entweder man beschäftigt sich mal mit Nationalismus oder anderentags mit etwas anderem. Die Antifa nimmt, indem sie Politik macht, am demokratischen Geschäft teil, obwohl sie das von sich weist. Die Antifa betrachtet die eigene Politik nicht als Partizipation an diesem demokratischem Geschäft, welches letzten Endes systemerhaltend und nicht sprengend ist. Die Antifa behauptet von sich, gesellschaftliche Wahrnehmbarkeit und Relevanz zu erlangen. Da stellt sich die Frage, für wen die Antifa wahrnehmbar sein will und für wen sie Politik macht? Was ist das Ziel?
Mit der Politik wird das in Anspruch genommen, was der Staat bietet: das Recht auf Meinungsfreiheit und Teil der pluralistischen Gesellschaft zu sein. Damit produziert und reproduziert die Antifa das, was abgeschafft gehört. Das Handeln der Antifa ist ein ohnmächtiges Handeln. Was die Antifa sich aber nicht eingestehen kann ist, daß es momentan gar keine Praxis zu einer radikalen Gesellschaftskritik gibt. Die Antifas sind Ideologen, weil sie die Teilpraxen verabsolutieren, ohne das Ganze in den Blick zu bekommen und ohne jenes Teil aus der Gesellschaft heraus erklären zu können.
Sie haben selbst ein instrumentelles Verhältnis zum eigenen Ziel. Die befreite Menschheit ist nicht der Zweck, sondern letztenendes werden die Menschen zu Mitteln.

Lutz: Die Antifa glaubt, durch das Thematisieren von Widersprüchen in der Gesellschaft, über die jetzige Gesellschaft hinausweisen zu können. Und sie glaubt, die politische Kraft zu sein, die gesellschaftliche Änderungen ermöglichen kann und soll. Die Antifa macht sich so selber zum revolutionären Subjekt, obwohl die Geschichte gezeigt hat, daß es dieses revolutionäre Subjekt nicht gibt. Die Arbeiter waren es nicht, die 68’er-StudentInnen waren es nicht und die Antifa wird es auch nicht sein.

Martin: Ich würde auf jeden Fall den Leuten von der Antifa einen Ideologievorwurf im marx’schen Sinne machen. Ideologie ist die Verabsolutierung von Teilpraxen. Das passiert, wenn man behauptet, daß man den Widerspruch gefunden hätte, den man so zuspitzen könne, daß sich daran revolutionäre Politik entfalten könne.
Schon diesem Anliegen liegt ein falscher Begriff von Praxis zugrunde. Der eine BGR-Referent meinte vorhin, daß sie vom BGR ein unverkrampftes Verhältnis zur Praxis hätten, ja sogar Praxisfetischisten wären.
Praxis heißt, die gesamte Gesellschaft zu erfassen. Das Bestehende, also das gesamte Geschehen, ist die Praxis. Es gibt eine materielle Praxis und daraus resultierende Bewußtseinsformen. Sich kritisch mit der Gesellschaft auseinanderzusetzen, heißt demzufolge, Bezug auf ihre Gesamtheit zu nehmen und sich kritisch auf die Gesellschaft als Ganzes zu beziehen. Genau das passiert in der Antifa nicht. Deswegen richten wir den Vorwurf an das BGR, gar kein Verhältnis zur Praxis zu haben.

Grit: Unsere dritte These: ‘Die befreite Gesellschaft läßt sich nicht herbeireformieren und -politisieren.’
Es ist Unsinn zu glauben, daß eine gesellschaftliche Änderung durch einzelne Teilpraxen zu ereichen ist. Stattdessen muß das Ganze in den Blick genommen werden, was bei der Antifa eben nicht passiert. Bei den verschiedenen Widersprüchen anzusetzen und deren Lösungen zum Ziel der Praxis zu erklären, ist systemstabilisierend und nicht Systemsprengend. Es weisen keine Widersprüche auf eine befreite Gesellschaft hin.

Lutz: Der einzigste Widerspruch, der sich für uns ergibt, ist der Widerspruch von dieser jetzigen Gesellschaft zu einer befreiten. Das Problem der Antifa ist, daß sie nicht auf den Begriff einer gesellschaftlichen Totalität rekurriert. Dadurch kann die Antifa nicht begreifen, daß die Widersprüche, die sich ihr gesellschaftlich darstellen, sich nur in diesem System abspielen und daher keine Widersprüche sind, die auf eine Systemüberwindung hinzielen. Und dieses System gehört abgeschafft!
Unsere vierte These war: ‘Wir erkennen an, daß eine Linderung des Leidens von Menschen in der bestehenden Gesellschaft notwendig ist.’
Wenn wir sagen, es gibt eine gesellschaftliche Totalität, die als Ganzes abgeschafft gehört, kann uns der Vorwurf gemacht werden, wir würden uns zurücklehnen und warten. Im Gegensatz dazu denken wir, daß es notwendig ist, Leiden in dieser Welt aufzugreifen und Verbesserungen zu erwirken. Bloß darf man sich mit solchem Wirken nicht einbilden, die Gesellschaft in Frage zu stellen.
Wir wissen, daß die Linderung von Leiden auf dieser Welt wichtig ist. Aber wir wissen auch, daß ein Eingreifen in diese gesellschaftsimmanenten Widersprüche zugleich eine Reproduktion dieser Gesellschaft mit dem dann verbesserten sozialem Verhältnis bedeutet.

Martin: Es wäre ein zynischer und nicht hinnehmbarer Standpunkt, nichts gegen Leiden machen zu wollen. Fraglich ist, ob beispielsweise die Antifa diejenige gesellschaftliche Kraft ist, die den Antifaschismus in dieser Gesellschaft am besten thematisiert. Es gibt auch andere gesellschaftliche Gruppen, die das Leiden, was durch die Angriffe von Faschisten entsteht, lindern. Und es ist gut so, daß es die Antifa und andere Gruppen gibt, die sich antifaschistisch engagieren.
Auch bei anderen Thematiken wie Sexismus ist es wichtig, sich für Reformen einzusetzen. Aber diese Reformen ändern nichts an dem grundlegenden patriarchalem Charakter dieser Gesellschaft. Auch hier gilt es, daß Ganze abzuschaffen.
Unsere fünfte These lautete: ‘Wir sind weder VertreterInnen theoretisch noch praktisch arbeitender Gruppen.’ Also Arbeit ist natürlich generell Scheiße. Darüber sind wir uns hoffentlich alle einig.
Der aufgemachte Gegensatz zwischen Theorie und Praxis ist Ideologie. Das Bewußtsein von Menschen ergibt sich historisch betrachtet aus einer Notdurft. Am Anfang jeder Zivilisation mußten die Menschen gegenüber der Natur bestehen. Sie mußten sich sozial organisieren, wie es beispielsweise durch Sprache geschah. Dies ist der Beginn von Gesellschaft. Im Zuge einer fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung wurde eine Arbeitsteilung notwendig. So haben dann die einen gejagt, die anderen gefischt und wieder andere gesammelt. Dieser Widerspruch spitzte sich im Laufe der Geschichte zu. So kam es auch zu einer Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit und in deren Gefolge zur Bildung von Herrschafts- und Knechtschaftsstrukturen. Dieser Prozeß führte dazu, daß es in der Gesellschaft zu der Herausformung einer Gruppe von Menschen kam, die die Gesellschaft verwalteten. Das theoretische Denken wurde von dem materiellen Leben der Menschen isoliert. Diese Trennung gehört wesentlich zum Kapitalismus dazu. Diese Trennung gilt es aufzuheben. Die Theorie, die glaubt, sich von Praxis lösen zu können, ist Spinnerei. Theoretisches Denken bildet sich immer aus einer materiellen Praxis heraus. Da derzeit nicht die Entwicklung eines revolutionären Subjekts abzusehen ist und die gegebene Praxis eine rein kapitalistische ist, in der sich keine konkreten Alternativen aufzeigen, macht es wiederum notwendig, auf Kritik zu bestehen.
Wurmend für uns ist die derzeitige Ausweglosigkeit. Es zeigt sich keine revolutionäre Perspektive. Diese Einsicht ist eine sehr traurige Angelegenheit. Wir halten es aber für falsch, diesen Pessimismus zu übertünchen. Wer heute Widersprüche erkennt, die eine revolutionäre Sprengkraft enthalten, fabuliert. Das ist Revolutionskitsch, der zum Beispiel kennzeichnend für manche Antifademonstrationen ist. Die Symbolik dort soll ausdrücken, daß man die revolutionäre Kraft sei. Diese Verblendung resultiert aus der bestehenden Gesellschaft und ist höchst kritisierenswert. Die andere Gefahr von dieser Praxisfixiertheit besteht im Mitmachen. Uns geht es um einen prinzipiell anderen Weg. Ein Ansatzpunkt innerhalb dieser Ausweglosigkeit ist, daß man den Leuten versucht klar zu machen, was für ein irrsinniges Teil diese kapitalistische Gesellschaft ist.

Grit: Unsere sechste These lautet: ‘Kritik ist das Begreifen, wie wir selbst geworden sind, wie wir sind und was das mit der Gesellschaft zu tun hat, in der wir leben.’ Die Auffassung dessen, was für uns Kritik ist, unterscheidet uns wesentlich von den BGR’lern.
Erstens ist es wichtig zu begreifen, daß diese Gesellschaft nicht für Menschen gemacht ist. Außerdem kann man nicht außerhalb dieser Gesellschaft stehen, sondern man ist Teil von diesem ganzen Unwesen. Es geht also darum, zu begreifen, was dieses Ganze ist, was ich von dieser Gesellschaft in mir trage und wie ich funktioniere. Kritik ist nie positiv, da wir nicht konstruktiv sein wollen. Wir glauben nicht an die kleinen Schritte zur Revolution. Diese Tippel-Tappel-Tour zaubert keine befreite Gesellschaft hervor. Die Gesellschaft als vollkommen Unwahre zu begreifen ist für uns der Pessimismus in der Theorie. Gleichzeitig sagen wir, daß man einen unendlichen Optimismus im Leben an den Tag legen soll, weil es falsch wäre, an dieser Gesellschaft zu zerbrechen.

Lutz: Ein gutes Beispiel für die Politik der Antifa ist, nicht klar zu kriegen, daß sie jetzt nach dem Antifa-Sommer daß Monopol auf den Begriff des Antifaschismus verloren hat. Dabei ist diese Identitätskrise doch dem verschuldet, jahrelang positive Forderungen an den Staat zu stellen, die jetzt auf einmal in Erfüllung gegangen sind.
Die siebte These lautet: ‘Praxis, daß ist die Gesamtheit der bestehenden Verhältnisse, die Einheit der Gesellschaft und der Ideologie, die daraus entsteht. Sie ist letztendlich das, wozu wir kritisch stehen. Diese Gesellschaft ist verrückt.’
Die gesellschaftliche Praxis ist nicht für Menschen gemacht, sondern ihr Zweck ist die Verwertung von Kapital. Das Kapital hat sich zum automatischen Subjekt entwickelt. Aus dieser materiellen Praxis resultieren bestimmte Bewußseinsformen. Wenn die Menschen auf die Gesellschaft, wie sie ihnen erscheint, zugreifen, produzieren sie Ideologie. Durch diesen bloßen Zugriff auf die Erscheinungen, können Menschen die Gesellschaft nicht als die erfassen, die sie ist. Es geht vielmehr darum herauszufinden, was die Gesellschaft zusammenhält, wie sich Menschen zueinander beziehen und was Menschen sich so zueinander beziehen läßt.
Beispielsweise muß einem klar werden, warum man diese Gesellschaft als patriarchale kritisieren muß, warum Antisemitismus weltweit und in Deutschland im besonderen Maße an der Tagesordnung ist. Man muß begreifen, wie Denk- und Herrschaftsformen aus dieser kapitalistischen Praxis entspringen. Und der Schluß daraus, die einzigst gängige Praxis, die daraus erfolgt, ist, diese Gesellschaft abschaffen zu wollen. Kritik ist, daß in Begriffe zu schaffen, was abzuschaffen wäre.
Unsere achte These ist dann: ‘Das Ziel von uns ist, nicht im Getriebe zu versanden, sich selbst die Möglichkeit geben, nicht mit zu machen. Besinnung, Reflexion, Genuß, statt im Plenum zu versauern.’
Eine Gruppe, die Politik macht, läuft Gefahr, selber Maschine oder Fabrik zu werden. Selbst die Antifa stellt das Machen und Produzieren in den Vordergrund. Dabei gehen die einzelnen Menschen unter. Wir hingegen versuchen, uns das Recht herauszunehmen, uns diesem rastlosen Tun entgegenzustellen, indem wir es in Frage stellen.

Martin: Jetzt kommen wir zur neunten und letzten These: ‘Agitation, Anstiftung zum Denken, zum Lesen, sich die Gesellschaft bewußt machen.’ Diese Frage ist eine Antwort auf die Frage, was wir denn machen wollen.
Ich möchte Leo Löwental zitieren: „Wir haben nicht die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen.“ Dieser Satz stammt aus der Zeit des Scheiterns der Novemberrevolution 1918/19.
Für uns ist es absolut entscheidend, nicht mitzumachen, den Leuten bewußt zu machen, was für ein Mist diese Gesellschaft ist. Wir wollen agitieren. Diesen Begriff grenzen wir bewußt von dem Begriff der Propaganda ab. Propaganda ist eine üble Sache. Propaganda ist manipulieren von Menschen. Ich lese dazu mal etwas aus der ‘Dialektik der Aufklärung’ von Horkheimer/Adorno vor: „Propaganda für eine Änderung der Welt, welch ein Unsinn. Propaganda macht aus der Sprache ein Instrument, einen Hebel, eine Maschine. Propaganda fixiert die Verfassung der Menschen, wie sie unter gesellschaftlichem Unrecht geworden sind, indem sie sie in Bewegung (Das Wort Bewegung ist hier wichtig: es gab in Deutschland sehr scheußliche Dinge, die sich „Bewegung“ nannten) bringt. Sie rechnet damit, daß man mit ihnen rechnen kann. Im tiefsten weiß jeder, daß er durch das Mittel zum Mittel wird...“ Also wir wollen die Leute anregen, sich kritisch mit dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen, sich mit revolutionären Ansätzen zu beschäftigen und sich selber innerhalb dieser Gesellschaft zu verstehen. Am Ende soll immer das Nichtmitmachen stehen.



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last modified: 28.3.2007