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Was ist Kritik der Politik?


Warum weder Politik als Kritik noch Kritik als Politik möglich ist
von Sören Pünjer


Was drückt es aus, wenn jemand ein Transparent hält? Was drückt es aus, wenn jemand Flugblätter verteilt? Was drückt es aus, wenn Leute sich versammeln, um gemeinsam Protest zu organisieren?
Nun, an sich nichts, außer, daß dort etwas stattfindet, von dem man sich, um es zu erkennen und zu begreifen, einen Begriff machen muß. Und daß man als Sache identifizieren muß, um es als Gedanke von etwas unter das bereits Gedachte zu subsumieren, ohne es mit der Sache identisch setzen zu können. Dadurch entsteht Erkenntnis. Denn Identifzieren heißt nicht nur Identifikation durch Mimesis, sondern zugleich Reflektieren in der Form des begrifflichen Gedankens auf Gedachtes. Die Substanz des Denkens ist nicht der Inhalt schlechthin. Denn dieser Inhalt braucht den Naturstoff als Substrat - also die stoffliche Natur Mensch und dessen natürliche Befähigung zur sinnlichen Wahrnehmung. Der Geist verleiht der besonderen Natur des Menschen Ausdruck. Er ist also mehr als Natur und weniger als Nicht-Natur. Er ist die spezielle Vermittlungsinstanz zwischen Innen- und Außenwelt des Individuums Mensch, ohne selbst das vermittelnde Dritte zu sein. Und dennoch ist Geist nicht nur Form des Denkens, sondern auch seine eigene Substanz. Der Begriff ist die Gestaltwerdung dieser durch äußeren Einfluß auf die innere Natur. Das Denken in Bildern, ohne das es nicht geht, ist die synthetisierte Gestaltwerdung von innerer und äußerer Natur als Erkenntnis. Erkenntnis aber ist nicht das Erkennen der Sache, sondern das sachliche Erkennen von etwas.
Denken ist nicht gesellschaftlich, doch ohne gesellschaftliche Form nicht denkbar. Es ist nicht mehr als Natur und doch die so entscheidende Reflexion auf sie. Denken heißt stoffliches Formen. Es ist denken von Materie in der Form des Begriffs, nicht mehr und nicht weniger als geformter Stoff, dem die Reflexion eigen ist.(1)
Sich von der Sache einen Begriff zu machen, ist keine Kann-Bestimmung, sondern Notwendigkeit. Die Reflexion darauf, eine Sache nicht denken zu wollen, beruht ebenso auf der Identifikation mit der identifizierten Sache. Demzufolge fußt Ablehnung von sachlichem Denken ebenso auf Identifikation mit der Sache wie die Apologie. Daraus nur kann objektiv die kritische Denkform entspringen. Denn Negation ist Einlassung auf den Gegenstand der Negation. Sie ist also letztlich immer Negation der Negation: Verweigerung dessen, was man als zu verweigerndes bereits erkannt hat.

Kritik

Kritik kann diese Dialektik nicht durchbrechen, sondern nur darauf reflektieren. Demzufolge ist Kritik die besondere Form geistiger Reflektion. Sie ist also keineswegs das ganz Andere, sondern das sachlich an die Objektivität gebundene. Was also der Sache Zwang antut, tut es zugleich dem Denken von der Sache. Denn das Denken ist nicht pur, sondern steht in direkter Abhängigkeit von der Sache. Der Begriff ist also objektiv subsumiert unter den Gegenstand, den man denkt. So kommt nicht etwa dem Begriff das Primat zu, sondern umgedreht, die Sache hat das Primat. Dieser Vorrang des Objekts ist zugleich Ausdruck der objektiven Subsumtionslogik des Begriffes unter die Sache.
Kritik ist der Versuch der Reflexion darauf, wie sehr dem Begriff durch Zurichtung Gewalt angetan wurde. Dafür darf man den Begriff nicht dekonstruieren, sondern muß ihn in seiner objektiven Geltung in den Verhältnissen für die er steht, bestimmen: man muß vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigen - von der allgemeinen gesellschaftlich-kategorialen Bedeutung zur konkreten Wirklichkeit, für die er steht. Es geht bei Kritik nicht um Kritik von Begriffen, sondern um das, wofür sie stehen und warum sie das tun. Eine intendierte Kritik, der es nur um Begriffe geht, ist nichts als Idealismus, weil sie dem Begriff den Vorrang gegenüber der Sache einräumt. Dialektisch-materialistische Kritik dagegen zielt auf die Formbestimmung des Begriffes, also auf die Erkenntnis über die Relation von Form und Inhalt, von Sache und Begriff. Sie fragt nicht nach dem Wesensgehalt des Begriffes, sondern nach dem Wesen des Verhältnisses von Begriff und Sache. Es geht ihr also weder ausschließlich um die Sache selbst, noch um die reine Begrifflichkeit von ihr. Sie fragt nicht nach der Eigentlichkeit - dem An sich, Für sich oder Für uns, sondern warum diese Dinge dafür gehalten werden und welche Notwendigkeit im Verhältnis von Subjekt und Objekt, also dem Erkennenden und dem Erkannten, besteht.
“Die Differenz von Begriff und Realität begründet die Möglichkeit der umwälzenden Praxis, nicht der bloße Begriff.”(2)
Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist weder ausschließlich statisch noch ausschließlich dynamisch. Es ist als Prozessieren unter dem Vorrang des Objekts zu fassen. Das heißt als eine ständige wechselseitige Durchdringung von Objektivem und Subjektivem, von Form und Inhalt, von Akteur und Aktiviertem, von Handelndem und Behandeltem, Erkanntem und Erkennendem unter dem permanenten vermitteltendem Banne des bestehenden Ganzen.
Erkenntnis ist immer nur die erfaßte Essenz von dem, was sie nicht erfaßt. Weil sich die Totalität der Wertvergesellschaftung mit sich identisch gibt, ist sie der falsche Zustand eines in sich geschlossenen Prozesses, der den Schein seiner geistigen Undurchdringbarkeit an die Subjekte vermittelt. Diese Abgeschlossenheit anzuerkennen, ohne sie zu skandalisieren wäre die freiwillige Unterwerfung unter einen gewaltförmigen Zustand, der sich als die einzigst wahre Natur der Dinge selbst verschleiert. Sich nicht von der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis abbringen zu lassen, solange man durch individuelle Bewußtwerdung und Aneignung die Wahrheit über den Zwangscharakter der kapitalistischen Gesellschaft denken und aussprechen kann, ist nichts anderes als der Versuch, durch Kritik die Lüftung des objektiven Schleiers der Verdinglichung qua Tauschabstraktion aufrechtzuerhalten und emanzipatorisch voranzutreiben. Weil dieses Unterfangen sich an Bedingungen knüpft, ist es nicht bedingungslos zu leisten. Kritik ist so nicht voraussetzungslos, sondern setzt Bedingungen voraus, unter denen eine Kritik der Religion als Bedingung jeder Möglichkeit überhaupt objektiv leistbar ist.(3) Der Standpunkt der Kritik ist somit zugleich parteinehmenden Charakters gegenüber Verhältnissen, die die Bedingung der Möglichkeit von Kritik in sich bergen. Diese Parteilichkeit geht in den Standpunkt der Kritik ein, welcher nicht vorweg bezogen werden kann, sondern sich auf den Gegenstand der Kritik einzulassen hat, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der feste Standpunkt der Kritik ist die Notwendigkeit für konsequentes Bewußtsein von Nichtidentität des Begriffs mit dem Gegenstand. Eine negative Dialektik, die dem Bewußtsein von Nichtidentität verpflichtet sein soll, hat permanent darauf zu reflektieren, daß die sachliche Kritik nicht identisch sein kann mit der Sache der Kritik.
Ein Begriff gebährt sich nicht selbst und wird auch nicht durch einen anderen Begriff geboren. Das idealistische Primat des Begriffes drückt sich in dem Verständnis von Begriffen aus. Jenes sorgt dafür, daß die Begriffe mit dem Gegenstand identisch gedacht werden, anstatt sie durch dialektische Bestimmung von Sache und Begriff zueinander ins Verhältnis zu setzen. Das Primat des Begriffes als undialektische Maßgabe erzeugt notwendig die Beliebigkeit des Begriffs. Sie drückt sich insbesondere darin aus zu betonen, es ginge nicht um den formalen Begriff, sondern zuvorderst darum, was man darunter verstünde, weil es einem ja um Kritik des Inhaltes zu tun sei. Diese unmaterialistische Verdrehung objektiver Tatsachen ist der Grund dafür, daß man den Begriff mit dem Begriff auszuspielen gedenkt: ‘Wir machen die richtige Politik und die anderen die falsche'. So oder ähnlich drückt sich das formal aus.
Nicht was man selbst unter dem Begriff faßt, sondern was sich gesellschaftlich unter dem Begriff fassen läßt, darum und um nichts anderes dreht sich der Zweck von Kritik. Das heißt, diese objektive Formbestimmung ist keine Dekonstruktion von Begriffen, sondern gerade im Gegenteil ihr Geltenlassen. Im Gegensatz zu dialektischer Formbestimmung, also Darstellung als Kritik, ist Dekonstruktion völlig unkritisch. Denn sie zerpflückt den Begriff willkürlich wider seiner wirklichen objektiven Bedeutung, als ginge es um den Begriff und nicht um die Wahrheit über die Wirklichkeit, für die er steht. (4)
Der Begriff ist zwar immer Teil der Wirklichkeit, aber nicht identisch mit dem, was er seinem Wesen nach faßt. Begriffsbildung hat immer einen dem Begriff äußerlichen Grund, weil sie sich nicht selbst Zweck sein kann. Begriffe sind immer Begriffe von etwas. Und Kritik zielt auf die Bestimmung des Verhältnisses des Etwas vom Begriff und dem Begriff vom Etwas.(5)

Politik

Das Subjekt ist die gesellschaftliche Form des Individuums Mensch als Naturwesen. Somit ist der Subjektstatus zugleich die Loslösung von Naturverfallenheit und dennoch ihr als Individuum im Stoffwechsel verhaftet. Das Subjekt steht also für Loslösung von erster Natur. Die Subjektwerdung des Menschen als gleichzeitige Geschichte der Entstehung und Durchsetzung des Subjektbegriffs ist unmittelbar mit dem Beginn der gesellschaftlichen Auftrennung von geistiger und köperlicher Arbeit, von Kopf- und Handarbeit verbunden. Diese Auftrennung ist allerdings älter als das Abstraktum Geld. Vielmehr hat das Geld seine Vorgeschichte, ohne die nicht erklärt werden kann, warum das Geld als Verdinglichung der Tauschabstraktion in die Welt kam. Geld verkörpert nicht die Urszene der Auftrennung von geistiger und körperlicher Arbeit, sondern ist vergegenständlichte Beschleunigung des Vergesellschaftungsprozesses in neuer Qualtität. Geld ist Folge der Vergeistigung des Menschen, welche wiederum Bedingung des Tausches ist. Geld und Tausch sind also weder Ursache der Vergeistigung des Menschen noch fallen sie mit ihr zusammen. Vielmehr ist wohl die Unterwerfung der Urhorde unter das Totem durch den Vatermord als Ausgangspunkt dafür zu sehen, daß sich der Mensch zunehmends in die Lage versetzte und versetzt sah zu abstrahieren. An die Stelle des Vaters das Totemtier zu setzen, ist eine Abstraktionsleistung neuer Qualität. Auf ihr beruht die Menschengestaltwerdung der Gottheiten im Mythos.(6)
Daß der Begriff der Politik gemeinhin auf das griechische Wort “Polis” zurückzuführen ist, das für den antiken Stadtstaat stand, hat sein geschichtliches Kontinuum seit Platon in der Fragestellung vom Verhältnis der Politik gegenüber der Macht und der Moral, die sich seitdem ungebrochen ausschließlich an der Zwecksetzung der Staatsdienerei festmacht. In einer zaghaften aber doch entscheidenden Loslösung vom Mythos der Naturverfallenheit durch das Entstehen einer geistigen Rationalität des patriarchalen Logos - als “männliche” Reflexion auf “weibliche” Natur durch einen ersten Begriff von menschlicher Vernunft - gewann die Frage der moralischen Integrität des einzelnen Repräsentanten für die anderen Bürger der Polis dadurch an entscheidender Bedeutung, weil erstmals vermittels des Staates das Recht auf Gleichheit als Bürger in die Welt kam.(7) Dies um so mehr, als die Institutionalisierung der Politik zu jener Zeit unvorstellbar war und der einzelne Bürger sein moralisches Urteil über gerecht oder ungerecht, gut oder schlecht des einzelnen Repräsentanten der Polis relativ unvermittelt und direkt fällen konnte. In der Polis entwickelte sich also eine Art Urbild des Politikers, der noch nicht im modernen Sinn Repräsentant von etwas, sondern nur für etwas war - die Garantie einer natürlichen Ordnung, einer Ordnung von Natur aus.
Als ausschließlicher Ausdruck von Staat ist der Begriff der Politik unlösbar mit ihm und dem Recht auf Gleichheit seiner Bürger verbunden. Wenn auch in der Antike noch nicht mit einem im heutigen Sinne institutionalisierten Staat, so knüpft sich doch entscheidend die Entstehung der gesellschaftlichen Kategorien von Moral und Macht von Anbeginn an den Begriff der Politik, der im Verlaufe der Antike immer stärker vom Begriff der Gesellschaft abgekoppelt wird. Die grundsätzlich konstituierende Wesenseigenschaft von Politik läßt sich historisch nicht wegreden. In Folge der Durchsetzung von allgemeiner Moral und Macht mußte sich entsprechend auch die Bestimmung von richtiger und falscher Politik an den beiden Kategorien entlang entwickeln.
Daran änderte sich auch nichts an der Schwelle zum Mittelalter, als Politik zur Heilserwartung gegenüber dem Allmächtigen wurde und sich das politische Gemeinwesen im Zuge der christlichen Monotheisierung zur “civitas”, zum Gottesstaat, transformierte. Politik als ausschließlich Gott-gegebenes Mittel rechtfertigte sich dort allerdings nur noch als eines zur grundsätzlichen göttlichen Erlösung. Damit allerdings war die Verengung des Politik-Begriffes auf den ausschließlichen Willen Gottes zugleich die Voraussetzung zur späteren modernen Ausdehnung zur staatlichen Allerweltskategorie des Handelns innerhalb des staatlichen Gemeinwesens und so etwas wie die Begründung eines modernen Begriffes von Geschichte. Politik gilt seitdem als unmittelbares, mittelfristiges wie auch langfristiges Mittel der Bürger zur Durchsetzung ihrer jeweiligen staatlichen Interessen bzw. ihrer Interessen am Staat.
Die grundsätzliche Bindung der Bürger durch den Begriff des Politischen an den Staat ist das ungebrochene Charakteristikum der Politik. So ist Politik historisch zu bestimmen als Mittel zur Identifikation mit Herrschaft, als eine Art Fugenkitt von Herrschern zu Beherrschten, Beherrschten zu Herrschern, von Herr zu Knecht und von Knecht zu Herr.
Im 16., 17. und 18. Jahrhundert unternahm man nach und nach Versuche, den Staat empirisch und geschichtlich aus der Wirklichkeit menschlicher Erfahrung heraus zu legitimieren. Dabei bröckelte die Idee einer göttlichen Ordnung zusehends. Der Staatsbegriff wurde wie die Sinnenwelt wissenschaftlich entzaubert, so daß der Staat seitdem als menschliche Erfindung gilt. Der damit einhergehende Pragmatismus in der Bestimmung vernünftiger Sittlichkeit von staatlichem Zweck und Mittel fand sein Ende in der Diskussion um einen Gesellschaftsvertrag als eine allgemein-abstrakte Willensbekundung. Der berühmte Satz von Rosseau, daß der Mensch zwar frei geboren sei, doch überall zugleich in Ketten läge, verweist auf einen spezifischen Bruch mit einer naturgebundenen Ordnung durch eine allgemeine Willensübereinkunft. “Dieser Übergang vom Naturzustand in den staatsbürgerlichen Zustand bewirkt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Veränderung, indem im Verhalten desselben die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinktes gesetzt und seinen Handlungen die Sittlichkeit gegeben wird, die ihnen zuvor fehlte. Nun erst, da die Stimme der Pflicht an die Stelle des physischen Triebes tritt und das Recht an die Stelle der Begierde, sieht sich der Mensch gezwungen, nachdem er bislang nur auf sich selbst Rücksicht genommen, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu Rate zu ziehen, ehe er seinen Neigungen folgt (...).(8) Das Leben des einen und des anderen ist das gemeinschaftliche Ich des Ganzen, die gegenseitige Empfindlichkeit und die innere Übereinstimmung aller Teile. Hört diese Verbindung auf, verschwindet die formelle Einheit und hängen die zusammengehörigen Teile nur noch durch eine Nebeneinanderstellung zusammen, so ist der Mensch tot, oder der Staat ist aufgelöst.”(9)
Der Rosseausche Gesellschaftsvertrag beanspruchte tatsächlich den Bruch mit dem Recht des Stärkeren mittels Durchsetzung eines allgemeinen Gleichheitspostulats. Das heißt, im wohnte von der Idee tatsächlich die geschlechtliche Gleichstellung von Mann und Frau auf der Basis ihrer Trennung inne. Doch allein eingedenk der Tatsache, daß Rosseau die Gleichheit nur auf der Basis der patriarchalen Familie und des Naturrechtes zu denken vermochte, untergrub er seinen eigenen Anspruch. “Die Aufklärungskritik von Rosseau richtete sich auf jene Form der vernünftigen Naturerkenntnis, die sich in der Formulierung abstrakter Naturgesetze und ihrer technischen Anwendung erschöpfte. Mit seinen Vorstellungen über die Natur der Frau brachte er jedoch genau die gesellschaftlichen Voraussetzungen auf den Punkt, die zum Erfolg der instrumentellen Vernunft auf dem Gebiet der Biologie notwendig waren.”(10)
Kant war es, der mit seinem kategorischen Imperativ, daß moralisches Handeln sich daran bemessen müsse, daß man zugleich wollen kann, daß alle anderen wie man selbst handelten, den allgemeinen utopisch anmutenden Willen Rosseaus auf eine praktisch-sittliche Grundlage stellte. Sein Verständnis von Politik gründet auf dem Primat des Rechts: “Das Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepaßt werden.”(11)
Weil nur das vernünftig ist, was wirklich sei, und nur das wirklich, was vernünftig, erklärte Hegels Idealismus den Staat zur “Wirklichkeit der sittlichen Idee”: “Alles, was der Mensch ist, verdankt er dem Staat; er hat nur daran sein Wesen. Allen Wert, den der Mensch hat, alle geistige Wirklichkeit, hat er allein durch den Staat (...). Denn das Wahre ist die Einheit des allgemeinen und subjektiven Willens (...). Der Staat ist nicht das Abstrakte, das den Bürgern gegenübersteht; sondern sie sind Momente wie im organischen Leben, wo kein Glied Zweck, keines Mittel ist. Das Göttliche des Staates ist die Idee, wie sie auf Erden vorhanden ist.”(12)
Der Staat als Gottesbeweis soll die wirkliche Natur des Menschen sein. Gerade aber weil die bürgerliche Idee den Menschen zur rein abstrakten Kategorie erklärt, gehört die bürgerliche Idee der Kritik unterzogen. Sie setzt Natur mit Idee gleich und erklärt die Idee zur Natur. Nicht natürliche Individualität, sondern abstrakte Gleichheit wird so zum Maß aller Dinge. Der Mensch soll von Natur aus ein reines Abstraktum sein. So wird die natürliche Individualität unter den Teppich der bürgerlichen Gesellschaft gekehrt, auf dem die zu gleichen Staatsbürgern erklärten herumtrampeln. Die abstrakte Gleichheit ist in der bürgerlichen Gesellschaft zur materiellen Gewalt geworden. Sie, und nichts anderes mehr, ist die Folie für die wesentliche Ungleichheit. Und dennoch gilt: Nicht die Gleichheit an sich ist das Problem, sondern, warum es sie überhaupt gibt und was aus ihr folgt. Auf die allgemeine Zweckbestimmung von Gleichheit hat sich der Focus von Kritik zu richten. Nur so läßt sich eine Kritik des Gleichheitspostulats auf der Höhe der Zeit überhaupt realisieren, ohne hinter es zurückzufallen.
Die Aufklärung als der Tod Gottes und die Entzauberung der Welt ist zugleich die Geburtsstunde der modernen Politik.(13) In dieser drückt sich seitdem der verinnerlichte Zwang des Mitwirkens, Mitmachens aus, dem das Individuum als bürgerliches Subjekt unterworfen ist. Es hat sich zur Sehnsucht, zum Begehren geweitet. Der stumme Zwang der Verhältnisse wird sehnsüchtig begehrt, weil jene die Sicherheit geben, die man mit der Tötung Gottes durch die Aufklärung verlor. Die Identifikation des Individuums mit seiner zwangsweisen Existenzform als Subjekt ist die Gestalt gewordene Zugerichtetheit. Sie ist die Aufrichtung des Staates in der inneren Natur des Ich. Es ist die Subjektivierung des Objekts und die Objektivierung des Subjekts - die Verschmelzung zur Einheit. Der Bürger repräsentiert den Staat und ist ihm unterworfen. Aber nur weil er ihm unterworfen ist, kann er ihn überhaupt repräsentieren: Das ist der Doppelcharakter staatlichen Identitätszwanges. In ihm schlummert der Glaube an Gott als verdrängtes Etwas.
Politik ist Apologie des Bestehenden, nicht die Kritik. Sie verschafft sich nicht etwa Ausdruck im Verhältnis zu Macht und Gemeinwohl, sondern setzt die Affirmation beider voraus. Sie ist die Verkehrsform des Staates. Der Zweck der Politik ist die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung auf der Höhe der Wertvergesellschaftung - als Mittel zum Zweck des Staates. Das Politische drückt so objektiv den Willen zur Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung aus, nicht aber ihre Überwindung. Politik ist das Ringen um die richtige staatliche Form.
Ein Staat nötigt seinen Bürgern immer die politische Verkehrsform auf, die ihn nicht etwa gefährden, sondern an ihn binden. Politik ist dafür sinnstiftend. Sie konstituiert und reproduziert jenen Gemeinschaftsgeist, durch den der Staat seine Bürger an sich bindet und sich vor ihnen zugleich legitimieren kann.
Die Nation ist der kulturelle Ausdruck des Staates. Die Demokratie sein politischer. Ohne ihn gäbe es beide nicht. Politik ist das Bindemittel zwischen Demokratie und Kultur innerhalb des Nationalstaats. Sie ist also notwendig demokratisch und national. Sie bildet die gemeinsame Klammer von Opposition und Machthabern, welche als Einheit in der Gegensätzlichkeit zu betrachten sind: nur dort, wo politisch Macht, ist auch Opposition, die sich dergestalt affirmativ zur Macht verhält, in dem sie selbst nach ihr trachtet. Wo Macht ist, ist auch Gegenmacht, sonst verliert Machterhalt ihren Sinn. Insofern ist Politik als Machtgerangel, als binäres Ganzes von Pro und Contra zu fassen.
Das Soziale definiert sich darüber, wer potentiell das Recht auf sozialen Umgang für sich und andere beanspruchen kann. Es ist also nicht freischwebend, sondern Ausdruck rechtsförmiger Verhältnisse und Verkehrsweisen. Das Soziale liegt dem Politischen zugrunde. Insofern ist Politik ebenso vermittels des Sozialen an die Rechtsform gebunden.
Politik kann nicht autonom sein. Sie ist nicht etwa der eigenen begrifflichen Definition unterworfen, sondern der Wirklichkeit, die der Begriff der Politik sachlich zum Ausdruck bringt. So kann man das Wesen der Politik nicht erfassen, ohne das Wesen des Staates erfaßt zu haben. Umgekehrt allerdings läßt sich das Wesen des Staates erfassen, ohne das Wesen der Politik ergründet zu haben. In diesen beiden Sätzen ist das ganze Geheimnis des Elends einer Kritik der Politik eingeschrieben. Wer also die Bestimmung des Politischen von der Kritik des Staates abschneidet, kann nicht zu einer Kritik der Politik vordringen, sondern nur zum Ausspielen von schlechter gegen gute Politik. Das aber heißt nichts anderes, als daß man sich in genau jene Fänge des staatlichen Politspiels begibt, das Joachim Bruhn als “Spiegelspiel der Politik” bezeichnet.(14) So beraubt man sich nicht nur eines kritischen Verhältnisses zur Politik, sondern eines zu Staat und Kapital überhaupt. Denn ohne Kritik der Politik ist eine Kritik von Staat und Kapital nicht etwa nur die halbe Miete, sondern zugleich die unkritische offene Flanke zum staatlichen Mitmachen.
Politik als die Kunst des staatlich Möglichen negiert nicht nur der Form nach das Unmögliche, sondern vermag durch Bindung an den Staat nicht über das hinauszuweisen, was man unter dem Banner der Politik unmöglich abschaffen kann - den Staat. Sich auf das Geschäft der Politik einzulassen ist der Ausdruck für das Eingedenken des Staates in das Individuum. Jene Verstaatung des Denkens und Handelns als Subjekt, die die Verantwortung im Sinne des Kategorischen Imperativs Kants zum Kriterium des Politischen erhebt. Denn unverantwortliche Politik gibt es nicht, nur den Vorwurf derselben als ein Drücken vor der Verantwortung, die die Politik gebietet.
Das Festhalten am staatlichen Mittel der Politik zum Zwecke der Kritik des Bestehenden ist die Ambivalenz von Bewußtlosigkeit und Verdrängung der qua Zwang anerkannten Autorität Staat vermittels der Subjektform, die nicht als objektiver Ausdruck gewaltförmiger Verhältnisse reflektiert wird. Gerade unter diesem Aspekt kann man das Wesen des Verhältnisses von Citoyen und Bourgeois in der Form des bürgerlichen Subjekts nicht erfassen. Denn Politik ist letztlich die Reaktion auf die Verdinglichung des Warenfetischs: sie stellt die falschen Machtfragen, die statt auf wirkliche Veränderung drängen zu lassen durch notwendig falsche Antworten immer wieder die formalen Bedingungen der Wertvergesellschaftung reproduzieren.
Den Staat nur als ein seinen Bürgern äußerliches Zwangsverhältnis zu denken, das seine Bürger unterdrücken würde, verweist auf ein statisches Verständnis von Subjekt und Objekt. Gerade aber das Eingedenken, die Verstaatung des Denkens, verweist darauf, daß das Subjekt das Objekt genauso beeinflußt wie das Objekt das Subjekt. Staat ist also ein zwischen Statik und Dynamik prozessierendes Verhältnis unter dem Vorrang des Zwanges.
Die Halluzination vom freien politischen Willen des Bürgers führt regelmäßig dazu, “daß das schließliche Resultat politischen Handelns oft, nein: geradezu regelmäßig, in völlig unadäquatem, oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem ursprünglichen Sinn steht”, schreibt Max Weber.(15) Und er bestimmt daraufhin eine Ethik des Politischen als Gesinnung des Gemeinwesens - “gesinnungsethisch” – oder aber als Verantwortung für dasselbe - “verantwortungsethisch”.(16) Beide seien, trotz ihrer Unterschiedlichkeit “nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den der den ‘Beruf zur Politik' haben kann.”(17)
Die Mischform aus Gesinnung und Verantwortung für den Staat schießt zum Begriff des Politischen zusammen, den Carl Schmitt in seiner berühmten Definition als einen bezeichnet hat, der den Begriff des Staates nach sich zieht.(18) Im Laufe dieses Textes sollte allerdings deutlich geworden sein, daß Schmitt mit dieser Definition eine typische Verkehrung des Wirklichen zum reinen Begriff vornimmt, wenn er auch mit seiner Definition die unauflösbare Verquickung des Politischen mit dem Staat deutlich macht. Zwar läßt sich der Begriff der antiken Polis als dem Begriff des Staates vorgängig bezeichnen. Doch die wirkliche Geschichte um das Wesen der Polis verweist genau auf das Gegenteil. Entscheidend ist die Wirklichkeit des Stadtstaates und nicht der Begriff oder die Idee von ihm. Insofern setzt vielmehr nicht der Begriff des Staates den des Politischen voraus, sondern umgekehrt der Begriff des Politischen den des Staates. Schmitt bestimmt also im genauen Gegenteil zur Intention materialistischer Kritik nicht den Begriff im Verhältnis zur Sache, sondern die Sache im Verhältnis zum Begriff. Folgerichtig meint er zur Begründung seiner Definition des Politischen: “Wir dürfen es dahingestellt sein lassen, was der Staat seinem Wesen nach ist (...). Eine Begriffsbestimmung des Politischen kann nur durch Aufdeckung und Feststellung der spezifisch politischen Kategorien gewonnen werden. Das Politische hat nämlich seine eigenen Kriterien (...). Das Politische muß deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann (...).”(19) Hier erstrahlt der Idealismus in Form eines Primates des Begriffs. Wo der Begriff eigenen Kriterien unterliegen soll steht er über der materiellen Wirklichkeit, die den Begriff gebahr. Und wo er sich mittels eigener Kriterien selbst von sich unterscheiden soll, gerät der Versuch der Begriffsbestimmung nicht zur Lösung des politischen Rätsels, sondern vielmehr zum Rätselraten über die politische Lösung. Nach Schmitt kann das Politische “seinsmäßige Sachlickeit und Selbständigkeit” für sich beanspruchen.(20) Denn selbst der Staat als “die maßgebende Einheit beruht auf seinem (...) Charakter.”(21) Nicht also das Politische beruht auf der materiellen Gewalt des Staates, sondern die materielle Gewalt des Staates soll auf der Idee des Politischen beruhen. Diese grundsätzliche Widersinnigkeit des Idealismus hatte schon Marx bei Hegel aufgedeckt: “Die Seele der Gegenstände, hier des Staates, ist fertig, prädestiniert vor ihrem Körper, der eigentlich nur Schein ist. Der ‘Begriff'ist der Sohn in der ‘Idee', dem Gott Vater, die treibende Kraft, das determinierende, unterscheidende Prinzip. ‘Idee' und ‘Begriff' sind hier verselbständigte Abstraktionen.”(22)

Kritik der Politik

Die Gewalt, die nicht etwa vom Staat ausgeht, sondern die der Staat ist, ist die Gewalt gegen das Individuum. Die Gewalt zwingt das Individuum in die bürgerliche Subjektform von Bourgeois und Citoyen. Weil es in ihr aufgeht, verwandelt sie die Abstraktion in zweite Natur, die für die natürliche und damit ahistorisch-überzeitliche gehalten wird. Weil der Staat die vermittelnde Gewalt zwischen Subjekt und Individuum ist, ist seine Vermittlung Gewalt, die dem Individuum qua Geburt angetan wird. Der Vertrag zwischen Individuum und Subjekt ist keiner. Er ist nicht Ausdruck des allgemeinen Willens, sondern von allgemeiner Befehlsgewalt, der der Mensch unterworfen ist. Die Sicherheit der Staatsbürger wie die Sicherheit des Staates ist der “höchste soziale Begriff der bürgerlichen Gesellschaft”.(23) Er steht zugleich für die Gewalt gegen jede staatenlose Barbarei wie für Gewalt gegen jede staatenlose Freiheit. In ihm bündelt sich die Wahrheit über die menschliche Naturbeherrschung, die immer auch Menschenbeherrschung einschließt.(24)
“Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte.” Als solche verweist sie auf den untrennbaren Zusammenhang von Recht und Gewalt.(25) Damit sind die Kategorien von Gerechtigkeit und Macht zugleich ihrer Gewaltförmigkeit überführt und unter diesem Aspekt in schroffen Gegensatz zu menschlicher Freiheit zu setzen.(26) Es gilt außerdem: nicht Recht und Macht haben den Staat hervorgebracht, sondern umgekehrt der Staat die gesellschaftlichen Kategorien von Recht und Macht.
Wenn von Clausewitz den Krieg als die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln begreift, dann läßt sich daraus der Umkehrschluß ziehen, daß die Wesensverwandtschaft von Krieg zu Politik genauso wenig zufällig ist wie die von Politik zu Krieg. Man kann deshalb Politik im Umkehrschluß auch bestimmen als das Vorspiel des Krieges mit anderen Mitteln.
Eine Affirmation des Politischen verunmöglicht eine Kritik der Gewalt. Denn man hat sich dergestalt auf die Gewalt über den objektiven Zwang hinaus eingelassen. So verdoppelt man die objektive Existenzweise als politisches Subjekt, in dem man sich selbst zum Subjekt des Politischen macht: Man wird als Staatsbürger zum staatsfetischistischen Gewaltakteur neuer Qualität. Politik ist also einmal mehr als die aktive Verschleierung gewaltförmiger Verhältnisse zu benennen. Sie verunmöglicht geradezu eine radikale Kritik der Gewalt. Denn wirkliche Kritik der Gewalt ist nicht die Frage nach schlechterer und besserer, gerechterer und ungerechterer, sondern ihre Kritik überhaupt.(27)
Das Festhalten an der Politik als Form und Mittel läßt sich auf das Festhalten an der Statik des Marxschen Basis-Überbau-Schemas zurückführen.(28) Bewußt oder unbewußt spielte Kritik dieses Thema in verschiedenen Variationen, obwohl Marx insbesondere in seinen sogenannten Frühschriften anderes nahelegt.(29) So heißt es bei ihm zum Beispiel in seiner Kritik des Hegelschen Staatrechts: “Die höchste politische Gesinnung ist die Gesinnung des Privateigentums.”(30) Noch deutlicher wird Marx in seiner Schrift Zur Judenfrage, die bekanntlich mit dem Ergebnis endet, daß es nicht darum gehen kann, das Judentum innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse aufzuheben, sondern nur darum, die bürgerlichen Verhältnisse abzuschaffen, mit deren Ende auch die Emanzipation vom Judentum vonstatten geht. “Wir sagen (...) nicht (...) den Juden: Ihr könnt nicht politisch emanzipiert werden, ohne euch radikal vom Judentum zu emanzipieren. Wir sagen ihnen vielmehr: Weil ihr politisch emanzipiert werden könnt, ohne euch vollständig und widerspruchslos vom Judentum loszusagen, darum ist die politische Emanzipation selbst nicht die menschliche Emanzipation. Wenn ihr Juden politisch emanzipiert werden wollt, ohne euch selbst menschlich zu emanzipieren, so liegt die Halbheit und der Widerspruch nicht nur in euch, sie liegt in dem Wesen und der Kategorie der politischen Emanzipation. Wenn ihr in dieser Kategorie befangen seid, so teilt ihr eine allgemeine Befangenheit (...). Erst wenn der wirkliche Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der Mensch seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche Emanzipation vollbracht.”(31)
Kritik der Politik bedeutet nicht politische Emanzipation, sondern beansprucht die Emanzipation von der Politik. Politik entspringt dem Rechtsverhältnis des Warentausches, welches wiederum in ihm wurzelt.(32) Das, und nichts anderes, ist das notwendig verpuppte wesentliche Geheimnis der politischen Ökonomie. Es liegt in dem spezifischen Verhältnis von Warenform und Rechtsform, in dem die “gesellschaftlich gültigen, also objektiven Gedankenformen” erzeugt werden.(33) Deshalb besteht die Gretchenfrage einer Kritik der Politik wie folgt: “Kann das Recht als gesellschaftliches Verhältnis aufgefaßt werden, in demselben Sinne, in dem Marx das Kapital ein gesellschaftliches Verhältnis genannt hat?”(34) Kritik ist somit zugleich nicht nur der analytisch-darstellende Versuch, ob sich “in der Fortsetzung der Kritik der politischen Ökonomie in die Kritik der Politik (...) das Ökonomische ins Politische” übersetzt(35), sondern auch umgedreht, ob, wie und warum sich das Politische ans Ökonomische rückbinden läßt.
Seit Engels die Marxsche Staatskritik positivistisch auf das Maß des Übergangs vom bürgerlichen zum absterbenden Staat heruntergebrochen hat(36), zählt der Streit um die richtige revolutionäre Organisationsform mehr als der inhaltliche darum, was überhaupt abzuschaffen ist: es war also weniger ein Streit um Weg und Ziel als einer um die richtigen Transportmittel auf dem Weg zur Revolution. Vielleicht ja insgeheim wegen Lenins Referenzen an die Eisenbahn geriet seine Schrift “Staat und Revolution” zum jahrzehntelangen Mittelpunkt der Auseinandersetzung um den richtigen Weg zum Engelsschen Absterben des Staates. Für Lenin war der Staat “das Produkt und die Äußerung der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze”, wobei die Existenz des Staates wiederum gleichzeitig als Beleg dafür anzusehen wäre, “daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind.”(37) Für Lenin war klar, daß es sich beim Absterben des Staates “offenkundig um einen langwierigen Prozeß handelt.”(38) Die Herbeiführung des Absterbens allerdings könne, “als allgemeine Regel, nur durch eine gewaltsame Revolution” erfolgen, denn nur der proletarische Staat, der “kein Staat im eigentlichen Sinne mehr” wäre, könne absterben, nicht aber der bürgerliche Statt seinem Wesen nach.(39)
Unter Berücksichtigung der Leninschen Diktion tritt das instrumentell rationale Moment des Festhaltens an der gesellschaftlichen Kategorie Politik - sei sie nun parlamentarisch oder außerparlamentarisch - deutlich zu Tage.
“Revolutionäre” Politik ist somit eine, die zwar intendiert, das Mittel der Politik gezielt zu benutzen, um die Revolution herbeizuführen und damit den bürgerlichen Staat abzuschaffen, sich aber gerade mittels der Politik im Staat verfängt: der Staat ist Fetisch, weil die Politik zum Bedürfnis wird, das unbedingt befriedigt werden muß. Wer die grundsätzlich dialektische Wesensverwandtschaft von Staat und Politik nicht erfaßt, räumt folgerichtig der sogenannten Organisationsfrage das Primat ein. So auch Hans Jürgen Krahl, der in seinem Aufsatz “Zu Lenin: Staat und Revolution” in ungebrochener Engelsscher Tradition davon ausging, daß der “proletarische Staat (...) von vornherein sichtbar die Tendenz abzusterben in sich” trage.(40) Unter diesen Voraussetzungen landete Krahl folgerichtig bei einer Kritik des Leninschen “Dogmatismus” und damit bei dem Ringen um die richtige revolutionäre Organisierung.(41) Der Streit um die richtige Organisierung ist immer der Friedensschluß mit der Politik. Andersherum ist die Affirmation der Politik das Festhalten an der sogenannten Organisationsfrage. So drehen sich Organisierung und Politik im Kreis: Man macht die Politik der Organisierung wegen oder aber man macht wegen der Politik die Organisierung. Daß hier etwas zum tautologischen Selbstzweck wird, liegt auf der Hand. Der ausgerufenen höheren Zwecksetzung einer grundlegenden Umwälzung unmenschlicher Verhältnisse kommt so nur noch eine distinktiv-bekennerhafte Alibifunktion zu.
Das Klammern an die sogenannte Organisierungsfrage ist nichts weiter als das unbewußte Festhalten und reproduzieren des unsäglichen Avantgardegehabes. Organisierung ist ein objektiv nicht lösbares Problem. Das allerdings ist kein Einwand gegen ihre durchaus vorhandene Notwendigkeit, sondern impliziert die Kritik an den Verhältnissen. Grundsätzlich gilt: nur weil etwas nicht möglich ist, muß es noch lange nicht falsch sein. Weil aber genau darum etwas an den Verhältnissen nicht stimmen kann, bedarf es ihrer Kritik. Anstatt also zu fragen, wie Organisierung möglich sein könnte, sollte man fragen, warum Organisierung unter den Vorzeichen von Emanzipation nicht möglich ist. So betrachtet ist Kritik der Politik zugleich Selbstkritik der eigenen Existenzweise, die auf das Verhältnis von sich und dem Bestehenden reflektiert.
Der Terror der Verhältnisse nötigt zur immergleichen Zwangshandlung des Tausches. Darin spiegelt sich auch das neurotische Moment des Politischen: es soll nicht wahr sein, was wahr ist, weil wahr ist, was nicht wahr sein kann. Daß sich die kapitalistische Wirklichkeit als eine einzige große Ungeheuerlichkeit fassen läßt, ist ein Skandal, den man nicht leicht erträgt. Daraus erwächst zu allem Überfluß auch die Nötigung, die unerträgliche Übersichtlichkeit der Verhältnisse - ihre fortwährende Reduktion von allem und alles aufs Immergleiche des Werts - zur Unübersichtlickeit zu verklären. Die materielle Aufspaltung der Wirklickeit durch Realabstraktion nur zu dem einen Zweck der Selbstverwertung des Werts findet seinen Ausdruck in der Form des Denkens: die zweckgerichtete Zerlegung der Wirklichkeit wird im wahrsten Sinne des Wortes zur baren Münze eines a priori. Selbst der Begriff von Geschichte ist nichts als Perversion: man bastelt ihn sich höchst wissenschaftlich einzig und allein zu dem Zweck zusammen, damit alles so bleibt wie es ist. Das grassierende Expertentum dieser Gesellschaft drückt nichts weiter aus als die zwangsverordnete Stillstellung der Geschichte.
“Wer nur lange genug an einem Linken kratzt, fördert unter Garantie einen Milieutheoretiker zutage, einen Menschen also, der sich unter Dialektik eigentlich nichts als die Wechselwirkung vorstellen kann”, schreibt Joachim Bruhn(42) und beschreibt damit nur allzu treffend das Niveau einer intendierten radikalen Gesellschaftskritik, die bestenfalls bei der Systemtheorie eines Niklas Luhmann oder bei der Diskurstheorie eines Jürgen Habermas landet. Ob man es nun “Lebenswelt” (Habermas) oder Welt der Systeme (Luhmann) nennt, sich der Totalität der Weltgesellschaft nicht zu stellen, in dem man sie begrifflich zerlegt, ist der Totalität selbst geschuldet: Sie vermag es, selbst noch die Idee vom normativen Standpunkt zu zerstören, von dem aus nur die Reflexion auf das ganze Ausmaß der Wertvergesellschaftung möglich werden kann. So besteht eben die Schwierigkeit für Kritik nicht darin, den Gegenstand in seinen Einzelteilen zu betrachten, sondern darin, ihn
umfassend zusammen denken zu können. Allein in dieser Erkenntnis steckt die Widerlegung einer angeblichen Unübersichtlichkeit der Moderne.
Der gesellschaftliche Begriff vom Gegenstand enthält die Wahrheit über ihn. Nur weil man über die Wirklichkeit nicht alles zu sagen vermag, legitimiert sich darüber noch lange nicht, die Wirklichkeit auf das zu reduzieren, was man für überschaubar hält. Das Problem, dem sich Kritik zu stellen hat, entspringt vielmehr dem Gegenstand der Kritik: sie muß auf einen Gegenstand reflektieren, der sich selbst durch Scheinhaftigkeit der Reflexion zu entziehen versucht.
Wenn man Wahrheit beansprucht, stellt sich die Frage, ob und wie Kritik sie behaupten kann. Umgedreht aber kann man Kritik nicht beanspruchen, ohne die Wahrheit zu behaupten. Aus dieser objektiven Konstellation vermag weder die Kritik noch die Kritiklosigkeit zu entfliehen. Kritik bleibt immer der Wirklichkeit verhaftet, selbst wenn sie sich ganz fest einbildet, es nicht zu sein. Weil aber gerade diese Einbildung Ausdruck der Wirklichkeit ist, wäre gerade dann der Grund für sie zu ergründen. Denn die Verhältnisse bringen objektiv jene Kritik hervor, die sie benötigen. Damit aber ist weder über ihren immanenten noch über ihren möglichen transzendenten Charakter vorab entschieden. Denn genausowenig wie es eine geschichtliche Determinierung der Transzendenz gibt, gibt es ausschließlich ihr Gegenteil - nämlich gar keine. Die Verhältnisse entscheiden vorab nur darüber, daß die Kritik nicht besser sein kann, als ihr substantiell zu Grunde liegt. So läßt sich auch sagen, daß ein Diskurs niemals die Wirklichkeit bestimmen kann, sondern immer die Wirklichkeit den Diskurs. Wessen Kritik also auf die Kritik des Diskurses zielt und nicht auf die Verhältnisse, die ihn hervorbringen und denen er Ausdruck verleiht, kritisiert nicht etwa, sondern kommuniziert nur. Auch die Kommunikation drückt die Wahrheit aus, die es zu ergründen gilt. Nur weil sie heutzutage einen tautologischen Selbstzweck vorgaukelt, ist sich die Kommunikation noch lange nicht Selbstzweck. Weil sie das aber nicht ist, liegt ihr etwas zu Grunde, was es zu ergründen gilt. Nimmt man in kritischer Absicht die Kommunikation zum Maßstab der Machtstabilisierung und Reproduktion, so erweist sich recht schnell, daß sie immer noch Mittel zum Zweck ist - und sei es auch nur der des “normalen” Geldverdienens. Wer sich aber längst dem gesellschaftlichen Diktum unterworfen hat, über Geld nicht reden zu wollen, sondern es lieber zu besitzen, redet eben über Dinge, über die man nicht reden sollte, wenn man nicht weiß, was sie sind und für was sie gesellschaftlich stehen.
Nicht anders verhält es sich mit der Politik. Einer Kritik derselben geht es nicht um die Analyse eines obskuren Kommunikationssystems Politik, sondern um die Bestimmung der Relation zischen der Form von Politik und ihrer Substanz. Und diese Bestimmung ergibt sich gerade nicht an sich selbst des hermetisch abgeschlossen betrachteten Systems von Politik, sondern ausschließlich durch die Verhältnismäßigkeit zu anderen gesellschaftsmächtigen Kategorien. Wer meint, über Politik nicht reden zu müssen, weil man sie doch machen müßte, statt über sie zu sinnieren, ist nicht besser als diejenigen, die aus der Gesellschaft ein “sprachlich-kulturelles Wolkenkuckucksheim” machen wollen.(43)

verwendete Literatur:
- Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966
- Agnoli, Johannes, Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990
- ders., Die Transformation der Linken, in: Sinn ist rar
- Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt, Frankfurt am Main 1965
- Bolte, Gerhard, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Unkritische Theorie, Lüneburg 1989
- Bruhn, Joachim, Was deutsch ist, Freiburg 1994
- Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: Marx/Engels Werke Band 20,
- Hoerster, Norbert (Hrsg.), Klassische Texte der Staatsphilosophie, München 1976
- Horkheimer, Max/Adorno Theodor W., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969
- ders., Autoritärer Staat, in: Dubiel, Helmut/Söllner, Alfons, Frankfurt am Main 1981
- ders., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1967
- Grigat, Stephan, Was bleibt von Agnolis Kritik der Politik?, in: Streifzüge 01/2000
- Krahl, Hans-Jürgen, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am Main 1971
- Klein, Peter, Hier ruht Agnoli, in: Krisis 10/1991 oder www.krisis.org
- Lamer, Hans, Wörterbuch der Antike, Stuttgart 1995
- Lenin, Wladimir Iljitsch, Staat und Revolution, in: ders. Ausgewählte Werke Band II, Berlin 1966
- Ludwig, Bernd, Politik als “ausübende Rechtslehre”, in: Lietzmann, Hans J./Nitschke Peter (Hrsg.): Klassische Politik, Opladen 2000
- Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: MEW 1, Berlin 1964
- ders., Zur Judenfrage, ebenda
- ders. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, ebenda
- ders. Das Kapital Band I, Berlin 1955
- ders. Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Vorwort), in: ders./Engels, Friedrich, Ausgewählte Schriften I, Berlin 1966
- Meyer, Thomas, Was ist Politik?, Opladen 2000
- Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000
- Paschukanis, Eugen, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Frankfurt am Main 1966
- Reese-Schäfer, Walter, Antike politische Philosophie, Hamburg, 1998
- Scheich, Elvira, ‘Natur' im 18. Jahrhundert und die Bestimmung der Geschlechterdifferenz; in: Gerhard Ute/Jansen, Mechthild/Maihofer Andrea/Schmid, Pia/Schulz, Irmgard (Hrsg), Differenz und Gleichheit, Frankfurt am Main 1997
- Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen, Berlin 1996
- Sturma Dieter, Jean-Jaques Rousseau, München 2001
- Türcke, Christoph, Sexus und Geist, Frankfurt am Main 1991
- ders., Vermittlung als Gott, Lüneburg 1994
- Weber, Max, Politik als Beruf, Stuttgart 1992
- ders., Wissenschaft als Beruf, in: Kaesler, Dirk (Hrsg.), Max Weber-Politische Schriften 1894 - 1922, Stuttgart 2002

Fußnoten:
(1) Der Autor ist sich darüber im Klaren, daß er, in dem er auf die idealistische Relation von Form und Stoff des Aristoteles rekurriert, zugleich die patriarchale Logik des Naturbegriffes reproduziert. So schreibt Aristoteles: “Weil aber die erste bewegende Ursache, in welcher der Logos und die Form liegt, höher und göttlicher ist als der Stoff, ist es auch besser, daß das Höhere vom Niederen getrennt ist, daher ist überall da, wo es tunlich ist, das Männliche vom Weiblichen getrennt. Denn besser und göttlicher ist das Prinzip der Bewegung, welches das Männliche in den Geschöpfen ist; der Stoff aber ist das Weibliche (...). Der Körper aber kommt vom Weiblichen, die Seele dagegen vom Männlichen; denn die Seele ist das Wesen des Körpers.” (Aristoteles, Über die Entstehung der Lebewesen, 732a, 738b; hier zitiert nach Christoph Türcke, Sexus und Geist, Frankfurt am Main 1991, S. 73)
(2) Max Horkheimer, Autoritärer Staat; in: Helmut Dubiel/ Alfons Söllner, Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1981, S.69
(3) “Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.” Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, Berlin 1964, S.379
(4) ”Ist das Wahre Sein nur das leere Jenseits der Wirklichkeit, in der die Menschen sich stets schon vorfinden, so hat diese Wirklichkeit keine Wahrheit in sich. Ist aber nichts in ihr wahr, so ist zugleich alles in ihr wahr (...). Das ist die unvermeidliche Folge, wenn das wahre Sein der materiellen Welt strikt entgegengesetzt wird. Fallen Wahrheit und Wirklichkeit derart auseinander, so ist es um beide geschehen; sie verdunsten in Bestimmungslosigkeit. Soll Wahrheit aber kein leerer Gedanke sein, so muß er ein Fundament in der Wirklichkeit haben.” Christoph Türcke, Vermittlung als Gott, Lüneburg 1994, S. 28
(5) ”Kein Sein ohne Seiendes. Das Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs, auch dessen vom Sein, ist die äußerste, doch durch keinen weiteren Denkprozeß abzuschaffende Abstraktion des mit dem Denken nicht identischen Sachhaltigen; ohne das Etwas kann formale Logik nicht gedacht werden.” Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966, S.139. Die Antinomie von Sein und Seiendem ist keine, weil ohne die Vermittlung von beiden sie nicht als solche erkennbar ist. Das Seiende der Verhältnisse bestimmt den Begriff vom Sein, in den die objektive Wirklichkeit eingeht. Niemand wird in ein Sein geworfen, dem man an sich unterworfen wäre. Das Sein ist nichts ohne das erkennende Subjekt, das sich durch das Seiende der Verhältnisse einen Begriff vom Sein zu machen vermag. Und doch geht es nicht, ohne daß dem Begriff vom Sein etwas äußerlich wäre, was der Begriff nicht erfaßt. Insofern ist objektive Substanz die Bedingung für subjektive Erkenntnis. Doch ohne subjektive Erkenntnis ist nicht einmal das Nichts nichts. Insofern gilt es nur als solches, weil man es zu erfassen vermag. Ohne Möglichkeit der Erkenntnis über das Nichts wäre für den Menschen das Nichts nicht zu fassen. Erkenntnis ist die Bedingung für einen Begriff vom Sein. Ein Nichts, das als Nichts identifiziert ist, und sei es als eines, das sich nicht identifizieren läßt - also als Negation der Negation, daß man weiß, daß man nichts über es weiß - kann kein Nichts an sich sein, sondern ist nur deshalb ein Nichts, weil man sich von einer Sache einen Begriff gemacht hat, über die man glaubt zu wissen, daß sie das Nichts ist. Erkenntnis über das Sein ist sinnlich gebunden an das Seiende, nicht von ihm abtrennbar. Der Seinsbegriff birgt so nicht mehr und nicht weniger als die Wahrheit über das Seiende in sich. Wie auch die sinnliche Erfahrung des Seienden die Wahrheit über das Sein enthält. Adornos Kein Sein ohne Seiendes bedeutet letztlich nichts anderes als Marx' Satz: “Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.” Hierin drückt sich die ganze Wahrheit über die Relation von Gedanke und Wirklichkeit, Sein und Seiendem wie auch zugleich die ganze Relation von Wahrheit überhaupt aus. (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW 1, Berlin 1964, S. 386)
(6) Vergleiche dazu Sigmund Freud, Totem und Tabu sowie ders., Der Mann Moses und die monotheistische Religion
(7) Vergleiche zum patriarchalen Gehalt des Logos und den “patriarchalen Gestehungskosten des Idealismus”: Christoph Türcke, Sexus und Geist, Frankfurt am Main 1991, S. 60 ff. Türcke schreibt da u.a.: “Der nur sich und seinesgleichen zulassende Logos ist tief befangen in dem, was nicht seinesgleichen ist, sein Erstarren in reiner Identität der Urschrecken des Idealismus. Von Anfang an ist der Wahn der Autarkie des Logos von der Ahnung begleitet, daß er nicht wahr ist - wie der Autarkiewahn des männlichen Geschlechts, aus dem er aufgestiegen ist.” Und auf Platons Schrift Politeia bezogen heißt es: “... Keine Rede davon, der Frau das Vernunftvermögen abzusprechen, aber auch keine davon, es ihr rundum zuzugestehen. Ähnlich ist sie dem Mann, aber nicht gleich, also nicht subjektlos, aber auch nicht ganz Subjekt.” (ebd. S. 60)
(8) Jean-Jaques Rosseau, Werke IV, S.284, München 1996; hier aus: Dieter Sturma, Jean-Jaques Rosseau, München 2001, S.145
(9) ebenda S.231; S.144
(10) Elvira Scheich, “Natur” im 18.Jahrhundert und die Bestimmung der Geschlechterdifferenz, in: Ute Gerhard, Mechthild Jansen, Andrea Maihofer, Pia Schmid, Irmgard Schulz (Hrsg.), Differenz und Gleichheit, Frankfurt am Main 1997, S.254 Der Autor geht im übrigen grundlegend von der männlichen Zugerichtetheit des Selbst als Ich im Sinne der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer/Adorno aus. Geteilt wir allerdings nicht, was sich ebenda im Aufsatz Mensch und Tier findet. Dort heißt es zur westlichen Zivilisation: “Die Frau ist nie Subjekt.” (Frankfurt am Main 1988, S.264) Wäre das so, daß der Frau innerhalb der Zivilisationsgeschichte der Subjektstatuts grundsätzlich verweigert wurde, dann gäbe es weder das männlich zugerichtete Selbst noch hätte sich überhaupt ein Gattungsbegriff Mensch durchsetzen können.
Zum Patriarchat im Kapitalismus geht der Autor mit Christoph Türcke konform, der über die kapitalistische Entwicklung schreibt: “Vordergründig sieht dieser Prozeß aus, als sei er bloß die Fortsetzung der altbekannten Männerherrschaft mit etwas anderen Mitteln. So war er auch gedacht. Aber hinterrücks kam etwas anderes in Gang: die Selbstaushebelung des Patriarchats. Männer betreiben verzweifelt die innere und äußere Befestigung ihrer Herrschaft und untergraben sie dabei (...). Kurzum, Männer heben die abstrakte Macht der Quantität auf den Thron - und die Männerherrschaft aus den Angeln. Wo dieser Vorgang beginnt, ist eine entscheidende Bruchstelle im historischen Kontinuum des Geschlechterkampfes (...). Erst vom erwachsenen, zur großen Industrie entfalteten Kapitalismus aus wird allmählich sichtbar, daß in ihm etwas anderes zur Macht gelangt ist als Männer: ein Herrschaftsprinzip, mit dem sie - vorerst jedenfalls - enger liiert sind als Frauen und das dennoch nicht ihr eigenes ist (...). Eine entsinnlichte, entgeistigte, neutralisierte ökonomische Gesetzmäßigkeit bildet den äußersten Extrakt der Geschlechtsherrschaft, ohne selbst noch Geschlechtsherrschaft zu sein. Das foppt beide Geschlechter, vor allem aber die moderne Frauenbewegung. Wo sie ihren Kampf gegen die Männer beginnt, hat das Patriarchat - aufgehört.” (Sexus und Geist, Frankfurt am Main 1991, S.210 ff.)
Im übrigen enthält der historische Patriarchatsbegriff eine unumstößliche Wahrheit. Daß nämlich Frauen und Männer nicht nur gleich, sondern ebenso von Natur aus unterschiedlich sind. Diese natürliche Unterschiedlichkeit ging als Wahrheit über Natur bei allem männlichen Idealismus in die Entstehung des Patriarchats mit ein. Ohne die natürlichen Unterschiede gar wäre eine sinnliche Erfahrbarkeit wohl kaum möglich gewesen, auf deren Basis erst die Reflexion auf sie erfolgte. So läßt sich also behaupten, daß ohne die natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen das Patriarchat wohl hätte gar nicht entstehen können. Daß Denken von Natur - die Reflexion auf sie - grundsätzlich nur mit Abspaltung des Geistes von ihr möglich sein kann, ist kein Sonderfall des Denkens, sondern Bedingung für es. Insofern liegt dem Idealismus der Frauenunterdrückung etwas zugrunde, was sich als Präposition durch Natur fassen läßt.
(11) Immanuel Kant Akademie Ausgabe Band VIII, Berlin 1900; hier zitiert nach: Hans J. Lietzmann/Peter Nitschke (Hrsg.), Klassische Politik, Opladen 2000 S.176
(12) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1955, S.207; sowie ders. Die Vernunft in der Geschichte, Hamburg 1955, S.111 ff.; hier zitiert nach: Norbert Hoerster (Hrsg.), Klassische Texte zur Staatsphilosophie, München 1976, S.242 ff.
(13) vergleiche Friedrich Nietzsche, Der tolle Mensch, in: Die fröhliche Wissenschaft, Stuttgart 2000, S.141. Nietzsche läßt dort den tollen Mensch auf dem Marktplatz fragen: “Wohin ist Gott? ... Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Giebt es noch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage gezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, - wer wischt das Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, - und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war.”
Vergleiche außerdem Max Weber, Wissenschaft als Beruf: “Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Inellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander. ... Wer - außer einigen großen Kindern, wie sie sich gerade in den Naturwissenschaften finden - glaubt heute noch, daß Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder der Chemie uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren könnten: auf welchem Weg man einem solchen ‘Sinn' - wenn es ihn gibt - auf die Spur kommen könnte? Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den Glauben daran: daß es so etwas wie einen ‘Sinn' der Welt gebe, in der Wurzel absterben zu lassen! Und vollends: die Wissenschaft als Weg zu ‘Gott'? Sie, die spezifisch gottfremde Macht? Daß sie das ist, darüber wird - mag er es sich zugestehen oder nicht - in seinem letzten Innern heute niemand im Zweifel sein. Erlösung von dem Rationalismus und Intellektualismus der Wissenschaft ist die Grundvoraussetzung des Lebens in der Gemeinschaft mit dem Göttlichen (...).” (in: Max Weber, Schriften 1894 - 1922, Stuttgart 2002, S.510 und 493)
(14) vergleiche Joachim Bruhn, Was deutsch ist, Freiburg 1994, S. 158. Es heißt dort: “Die Linke und die Rechte sind das Spiegelspiel der Politik (...). Das Spiegelspiel der Politik ist der Prozeß der Verschmelzung von Legalität und Legitimät zur Souveränität.” Ebenda meint Bruhn allerdings auch folgendes: “Zwischen Staat und Kapital kann (...) ein Verhältnis der Ableitung nicht bestehen, vielmehr: Die Souveränität ist das politische Verhältnis des Kapitals wie das Kapital nur das ökonomische Verhältnis der Souveränität ist.” (ebd. S.172) Wäre das so, dann hätte der Nationalsozialismus wie auch der Realsozialismus eine objektive Chance besessen, sich vom Kapital zu lösen. Es ist jedoch gerade unter dem Eindruck der Staatskapitalismus-Debatte und der Widerlegung Pollocks und Horkheimers durch Franz L. Neumann so, daß das Wertgesetz im NS keineswegs stillgestellt war. Und damit ist in diesem Zusammenhang auf folgendes zu verweisen: Gerade weil der Staat sich nicht über das Kapital erheben kann, ist der Staat das barbarische Problem. Sein Subjektstatus als ideeller Gesamtkapitalist ist zwar weitreichend. Er reicht aber nicht soweit, die Objektbindung an das Kapital zu beenden. Für das bürgerliche Subjekt in seiner Gespaltenheit in Citoyen und Bourgeois heißt das, daß im Zweifel immer der Bourgeois über den Citoyen herrscht. Der antisemitische Vernichtungswahn hat seinen Grund in der objektiven Unmöglichkeit, das Wertgesetz stillzustellen. Daraus erst entsteht die Maßlosigkeit der Vernichtung: man will die personifzierte kapitalistische Produktionsweise kleinkriegen, aber man schafft es nicht. Mit anderen Worten, der Autor geht vom Vorrang des Kapitals über den Staat aus. Denn das scheint gerade im Bezug auf die bürgerliche Subjektform das wesentliche Problem zu sein, auf das eine Kritik von Staat und Kapital zu zielen hat.
(15) Max Weber, Politik als Beruf, Stuttgart 1992, S.65
(16) a.a.O. S.70
(17) a.a.O. S.81
(18) ”Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus.” (Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1932, S.20)
(19) ebenda und a.a.O. S.26
(20) a.a.O. S.28
(21) a.a.O. S.44
(22) Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1, Berlin 1964, S.303
(23) Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, Berlin 1964, S.365
(24) “Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein.”, Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main, 1967, S.94
(25) vgl. Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, Frankfurt am Main 1965, S.63 und 45: “Alle Gewalt ist als Mittel entweder rechtsetzend oder rechtserhaltend. Wenn sie auf keines dieser beiden Prädikate Anspruch erhebt, so verzichtet sie damit auf jede Geltung. Daraus aber folgt, daß jede Gewalt als Mittel selbst im günstigsten Falle an der Problematik des Rechts überhaupt teilhat.”
(26) Das gilt ebenso für die Begriffe Gegenmacht und Ungerechtigkeit.
(27) Auch Walter Benjamin legt sich dies nicht zugrunde. Er schreibt in Zur Kritik der Gewalt: “Die organisierte Arbeiterschaft ist neben den Staaten heute wohl das einzige Rechtssubjekt, dem ein Recht auf Gewalt zusteht.” (a.a.O. S.36)
(28) “Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis, daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen Lebensverhältnissen wurzeln (...). Das allgemeine Resultat, das sich mit ergab (...): In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt (...). (Karl Marx, Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften I, Berlin 1966, S.334)
(29) Dieser Einwand ist auch nicht damit vom Tisch zu wischen, daß die Frühschriften erst in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zugänglich wurden. Dem kann sicherlich formale Bedeutung beigemessen werden, keinewgs aber grundlegende.
(30) MEW I, Berlin 1964, S.303
(31) a.a.O. S.361 und 370
(32) “Die Waren können nicht selbst zu Markte gehn und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehen, den Warenbesitzern. Die Waren sind Dinge und darum widerstandslos gegen Menschen. Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, in andren Worten, sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehn, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willenakts sich die fremde Ware aneignet, in dem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer.” (Karl Marx, Das Kapital Band I, Berlin 1955, S.90-91
(33) Karl Marx, Das Kapital Band I, Berlin 1955, S.81
(34) Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Frankfurt am Main 1966, S.47-48. Paschukanis ist insbesondere schon deshalb höchst wichtig, weil er selbst von einem der wichtigsten Vertreter des sogenannten westlichen Marxismus, von Karl Korsch, im Vorwort zu besagter Ausgabe sich folgenden Vorwurf einhandelt: “Wenn Paschukanis (...) ausdrücklich von zwei gleich ‘grundlegenden' Aspekten für das einheitlich-ganzheitliche Verhältnis der in der warenproduzierenden Gesellschaft lebenden Menschen, einem ökonomischen und einem juristischen spricht, wenn er ausdrücklich den ‘Rechtsfetischismus' und den ‘Warenfetischismus' als zwei ‘auf derselben Grundlage' ruhende und in gleichem Maße ‘rätselhafte' Phänomene bezeichnet, wenn er sagt, daß diese ‘beiden Grundformen' sich ‘gegenseitig' bedingen und daß sich der gesellschaftliche, in der Produktion wurzelnde Zusammenhang gleichzeitig in diesen ‘zwei absurden Formen' darstellt, so verläßt er hier und ebenso nicht an zahlreichen anderen Stellen, die als ein einheitlicher Zusammenhang sein ganzes Buch durchziehen, entscheiden den Marxschen Gedanken, der das ökonomische Verhältnis als das grundlegende, dagegen das juristische ebenso wie das politische Verhältnis als daraus abgeleitete Verhältnisse betrachtet.” (Hrvg. i. Orginal, ebd. S.XI) Paschukanis selbst schreibt u.a.: “Die Kategorien Ware, Wert, Tauschwert sind ohne Zweifel ideologische Gebilde, entstellte, ins Mystische gewendete Vorstellungsformen, in denen sich die warentauschende Gesellschaft das Arbeitsverhältnis zwischen den einzelnen Produzenten denkt. Der ideologische Charakter dieser Formen ist dadurch bewiesen, daß es genügt, zu anderen wirtschaftlichen Strukturen überzugehen, damit die Kategorien der Ware, des Werts usw. jegliche Geltung verlieren (...). Somit sind also die allgemeinen Begriffe der politischen Ökonomie nicht nur ideologische Elemente, sondern solche Abstraktionen, aus denen die objektive ökonomische Wirklichkeit wissenschaftlich, d.h. theoretisch konstruiert werden kann (...). Der Staat ist nicht nur eine ideologische Form, sondern zugleich auch eine Form des gesellschaftlichen Seins. Die ideologische Natur des Begriffs schafft die Realität und Materialität der Verhältnisse, die er ausdrückt, nicht aus der Welt.” (S.46 ff.)
(35) vgl. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990, S.20. Agnoli versucht tatsächlich nur den einen Weg von der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie her. Der Umkehrschluß bleibt bei ihm aus. Wenn er also das Wesen der Politik als “System der Machterorberung, -erhaltung und -ausübung” (in: Sinn ist rar! 02) bestimmt, dann tut er dies vom Standpunkt des Klassenkämpfers und dessen traditionellem Macht- und Herrschaftsbegriffes aus. Umso erstaunlicher allerdings ist, daß erstens ein “traditioneller” Klassenkämpfer an die Kritik der Politik gemahnt und zweitens erst ein solcher kommen mußte, um die Tür zur Kritik derselben aufzustossen. Die Schwelle zu einer radikalisierten Staatskritik allerdings hat Agnoli nie wirklich überschritten. Insofern hat Peter Klein Recht, wenn er in seinem Text “Hier ruht Agnoli” schreibt: “Daß Agnoli eine aufmüpfige Sprache sprach, daß er in seiner ‘seriösen', ‘politikwissenschaftlichen' Publikation anstössige Vokabeln wie ‘Klassenkampf', ‘politischer Streik', ‘Barrikaden', ‘Revolution' verwendete, das war es, was damals (um ‘68 -S.P.) Sensation machte, darin liegt sein Verdienst. Wir haben hier also den ersten, noch vollkommen unvermittelten Schritt zu einem neuen Anlauf der Kapitalismuskritik vor uns. Ihrer Abstraktheit wegen konnte und mußte diese gewissermaßen noch jungfräuliche, von keiner näheren Bestimmung befrachtete Negation, dieses ‘Nein überhaupt', für einen winzigen historischen Augenblick alle späteren Splitter und Fraktionen der Neuen Linken unter sich versammeln.” (in: Krisis Nr.10, 1991 oder www.krisis.org)
Gegen Kleins gänzliche Agnoli-Kritik ist allerdings Stephan Grigat zu unterstützen, der in seinem Text “Was bleibt von Agnolis Kritik der Politik?” auf das verweist, was Klein in seiner Kritik zu übersehen scheint: “Agnoli kritisiert (...) nicht nur den bestehenden, als Demokratie organisierten Staat, sondern wendet sich gegen alle auf die Form Staat fixierten Emanzipationsansätze (...). Agnoli war und ist einer der wenigen radikalen Staats- und Demokratiekritiker des postfaschistischen Deutschlands, dessen theoretische Einlassungen allzu personalisierender Politik und Staatskritik von vornherein eine klare Absage erteilen. Als Wert- und Fetischkritiker gibt er dennoch nicht viel her. Was heute ansteht, ist eine Radikalisierung von Agnolis Kritik der Politik vor dem Hintergrund der Neurezeption der Marxschen Fetischkritik.” (in: Streifzüge 01/2000)
(36) vergleiche: Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), MEW 20, Berlin 1983, S.262. Engels schreibt dort u.a.: “Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich sein letzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem anderen Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‘abgeschafft', er stirbt ab.”
(37) W.I.Lenin, Ausgewählte Werke Band II, Berlin S.323
(38) ebd S.387
(39) ebd S.335
(40) Hans Jürgen Krahl, in: Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am Main 1971, S.187
(41) ebd. S.183 heißt es: “Die Frage nach den geschichtlichen Formbestimmungen der revolutionären Organisation wird in der theoretischen Tradition des Marxismus in der Regel mit dem Verweis beantwortet, jene hätten sich an der Verfassung der Staatsgewalt, dem strategischen Ziel des Kampfes um die politische Macht im Staate, adäquat zu orientieren. Diese These ist in dieser zum allgemeinen Lehrsatz erhobenen Abstraktion dogmatisch.” Damit ist Krahl letztlich hinter die Kritische Theorie zurückgefallen und bei Lukacs gelandet, der die revolutionäre Organisierung ebenfalls nicht grundsätzlich in Frage stellte, sondern das Parteienmodell favorisierte. Krahl sah das “Elend der Kritischen Theorie” in ihrem “Unvermögen, die Organisationsfrage zu stellen.” (ebd., Das Elend der kritischen Theorie eines kritischen Theoretikers, S.246)
(42) in: Joachim Bruhn, Was deutsch ist, Freiburg 1994, S.137
(43) Gerhard Bolte, in ders. (Hrsg.) Unkritische Theorie, Lüneburg 1989, S.19. Es heißt dort: “In einer glatten Umkehrung der Horkheimerschen Kritik nimmt Habermas die ökonomische Struktur der Gesellschaft affirmativ hin, gibt jeden Gedanken an ihre Veränderung auf und lenkt die geschichtliche Perspektive auf ein sprachlich-kulturelles Wolkenkuckucksheim.”


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last modified: 28.3.2007