Warum weder Politik als Kritik noch Kritik als Politik möglich ist
von Sören Pünjer
Was drückt es aus, wenn jemand ein Transparent hält? Was drückt
es aus, wenn jemand Flugblätter verteilt? Was drückt es aus, wenn
Leute sich versammeln, um gemeinsam Protest zu organisieren?
Nun, an sich nichts, außer, daß dort etwas stattfindet, von
dem man sich, um es zu erkennen und zu begreifen, einen Begriff machen
muß. Und daß man als Sache identifizieren muß, um es als
Gedanke von etwas unter das bereits Gedachte zu subsumieren, ohne es mit der
Sache identisch setzen zu können. Dadurch entsteht Erkenntnis. Denn
Identifzieren heißt nicht nur Identifikation durch Mimesis, sondern
zugleich Reflektieren in der Form des begrifflichen Gedankens auf Gedachtes.
Die Substanz des Denkens ist nicht der Inhalt schlechthin. Denn dieser Inhalt
braucht den Naturstoff als Substrat - also die stoffliche Natur Mensch und
dessen natürliche Befähigung zur sinnlichen Wahrnehmung. Der Geist
verleiht der besonderen Natur des Menschen Ausdruck. Er ist also mehr als Natur
und weniger als Nicht-Natur. Er ist die spezielle Vermittlungsinstanz zwischen
Innen- und Außenwelt des Individuums Mensch, ohne selbst das vermittelnde
Dritte zu sein. Und dennoch ist Geist nicht nur Form des Denkens, sondern auch
seine eigene Substanz. Der Begriff ist die Gestaltwerdung dieser durch
äußeren Einfluß auf die innere Natur. Das Denken in Bildern,
ohne das es nicht geht, ist die synthetisierte Gestaltwerdung von innerer und
äußerer Natur als Erkenntnis. Erkenntnis aber ist nicht das Erkennen
der Sache, sondern das sachliche Erkennen von etwas.
Denken ist nicht gesellschaftlich, doch ohne gesellschaftliche Form nicht
denkbar. Es ist nicht mehr als Natur und doch die so entscheidende Reflexion
auf sie. Denken heißt stoffliches Formen. Es ist denken von Materie in
der Form des Begriffs, nicht mehr und nicht weniger als geformter Stoff, dem
die Reflexion eigen ist.(1)
Sich von der Sache einen Begriff zu machen, ist keine Kann-Bestimmung, sondern
Notwendigkeit. Die Reflexion darauf, eine Sache nicht denken zu wollen, beruht
ebenso auf der Identifikation mit der identifizierten Sache. Demzufolge
fußt Ablehnung von sachlichem Denken ebenso auf Identifikation mit der
Sache wie die Apologie. Daraus nur kann objektiv die kritische Denkform
entspringen. Denn Negation ist Einlassung auf den Gegenstand der Negation. Sie
ist also letztlich immer Negation der Negation: Verweigerung dessen, was man
als zu verweigerndes bereits erkannt hat.
Kritik
Kritik kann diese Dialektik nicht durchbrechen, sondern nur darauf
reflektieren. Demzufolge ist Kritik die besondere Form geistiger Reflektion.
Sie ist also keineswegs das ganz Andere, sondern das sachlich an die
Objektivität gebundene. Was also der Sache Zwang antut, tut es zugleich
dem Denken von der Sache. Denn das Denken ist nicht pur, sondern steht in
direkter Abhängigkeit von der Sache. Der Begriff ist also objektiv
subsumiert unter den Gegenstand, den man denkt. So kommt nicht etwa dem Begriff
das Primat zu, sondern umgedreht, die Sache hat das Primat. Dieser Vorrang des
Objekts ist zugleich Ausdruck der objektiven Subsumtionslogik des Begriffes
unter die Sache.
Kritik ist der Versuch der Reflexion darauf, wie sehr dem Begriff durch
Zurichtung Gewalt angetan wurde. Dafür darf man den Begriff nicht
dekonstruieren, sondern muß ihn in seiner objektiven Geltung in den
Verhältnissen für die er steht, bestimmen: man muß vom
Abstrakten zum Konkreten aufsteigen - von der allgemeinen
gesellschaftlich-kategorialen Bedeutung zur konkreten Wirklichkeit, für
die er steht. Es geht bei Kritik nicht um Kritik von Begriffen, sondern um das,
wofür sie stehen und warum sie das tun. Eine intendierte Kritik, der es
nur um Begriffe geht, ist nichts als Idealismus, weil sie dem Begriff den
Vorrang gegenüber der Sache einräumt. Dialektisch-materialistische
Kritik dagegen zielt auf die Formbestimmung des Begriffes, also auf die
Erkenntnis über die Relation von Form und Inhalt, von Sache und Begriff.
Sie fragt nicht nach dem Wesensgehalt des Begriffes, sondern nach dem Wesen des
Verhältnisses von Begriff und Sache. Es geht ihr also weder
ausschließlich um die Sache selbst, noch um die reine Begrifflichkeit von
ihr. Sie fragt nicht nach der Eigentlichkeit - dem An sich, Für sich oder
Für uns, sondern warum diese Dinge dafür gehalten werden und
welche Notwendigkeit im Verhältnis von Subjekt und Objekt, also dem
Erkennenden und dem Erkannten, besteht.
Die Differenz von Begriff und Realität begründet die
Möglichkeit der umwälzenden Praxis, nicht der bloße
Begriff.(2)
Das Verhältnis von Subjekt und Objekt ist weder ausschließlich
statisch noch ausschließlich dynamisch. Es ist als Prozessieren unter
dem Vorrang des Objekts zu fassen. Das heißt als eine ständige
wechselseitige Durchdringung von Objektivem und Subjektivem, von Form und
Inhalt, von Akteur und Aktiviertem, von Handelndem und Behandeltem, Erkanntem
und Erkennendem unter dem permanenten vermitteltendem Banne des bestehenden
Ganzen.
Erkenntnis ist immer nur die erfaßte Essenz von dem, was sie nicht
erfaßt. Weil sich die Totalität der Wertvergesellschaftung mit sich
identisch gibt, ist sie der falsche Zustand eines in sich geschlossenen
Prozesses, der den Schein seiner geistigen Undurchdringbarkeit an die Subjekte
vermittelt. Diese Abgeschlossenheit anzuerkennen, ohne sie zu skandalisieren
wäre die freiwillige Unterwerfung unter einen gewaltförmigen
Zustand, der sich als die einzigst wahre Natur der Dinge selbst verschleiert.
Sich nicht von der Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis abbringen zu
lassen, solange man durch individuelle Bewußtwerdung und Aneignung die
Wahrheit über den Zwangscharakter der kapitalistischen Gesellschaft denken
und aussprechen kann, ist nichts anderes als der Versuch, durch Kritik die
Lüftung des objektiven Schleiers der Verdinglichung qua Tauschabstraktion
aufrechtzuerhalten und emanzipatorisch voranzutreiben. Weil dieses Unterfangen
sich an Bedingungen knüpft, ist es nicht bedingungslos zu leisten. Kritik
ist so nicht voraussetzungslos, sondern setzt Bedingungen voraus, unter denen
eine Kritik der Religion als Bedingung jeder Möglichkeit überhaupt
objektiv leistbar ist.(3) Der Standpunkt der Kritik ist somit
zugleich parteinehmenden Charakters gegenüber Verhältnissen, die die
Bedingung der Möglichkeit von Kritik in sich bergen. Diese Parteilichkeit
geht in den Standpunkt der Kritik ein, welcher nicht vorweg bezogen werden
kann, sondern sich auf den Gegenstand der Kritik einzulassen hat, ohne den
Boden unter den Füßen zu verlieren. Der feste Standpunkt der Kritik
ist die Notwendigkeit für konsequentes Bewußtsein von
Nichtidentität des Begriffs mit dem Gegenstand. Eine negative Dialektik,
die dem Bewußtsein von Nichtidentität verpflichtet sein soll, hat
permanent darauf zu reflektieren, daß die sachliche Kritik nicht
identisch sein kann mit der Sache der Kritik.
Ein Begriff gebährt sich nicht selbst und wird auch nicht durch einen
anderen Begriff geboren. Das idealistische Primat des Begriffes drückt
sich in dem Verständnis von Begriffen aus. Jenes sorgt dafür,
daß die Begriffe mit dem Gegenstand identisch gedacht werden, anstatt sie
durch dialektische Bestimmung von Sache und Begriff zueinander ins
Verhältnis zu setzen. Das Primat des Begriffes als undialektische
Maßgabe erzeugt notwendig die Beliebigkeit des Begriffs. Sie drückt
sich insbesondere darin aus zu betonen, es ginge nicht um den formalen Begriff,
sondern zuvorderst darum, was man darunter verstünde, weil es einem ja um
Kritik des Inhaltes zu tun sei. Diese unmaterialistische Verdrehung objektiver
Tatsachen ist der Grund dafür, daß man den Begriff mit dem Begriff
auszuspielen gedenkt: Wir machen die richtige Politik und die anderen die
falsche'. So oder ähnlich drückt sich das formal aus.
Nicht was man selbst unter dem Begriff faßt, sondern was sich
gesellschaftlich unter dem Begriff fassen läßt, darum und um nichts
anderes dreht sich der Zweck von Kritik. Das heißt, diese objektive
Formbestimmung ist keine Dekonstruktion von Begriffen, sondern gerade im
Gegenteil ihr Geltenlassen. Im Gegensatz zu dialektischer
Formbestimmung, also Darstellung als Kritik, ist Dekonstruktion völlig
unkritisch. Denn sie zerpflückt den Begriff willkürlich wider seiner
wirklichen objektiven Bedeutung, als ginge es um den Begriff und nicht um die
Wahrheit über die Wirklichkeit, für die er steht.
(4)
Der Begriff ist zwar immer Teil der Wirklichkeit, aber nicht identisch mit dem,
was er seinem Wesen nach faßt. Begriffsbildung hat immer einen dem
Begriff äußerlichen Grund, weil sie sich nicht selbst Zweck sein
kann. Begriffe sind immer Begriffe von etwas. Und Kritik zielt auf die
Bestimmung des Verhältnisses des Etwas vom Begriff und dem Begriff vom
Etwas.(5)
Politik
Das Subjekt ist die gesellschaftliche Form des Individuums Mensch als
Naturwesen. Somit ist der Subjektstatus zugleich die Loslösung von
Naturverfallenheit und dennoch ihr als Individuum im Stoffwechsel verhaftet.
Das Subjekt steht also für Loslösung von erster Natur. Die
Subjektwerdung des Menschen als gleichzeitige Geschichte der Entstehung und
Durchsetzung des Subjektbegriffs ist unmittelbar mit dem Beginn der
gesellschaftlichen Auftrennung von geistiger und köperlicher Arbeit, von
Kopf- und Handarbeit verbunden. Diese Auftrennung ist allerdings älter als
das Abstraktum Geld. Vielmehr hat das Geld seine Vorgeschichte, ohne die nicht
erklärt werden kann, warum das Geld als Verdinglichung der
Tauschabstraktion in die Welt kam. Geld verkörpert nicht die Urszene der
Auftrennung von geistiger und körperlicher Arbeit, sondern ist
vergegenständlichte Beschleunigung des Vergesellschaftungsprozesses in
neuer Qualtität. Geld ist Folge der Vergeistigung des Menschen, welche
wiederum Bedingung des Tausches ist. Geld und Tausch sind also weder Ursache
der Vergeistigung des Menschen noch fallen sie mit ihr zusammen. Vielmehr ist
wohl die Unterwerfung der Urhorde unter das Totem durch den Vatermord als
Ausgangspunkt dafür zu sehen, daß sich der Mensch zunehmends in die
Lage versetzte und versetzt sah zu abstrahieren. An die Stelle des Vaters das
Totemtier zu setzen, ist eine Abstraktionsleistung neuer Qualität. Auf
ihr beruht die Menschengestaltwerdung der Gottheiten im
Mythos.(6)
Daß der Begriff der Politik gemeinhin auf das griechische Wort
Polis zurückzuführen ist, das für den antiken
Stadtstaat stand, hat sein geschichtliches Kontinuum seit Platon in der
Fragestellung vom Verhältnis der Politik gegenüber der Macht und der
Moral, die sich seitdem ungebrochen ausschließlich an der Zwecksetzung
der Staatsdienerei festmacht. In einer zaghaften aber doch entscheidenden
Loslösung vom Mythos der Naturverfallenheit durch das Entstehen einer
geistigen Rationalität des patriarchalen Logos - als
männliche Reflexion auf weibliche Natur durch
einen ersten Begriff von menschlicher Vernunft - gewann die Frage der
moralischen Integrität des einzelnen Repräsentanten für die
anderen Bürger der Polis dadurch an entscheidender Bedeutung, weil
erstmals vermittels des Staates das Recht auf Gleichheit als Bürger in die
Welt kam.(7) Dies um so mehr, als die Institutionalisierung der
Politik zu jener Zeit unvorstellbar war und der einzelne Bürger sein
moralisches Urteil über gerecht oder ungerecht, gut oder schlecht des
einzelnen Repräsentanten der Polis relativ unvermittelt und direkt
fällen konnte. In der Polis entwickelte sich also eine Art Urbild des
Politikers, der noch nicht im modernen Sinn Repräsentant von etwas,
sondern nur für etwas war - die Garantie einer natürlichen Ordnung,
einer Ordnung von Natur aus.
Als ausschließlicher Ausdruck von Staat ist der Begriff der Politik
unlösbar mit ihm und dem Recht auf Gleichheit seiner Bürger
verbunden. Wenn auch in der Antike noch nicht mit einem im heutigen Sinne
institutionalisierten Staat, so knüpft sich doch entscheidend die
Entstehung der gesellschaftlichen Kategorien von Moral und Macht von Anbeginn
an den Begriff der Politik, der im Verlaufe der Antike immer stärker vom
Begriff der Gesellschaft abgekoppelt wird. Die grundsätzlich
konstituierende Wesenseigenschaft von Politik läßt sich historisch
nicht wegreden. In Folge der Durchsetzung von allgemeiner Moral und Macht
mußte sich entsprechend auch die Bestimmung von richtiger und falscher
Politik an den beiden Kategorien entlang entwickeln.
Daran änderte sich auch nichts an der Schwelle zum Mittelalter, als
Politik zur Heilserwartung gegenüber dem Allmächtigen wurde und sich
das politische Gemeinwesen im Zuge der christlichen Monotheisierung zur
civitas, zum Gottesstaat, transformierte. Politik als
ausschließlich Gott-gegebenes Mittel rechtfertigte sich dort allerdings
nur noch als eines zur grundsätzlichen göttlichen Erlösung.
Damit allerdings war die Verengung des Politik-Begriffes auf den
ausschließlichen Willen Gottes zugleich die Voraussetzung zur
späteren modernen Ausdehnung zur staatlichen Allerweltskategorie des
Handelns innerhalb des staatlichen Gemeinwesens und so etwas wie die
Begründung eines modernen Begriffes von Geschichte. Politik gilt seitdem
als unmittelbares, mittelfristiges wie auch langfristiges Mittel der
Bürger zur Durchsetzung ihrer jeweiligen staatlichen Interessen bzw. ihrer
Interessen am Staat.
Die grundsätzliche Bindung der Bürger durch den Begriff des
Politischen an den Staat ist das ungebrochene Charakteristikum der Politik. So
ist Politik historisch zu bestimmen als Mittel zur Identifikation mit
Herrschaft, als eine Art Fugenkitt von Herrschern zu Beherrschten, Beherrschten
zu Herrschern, von Herr zu Knecht und von Knecht zu Herr.
Im 16., 17. und 18. Jahrhundert unternahm man nach und nach Versuche, den Staat
empirisch und geschichtlich aus der Wirklichkeit menschlicher Erfahrung heraus
zu legitimieren. Dabei bröckelte die Idee einer göttlichen Ordnung
zusehends. Der Staatsbegriff wurde wie die Sinnenwelt wissenschaftlich
entzaubert, so daß der Staat seitdem als menschliche Erfindung gilt. Der
damit einhergehende Pragmatismus in der Bestimmung vernünftiger
Sittlichkeit von staatlichem Zweck und Mittel fand sein Ende in der Diskussion
um einen Gesellschaftsvertrag als eine allgemein-abstrakte Willensbekundung.
Der berühmte Satz von Rosseau, daß der Mensch zwar frei geboren sei,
doch überall zugleich in Ketten läge, verweist auf einen spezifischen
Bruch mit einer naturgebundenen Ordnung durch eine allgemeine
Willensübereinkunft. Dieser Übergang vom Naturzustand in den
staatsbürgerlichen Zustand bewirkt im Menschen eine sehr bemerkenswerte
Veränderung, indem im Verhalten desselben die Gerechtigkeit an die Stelle
des Instinktes gesetzt und seinen Handlungen die Sittlichkeit gegeben wird, die
ihnen zuvor fehlte. Nun erst, da die Stimme der Pflicht an die Stelle des
physischen Triebes tritt und das Recht an die Stelle der Begierde, sieht sich
der Mensch gezwungen, nachdem er bislang nur auf sich selbst Rücksicht
genommen, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu Rate
zu ziehen, ehe er seinen Neigungen folgt (...).(8) Das Leben des
einen und des anderen ist das gemeinschaftliche Ich des Ganzen, die
gegenseitige Empfindlichkeit und die innere Übereinstimmung aller Teile.
Hört diese Verbindung auf, verschwindet die formelle Einheit und
hängen die zusammengehörigen Teile nur noch durch eine
Nebeneinanderstellung zusammen, so ist der Mensch tot, oder der Staat ist
aufgelöst.(9)
Der Rosseausche Gesellschaftsvertrag beanspruchte tatsächlich den Bruch
mit dem Recht des Stärkeren mittels Durchsetzung eines allgemeinen
Gleichheitspostulats. Das heißt, im wohnte von der Idee tatsächlich
die geschlechtliche Gleichstellung von Mann und Frau auf der Basis ihrer
Trennung inne. Doch allein eingedenk der Tatsache, daß Rosseau die
Gleichheit nur auf der Basis der patriarchalen Familie und des Naturrechtes zu
denken vermochte, untergrub er seinen eigenen Anspruch. Die
Aufklärungskritik von Rosseau richtete sich auf jene Form der
vernünftigen Naturerkenntnis, die sich in der Formulierung abstrakter
Naturgesetze und ihrer technischen Anwendung erschöpfte. Mit seinen
Vorstellungen über die Natur der Frau brachte er jedoch genau die
gesellschaftlichen Voraussetzungen auf den Punkt, die zum Erfolg der
instrumentellen Vernunft auf dem Gebiet der Biologie notwendig
waren.(10)
Kant war es, der mit seinem kategorischen Imperativ, daß moralisches
Handeln sich daran bemessen müsse, daß man zugleich wollen kann,
daß alle anderen wie man selbst handelten, den allgemeinen utopisch
anmutenden Willen Rosseaus auf eine praktisch-sittliche Grundlage stellte. Sein
Verständnis von Politik gründet auf dem Primat des Rechts: Das
Recht muß nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht
angepaßt werden.(11)
Weil nur das vernünftig ist, was wirklich sei, und nur das wirklich, was
vernünftig, erklärte Hegels Idealismus den Staat zur
Wirklichkeit der sittlichen Idee: Alles, was der Mensch ist,
verdankt er dem Staat; er hat nur daran sein Wesen. Allen Wert, den der Mensch
hat, alle geistige Wirklichkeit, hat er allein durch den Staat (...). Denn das
Wahre ist die Einheit des allgemeinen und subjektiven Willens (...). Der Staat
ist nicht das Abstrakte, das den Bürgern gegenübersteht; sondern sie
sind Momente wie im organischen Leben, wo kein Glied Zweck, keines Mittel ist.
Das Göttliche des Staates ist die Idee, wie sie auf Erden vorhanden
ist.(12)
Der Staat als Gottesbeweis soll die wirkliche Natur des Menschen sein. Gerade
aber weil die bürgerliche Idee den Menschen zur rein abstrakten Kategorie
erklärt, gehört die bürgerliche Idee der Kritik unterzogen. Sie
setzt Natur mit Idee gleich und erklärt die Idee zur Natur. Nicht
natürliche Individualität, sondern abstrakte Gleichheit wird so zum
Maß aller Dinge. Der Mensch soll von Natur aus ein reines Abstraktum
sein. So wird die natürliche Individualität unter den Teppich der
bürgerlichen Gesellschaft gekehrt, auf dem die zu gleichen
Staatsbürgern erklärten herumtrampeln. Die abstrakte Gleichheit ist
in der bürgerlichen Gesellschaft zur materiellen Gewalt geworden. Sie, und
nichts anderes mehr, ist die Folie für die wesentliche Ungleichheit. Und
dennoch gilt: Nicht die Gleichheit an sich ist das Problem, sondern, warum es
sie überhaupt gibt und was aus ihr folgt. Auf die allgemeine
Zweckbestimmung von Gleichheit hat sich der Focus von Kritik zu richten. Nur so
läßt sich eine Kritik des Gleichheitspostulats auf der Höhe der
Zeit überhaupt realisieren, ohne hinter es zurückzufallen.
Die Aufklärung als der Tod Gottes und die Entzauberung der Welt ist
zugleich die Geburtsstunde der modernen Politik.(13) In dieser
drückt sich seitdem der verinnerlichte Zwang des Mitwirkens, Mitmachens
aus, dem das Individuum als bürgerliches Subjekt unterworfen ist. Es hat
sich zur Sehnsucht, zum Begehren geweitet. Der stumme Zwang der
Verhältnisse wird sehnsüchtig begehrt, weil jene die Sicherheit
geben, die man mit der Tötung Gottes durch die Aufklärung verlor. Die
Identifikation des Individuums mit seiner zwangsweisen Existenzform als Subjekt
ist die Gestalt gewordene Zugerichtetheit. Sie ist die Aufrichtung des Staates
in der inneren Natur des Ich. Es ist die Subjektivierung des Objekts und die
Objektivierung des Subjekts - die Verschmelzung zur Einheit. Der Bürger
repräsentiert den Staat und ist ihm unterworfen. Aber nur weil er ihm
unterworfen ist, kann er ihn überhaupt repräsentieren: Das ist der
Doppelcharakter staatlichen Identitätszwanges. In ihm schlummert der
Glaube an Gott als verdrängtes Etwas.
Politik ist Apologie des Bestehenden, nicht die Kritik. Sie verschafft sich
nicht etwa Ausdruck im Verhältnis zu Macht und Gemeinwohl, sondern setzt
die Affirmation beider voraus. Sie ist die Verkehrsform des Staates. Der Zweck
der Politik ist die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung auf der Höhe
der Wertvergesellschaftung - als Mittel zum Zweck des Staates. Das Politische
drückt so objektiv den Willen zur Aufrechterhaltung der staatlichen
Ordnung aus, nicht aber ihre Überwindung. Politik ist das Ringen um die
richtige staatliche Form.
Ein Staat nötigt seinen Bürgern immer die politische Verkehrsform
auf, die ihn nicht etwa gefährden, sondern an ihn binden. Politik ist
dafür sinnstiftend. Sie konstituiert und reproduziert jenen
Gemeinschaftsgeist, durch den der Staat seine Bürger an sich bindet und
sich vor ihnen zugleich legitimieren kann.
Die Nation ist der kulturelle Ausdruck des Staates. Die Demokratie sein
politischer. Ohne ihn gäbe es beide nicht. Politik ist das Bindemittel
zwischen Demokratie und Kultur innerhalb des Nationalstaats. Sie ist also
notwendig demokratisch und national. Sie bildet die gemeinsame Klammer von
Opposition und Machthabern, welche als Einheit in der Gegensätzlichkeit zu
betrachten sind: nur dort, wo politisch Macht, ist auch Opposition, die sich
dergestalt affirmativ zur Macht verhält, in dem sie selbst nach ihr
trachtet. Wo Macht ist, ist auch Gegenmacht, sonst verliert Machterhalt ihren
Sinn. Insofern ist Politik als Machtgerangel, als binäres Ganzes von Pro
und Contra zu fassen.
Das Soziale definiert sich darüber, wer potentiell das Recht auf sozialen
Umgang für sich und andere beanspruchen kann. Es ist also nicht
freischwebend, sondern Ausdruck rechtsförmiger Verhältnisse und
Verkehrsweisen. Das Soziale liegt dem Politischen zugrunde. Insofern ist
Politik ebenso vermittels des Sozialen an die Rechtsform gebunden.
Politik kann nicht autonom sein. Sie ist nicht etwa der eigenen begrifflichen
Definition unterworfen, sondern der Wirklichkeit, die der Begriff der Politik
sachlich zum Ausdruck bringt. So kann man das Wesen der Politik nicht erfassen,
ohne das Wesen des Staates erfaßt zu haben. Umgekehrt allerdings
läßt sich das Wesen des Staates erfassen, ohne das Wesen der Politik
ergründet zu haben. In diesen beiden Sätzen ist das ganze Geheimnis
des Elends einer Kritik der Politik eingeschrieben. Wer also die Bestimmung des
Politischen von der Kritik des Staates abschneidet, kann nicht zu einer Kritik
der Politik vordringen, sondern nur zum Ausspielen von schlechter gegen gute
Politik. Das aber heißt nichts anderes, als daß man sich in genau
jene Fänge des staatlichen Politspiels begibt, das Joachim Bruhn als
Spiegelspiel der Politik bezeichnet.(14) So beraubt
man sich nicht nur eines kritischen Verhältnisses zur Politik, sondern
eines zu Staat und Kapital überhaupt. Denn ohne Kritik der Politik ist
eine Kritik von Staat und Kapital nicht etwa nur die halbe Miete, sondern
zugleich die unkritische offene Flanke zum staatlichen Mitmachen.
Politik als die Kunst des staatlich Möglichen negiert nicht nur der Form
nach das Unmögliche, sondern vermag durch Bindung an den Staat nicht
über das hinauszuweisen, was man unter dem Banner der Politik
unmöglich abschaffen kann - den Staat. Sich auf das Geschäft der
Politik einzulassen ist der Ausdruck für das Eingedenken des Staates in
das Individuum. Jene Verstaatung des Denkens und Handelns als Subjekt, die die
Verantwortung im Sinne des Kategorischen Imperativs Kants zum Kriterium des
Politischen erhebt. Denn unverantwortliche Politik gibt es nicht, nur den
Vorwurf derselben als ein Drücken vor der Verantwortung, die die Politik
gebietet.
Das Festhalten am staatlichen Mittel der Politik zum Zwecke der Kritik des
Bestehenden ist die Ambivalenz von Bewußtlosigkeit und Verdrängung
der qua Zwang anerkannten Autorität Staat vermittels der Subjektform, die
nicht als objektiver Ausdruck gewaltförmiger Verhältnisse reflektiert
wird. Gerade unter diesem Aspekt kann man das Wesen des Verhältnisses von
Citoyen und Bourgeois in der Form des bürgerlichen Subjekts nicht
erfassen. Denn Politik ist letztlich die Reaktion auf die Verdinglichung des
Warenfetischs: sie stellt die falschen Machtfragen, die statt auf wirkliche
Veränderung drängen zu lassen durch notwendig falsche Antworten immer
wieder die formalen Bedingungen der Wertvergesellschaftung reproduzieren.
Den Staat nur als ein seinen Bürgern äußerliches
Zwangsverhältnis zu denken, das seine Bürger unterdrücken
würde, verweist auf ein statisches Verständnis von Subjekt und
Objekt. Gerade aber das Eingedenken, die Verstaatung des Denkens, verweist
darauf, daß das Subjekt das Objekt genauso beeinflußt wie das
Objekt das Subjekt. Staat ist also ein zwischen Statik und Dynamik
prozessierendes Verhältnis unter dem Vorrang des Zwanges.
Die Halluzination vom freien politischen Willen des Bürgers führt
regelmäßig dazu, daß das schließliche Resultat
politischen Handelns oft, nein: geradezu regelmäßig, in völlig
unadäquatem, oft in geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem
ursprünglichen Sinn steht, schreibt Max Weber.(15)
Und er bestimmt daraufhin eine Ethik des Politischen als Gesinnung des
Gemeinwesens - gesinnungsethisch oder aber als Verantwortung
für dasselbe - verantwortungsethisch.(16) Beide
seien, trotz ihrer Unterschiedlichkeit nicht absolute Gegensätze,
sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen, den
der den Beruf zur Politik' haben kann.(17)
Die Mischform aus Gesinnung und Verantwortung für den Staat schießt
zum Begriff des Politischen zusammen, den Carl Schmitt in seiner berühmten
Definition als einen bezeichnet hat, der den Begriff des Staates nach sich
zieht.(18) Im Laufe dieses Textes sollte allerdings deutlich
geworden sein, daß Schmitt mit dieser Definition eine typische Verkehrung
des Wirklichen zum reinen Begriff vornimmt, wenn er auch mit seiner Definition
die unauflösbare Verquickung des Politischen mit dem Staat deutlich macht.
Zwar läßt sich der Begriff der antiken Polis als dem Begriff des
Staates vorgängig bezeichnen. Doch die wirkliche Geschichte um das Wesen
der Polis verweist genau auf das Gegenteil. Entscheidend ist die Wirklichkeit
des Stadtstaates und nicht der Begriff oder die Idee von ihm. Insofern setzt
vielmehr nicht der Begriff des Staates den des Politischen voraus, sondern
umgekehrt der Begriff des Politischen den des Staates. Schmitt bestimmt also im
genauen Gegenteil zur Intention materialistischer Kritik nicht den Begriff im
Verhältnis zur Sache, sondern die Sache im Verhältnis zum Begriff.
Folgerichtig meint er zur Begründung seiner Definition des Politischen:
Wir dürfen es dahingestellt sein lassen, was der Staat seinem Wesen
nach ist (...). Eine Begriffsbestimmung des Politischen kann nur durch
Aufdeckung und Feststellung der spezifisch politischen Kategorien gewonnen
werden. Das Politische hat nämlich seine eigenen Kriterien (...). Das
Politische muß deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf
die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt
werden kann (...).(19) Hier erstrahlt der Idealismus in
Form eines Primates des Begriffs. Wo der Begriff eigenen Kriterien unterliegen
soll steht er über der materiellen Wirklichkeit, die den Begriff gebahr.
Und wo er sich mittels eigener Kriterien selbst von sich unterscheiden soll,
gerät der Versuch der Begriffsbestimmung nicht zur Lösung des
politischen Rätsels, sondern vielmehr zum Rätselraten über die
politische Lösung. Nach Schmitt kann das Politische
seinsmäßige Sachlickeit und Selbständigkeit
für sich beanspruchen.(20) Denn selbst der Staat als
die maßgebende Einheit beruht auf seinem (...)
Charakter.(21) Nicht also das Politische beruht auf der
materiellen Gewalt des Staates, sondern die materielle Gewalt des Staates soll
auf der Idee des Politischen beruhen. Diese grundsätzliche Widersinnigkeit
des Idealismus hatte schon Marx bei Hegel aufgedeckt: Die Seele der
Gegenstände, hier des Staates, ist fertig, prädestiniert vor ihrem
Körper, der eigentlich nur Schein ist. Der Begriff'ist der Sohn in
der Idee', dem Gott Vater, die treibende Kraft, das determinierende,
unterscheidende Prinzip. Idee' und Begriff' sind hier
verselbständigte Abstraktionen.(22)
Kritik der Politik
Die Gewalt, die nicht etwa vom Staat ausgeht, sondern die der Staat ist, ist
die Gewalt gegen das Individuum. Die Gewalt zwingt das Individuum in die
bürgerliche Subjektform von Bourgeois und Citoyen. Weil es in ihr aufgeht,
verwandelt sie die Abstraktion in zweite Natur, die für die
natürliche und damit ahistorisch-überzeitliche gehalten wird. Weil
der Staat die vermittelnde Gewalt zwischen Subjekt und Individuum ist, ist
seine Vermittlung Gewalt, die dem Individuum qua Geburt angetan wird. Der
Vertrag zwischen Individuum und Subjekt ist keiner. Er ist nicht Ausdruck des
allgemeinen Willens, sondern von allgemeiner Befehlsgewalt, der der Mensch
unterworfen ist. Die Sicherheit der Staatsbürger wie die Sicherheit des
Staates ist der höchste soziale Begriff der bürgerlichen
Gesellschaft.(23) Er steht zugleich für die Gewalt
gegen jede staatenlose Barbarei wie für Gewalt gegen jede staatenlose
Freiheit. In ihm bündelt sich die Wahrheit über die menschliche
Naturbeherrschung, die immer auch Menschenbeherrschung
einschließt.(24)
Kritik der Gewalt ist die Philosophie ihrer Geschichte. Als solche
verweist sie auf den untrennbaren Zusammenhang von Recht und
Gewalt.(25) Damit sind die Kategorien von Gerechtigkeit und
Macht zugleich ihrer Gewaltförmigkeit überführt und unter diesem
Aspekt in schroffen Gegensatz zu menschlicher Freiheit zu
setzen.(26) Es gilt außerdem: nicht Recht und Macht haben
den Staat hervorgebracht, sondern umgekehrt der Staat die gesellschaftlichen
Kategorien von Recht und Macht.
Wenn von Clausewitz den Krieg als die Fortsetzung der Politik mit anderen
Mitteln begreift, dann läßt sich daraus der Umkehrschluß
ziehen, daß die Wesensverwandtschaft von Krieg zu Politik genauso wenig
zufällig ist wie die von Politik zu Krieg. Man kann deshalb Politik im
Umkehrschluß auch bestimmen als das Vorspiel des Krieges mit anderen
Mitteln.
Eine Affirmation des Politischen verunmöglicht eine Kritik der Gewalt.
Denn man hat sich dergestalt auf die Gewalt über den objektiven Zwang
hinaus eingelassen. So verdoppelt man die objektive Existenzweise als
politisches Subjekt, in dem man sich selbst zum Subjekt des Politischen macht:
Man wird als Staatsbürger zum staatsfetischistischen Gewaltakteur neuer
Qualität. Politik ist also einmal mehr als die aktive Verschleierung
gewaltförmiger Verhältnisse zu benennen. Sie verunmöglicht
geradezu eine radikale Kritik der Gewalt. Denn wirkliche Kritik der Gewalt ist
nicht die Frage nach schlechterer und besserer, gerechterer und ungerechterer,
sondern ihre Kritik überhaupt.(27)
Das Festhalten an der Politik als Form und Mittel läßt sich auf das
Festhalten an der Statik des Marxschen Basis-Überbau-Schemas
zurückführen.(28) Bewußt oder unbewußt
spielte Kritik dieses Thema in verschiedenen Variationen, obwohl Marx
insbesondere in seinen sogenannten Frühschriften anderes
nahelegt.(29) So heißt es bei ihm zum Beispiel in seiner
Kritik des Hegelschen Staatrechts: Die höchste politische Gesinnung
ist die Gesinnung des Privateigentums.(30) Noch deutlicher
wird Marx in seiner Schrift Zur Judenfrage, die bekanntlich mit dem Ergebnis
endet, daß es nicht darum gehen kann, das Judentum innerhalb der
bürgerlichen Verhältnisse aufzuheben, sondern nur darum, die
bürgerlichen Verhältnisse abzuschaffen, mit deren Ende auch die
Emanzipation vom Judentum vonstatten geht. Wir sagen (...) nicht (...)
den Juden: Ihr könnt nicht politisch emanzipiert werden, ohne euch radikal
vom Judentum zu emanzipieren. Wir sagen ihnen vielmehr: Weil ihr politisch
emanzipiert werden könnt, ohne euch vollständig und widerspruchslos
vom Judentum loszusagen, darum ist die politische Emanzipation selbst nicht die
menschliche Emanzipation. Wenn ihr Juden politisch emanzipiert werden wollt,
ohne euch selbst menschlich zu emanzipieren, so liegt die Halbheit und der
Widerspruch nicht nur in euch, sie liegt in dem Wesen und der Kategorie der
politischen Emanzipation. Wenn ihr in dieser Kategorie befangen seid, so teilt
ihr eine allgemeine Befangenheit (...). Erst wenn der wirkliche Mensch den
abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt und als individueller
Mensch in seinem empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen
individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden ist, erst wenn der
Mensch seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche Kräfte erkannt und
organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der
Gestalt der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die menschliche
Emanzipation vollbracht.(31)
Kritik der Politik bedeutet nicht politische Emanzipation, sondern beansprucht
die Emanzipation von der Politik. Politik entspringt dem Rechtsverhältnis
des Warentausches, welches wiederum in ihm wurzelt.(32) Das, und
nichts anderes, ist das notwendig verpuppte wesentliche Geheimnis der
politischen Ökonomie. Es liegt in dem spezifischen
Verhältnis von Warenform und Rechtsform, in dem die gesellschaftlich
gültigen, also objektiven Gedankenformen erzeugt
werden.(33) Deshalb besteht die Gretchenfrage einer Kritik der
Politik wie folgt: Kann das Recht als gesellschaftliches Verhältnis
aufgefaßt werden, in demselben Sinne, in dem Marx das Kapital ein
gesellschaftliches Verhältnis genannt hat?(34) Kritik
ist somit zugleich nicht nur der analytisch-darstellende Versuch, ob sich
in der Fortsetzung der Kritik der politischen Ökonomie in die Kritik
der Politik (...) das Ökonomische ins Politische
übersetzt(35), sondern auch umgedreht, ob, wie und warum
sich das Politische ans Ökonomische rückbinden läßt.
Seit Engels die Marxsche Staatskritik positivistisch auf das Maß des
Übergangs vom bürgerlichen zum absterbenden Staat heruntergebrochen
hat(36), zählt der Streit um die richtige
revolutionäre Organisationsform mehr als der inhaltliche darum, was
überhaupt abzuschaffen ist: es war also weniger ein Streit um Weg und Ziel
als einer um die richtigen Transportmittel auf dem Weg zur Revolution.
Vielleicht ja insgeheim wegen Lenins Referenzen an die Eisenbahn geriet seine
Schrift Staat und Revolution zum jahrzehntelangen Mittelpunkt der
Auseinandersetzung um den richtigen Weg zum Engelsschen Absterben des Staates.
Für Lenin war der Staat das Produkt und die Äußerung der
Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze, wobei die Existenz des
Staates wiederum gleichzeitig als Beleg dafür anzusehen wäre,
daß die Klassengegensätze unversöhnlich
sind.(37) Für Lenin war klar, daß es sich beim
Absterben des Staates offenkundig um einen langwierigen Prozeß
handelt.(38) Die Herbeiführung des Absterbens
allerdings könne, als allgemeine Regel, nur durch eine gewaltsame
Revolution erfolgen, denn nur der proletarische Staat, der kein
Staat im eigentlichen Sinne mehr wäre, könne absterben, nicht
aber der bürgerliche Statt seinem Wesen nach.(39)
Unter Berücksichtigung der Leninschen Diktion tritt das instrumentell
rationale Moment des Festhaltens an der gesellschaftlichen Kategorie Politik -
sei sie nun parlamentarisch oder außerparlamentarisch - deutlich zu
Tage.
Revolutionäre Politik ist somit eine, die zwar intendiert, das
Mittel der Politik gezielt zu benutzen, um die Revolution herbeizuführen
und damit den bürgerlichen Staat abzuschaffen, sich aber gerade mittels
der Politik im Staat verfängt: der Staat ist Fetisch, weil die Politik zum
Bedürfnis wird, das unbedingt befriedigt werden muß. Wer die
grundsätzlich dialektische Wesensverwandtschaft von Staat und Politik
nicht erfaßt, räumt folgerichtig der sogenannten Organisationsfrage
das Primat ein. So auch Hans Jürgen Krahl, der in seinem Aufsatz Zu
Lenin: Staat und Revolution in ungebrochener Engelsscher Tradition davon
ausging, daß der proletarische Staat (...) von vornherein sichtbar
die Tendenz abzusterben in sich trage.(40) Unter diesen
Voraussetzungen landete Krahl folgerichtig bei einer Kritik des Leninschen
Dogmatismus und damit bei dem Ringen um die richtige
revolutionäre Organisierung.(41) Der Streit um die richtige
Organisierung ist immer der Friedensschluß mit der Politik. Andersherum
ist die Affirmation der Politik das Festhalten an der sogenannten
Organisationsfrage. So drehen sich Organisierung und Politik im Kreis: Man
macht die Politik der Organisierung wegen oder aber man macht wegen der Politik
die Organisierung. Daß hier etwas zum tautologischen Selbstzweck wird,
liegt auf der Hand. Der ausgerufenen höheren Zwecksetzung einer
grundlegenden Umwälzung unmenschlicher Verhältnisse kommt so nur noch
eine distinktiv-bekennerhafte Alibifunktion zu.
Das Klammern an die sogenannte Organisierungsfrage ist nichts weiter als das
unbewußte Festhalten und reproduzieren des unsäglichen
Avantgardegehabes. Organisierung ist ein objektiv nicht lösbares Problem.
Das allerdings ist kein Einwand gegen ihre durchaus vorhandene Notwendigkeit,
sondern impliziert die Kritik an den Verhältnissen. Grundsätzlich
gilt: nur weil etwas nicht möglich ist, muß es noch lange nicht
falsch sein. Weil aber genau darum etwas an den Verhältnissen nicht
stimmen kann, bedarf es ihrer Kritik. Anstatt also zu fragen, wie
Organisierung möglich sein könnte, sollte man fragen, warum
Organisierung unter den Vorzeichen von Emanzipation nicht möglich ist. So
betrachtet ist Kritik der Politik zugleich Selbstkritik der eigenen
Existenzweise, die auf das Verhältnis von sich und dem Bestehenden
reflektiert.
Der Terror der Verhältnisse nötigt zur immergleichen Zwangshandlung
des Tausches. Darin spiegelt sich auch das neurotische Moment des Politischen:
es soll nicht wahr sein, was wahr ist, weil wahr ist, was nicht wahr sein kann.
Daß sich die kapitalistische Wirklichkeit als eine einzige große
Ungeheuerlichkeit fassen läßt, ist ein Skandal, den man nicht leicht
erträgt. Daraus erwächst zu allem Überfluß auch die
Nötigung, die unerträgliche Übersichtlichkeit der
Verhältnisse - ihre fortwährende Reduktion von allem und alles aufs
Immergleiche des Werts - zur Unübersichtlickeit zu verklären. Die
materielle Aufspaltung der Wirklickeit durch Realabstraktion nur zu dem einen
Zweck der Selbstverwertung des Werts findet seinen Ausdruck in der Form des
Denkens: die zweckgerichtete Zerlegung der Wirklichkeit wird im wahrsten Sinne
des Wortes zur baren Münze eines a priori. Selbst der Begriff von
Geschichte ist nichts als Perversion: man bastelt ihn sich höchst
wissenschaftlich einzig und allein zu dem Zweck zusammen, damit alles so bleibt
wie es ist. Das grassierende Expertentum dieser Gesellschaft drückt nichts
weiter aus als die zwangsverordnete Stillstellung der Geschichte.
Wer nur lange genug an einem Linken kratzt, fördert unter Garantie
einen Milieutheoretiker zutage, einen Menschen also, der sich unter Dialektik
eigentlich nichts als die Wechselwirkung vorstellen kann, schreibt
Joachim Bruhn(42) und beschreibt damit nur allzu treffend das
Niveau einer intendierten radikalen Gesellschaftskritik, die bestenfalls bei
der Systemtheorie eines Niklas Luhmann oder bei der Diskurstheorie eines
Jürgen Habermas landet. Ob man es nun Lebenswelt (Habermas)
oder Welt der Systeme (Luhmann) nennt, sich der Totalität der
Weltgesellschaft nicht zu stellen, in dem man sie begrifflich zerlegt, ist der
Totalität selbst geschuldet: Sie vermag es, selbst noch die Idee vom
normativen Standpunkt zu zerstören, von dem aus nur die Reflexion auf das
ganze Ausmaß der Wertvergesellschaftung möglich werden kann. So
besteht eben die Schwierigkeit für Kritik nicht darin, den Gegenstand in
seinen Einzelteilen zu betrachten, sondern darin, ihn
umfassend zusammen denken zu können. Allein in dieser Erkenntnis steckt
die Widerlegung einer angeblichen Unübersichtlichkeit der Moderne.
Der gesellschaftliche Begriff vom Gegenstand enthält die Wahrheit
über ihn. Nur weil man über die Wirklichkeit nicht alles zu sagen
vermag, legitimiert sich darüber noch lange nicht, die Wirklichkeit auf
das zu reduzieren, was man für überschaubar hält. Das Problem,
dem sich Kritik zu stellen hat, entspringt vielmehr dem Gegenstand der Kritik:
sie muß auf einen Gegenstand reflektieren, der sich selbst durch
Scheinhaftigkeit der Reflexion zu entziehen versucht.
Wenn man Wahrheit beansprucht, stellt sich die Frage, ob und wie Kritik sie
behaupten kann. Umgedreht aber kann man Kritik nicht beanspruchen, ohne die
Wahrheit zu behaupten. Aus dieser objektiven Konstellation vermag weder die
Kritik noch die Kritiklosigkeit zu entfliehen. Kritik bleibt immer der
Wirklichkeit verhaftet, selbst wenn sie sich ganz fest einbildet, es nicht zu
sein. Weil aber gerade diese Einbildung Ausdruck der Wirklichkeit ist,
wäre gerade dann der Grund für sie zu ergründen. Denn die
Verhältnisse bringen objektiv jene Kritik hervor, die sie benötigen.
Damit aber ist weder über ihren immanenten noch über ihren
möglichen transzendenten Charakter vorab entschieden. Denn genausowenig
wie es eine geschichtliche Determinierung der Transzendenz gibt, gibt es
ausschließlich ihr Gegenteil - nämlich gar keine. Die
Verhältnisse entscheiden vorab nur darüber, daß die Kritik
nicht besser sein kann, als ihr substantiell zu Grunde liegt. So
läßt sich auch sagen, daß ein Diskurs niemals die Wirklichkeit
bestimmen kann, sondern immer die Wirklichkeit den Diskurs. Wessen Kritik also
auf die Kritik des Diskurses zielt und nicht auf die Verhältnisse, die ihn
hervorbringen und denen er Ausdruck verleiht, kritisiert nicht etwa, sondern
kommuniziert nur. Auch die Kommunikation drückt die Wahrheit aus, die es
zu ergründen gilt. Nur weil sie heutzutage einen tautologischen
Selbstzweck vorgaukelt, ist sich die Kommunikation noch lange nicht
Selbstzweck. Weil sie das aber nicht ist, liegt ihr etwas zu Grunde, was es zu
ergründen gilt. Nimmt man in kritischer Absicht die Kommunikation zum
Maßstab der Machtstabilisierung und Reproduktion, so erweist sich recht
schnell, daß sie immer noch Mittel zum Zweck ist - und sei es auch nur
der des normalen Geldverdienens. Wer sich aber längst dem
gesellschaftlichen Diktum unterworfen hat, über Geld nicht reden zu
wollen, sondern es lieber zu besitzen, redet eben über Dinge, über
die man nicht reden sollte, wenn man nicht weiß, was sie sind und
für was sie gesellschaftlich stehen.
Nicht anders verhält es sich mit der Politik. Einer Kritik derselben geht
es nicht um die Analyse eines obskuren Kommunikationssystems Politik, sondern
um die Bestimmung der Relation zischen der Form von Politik und ihrer Substanz.
Und diese Bestimmung ergibt sich gerade nicht an sich selbst des hermetisch
abgeschlossen betrachteten Systems von Politik, sondern ausschließlich
durch die Verhältnismäßigkeit zu anderen
gesellschaftsmächtigen Kategorien. Wer meint, über Politik nicht
reden zu müssen, weil man sie doch machen müßte, statt
über sie zu sinnieren, ist nicht besser als diejenigen, die aus der
Gesellschaft ein sprachlich-kulturelles Wolkenkuckucksheim machen
wollen.(43)
verwendete Literatur:
- Adorno, Theodor W., Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1966
- Agnoli, Johannes, Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990
- ders., Die Transformation der Linken, in: Sinn ist rar
- Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt, Frankfurt am Main 1965
- Bolte, Gerhard, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Unkritische Theorie, Lüneburg 1989
- Bruhn, Joachim, Was deutsch ist, Freiburg 1994
- Engels, Friedrich, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), in: Marx/Engels Werke Band 20,
- Hoerster, Norbert (Hrsg.), Klassische Texte der Staatsphilosophie, München 1976
- Horkheimer, Max/Adorno Theodor W., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969
- ders., Autoritärer Staat, in: Dubiel, Helmut/Söllner, Alfons, Frankfurt am Main 1981
- ders., Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt am Main 1967
- Grigat, Stephan, Was bleibt von Agnolis Kritik der Politik?, in: Streifzüge 01/2000
- Krahl, Hans-Jürgen, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am Main 1971
- Klein, Peter, Hier ruht Agnoli, in: Krisis 10/1991 oder www.krisis.org
- Lamer, Hans, Wörterbuch der Antike, Stuttgart 1995
- Lenin, Wladimir Iljitsch, Staat und Revolution, in: ders. Ausgewählte Werke Band II, Berlin 1966
- Ludwig, Bernd, Politik als ausübende Rechtslehre, in: Lietzmann, Hans J./Nitschke Peter (Hrsg.): Klassische Politik, Opladen 2000
- Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: MEW 1, Berlin 1964
- ders., Zur Judenfrage, ebenda
- ders. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, ebenda
- ders. Das Kapital Band I, Berlin 1955
- ders. Zur Kritik der Politischen Ökonomie (Vorwort), in: ders./Engels, Friedrich, Ausgewählte Schriften I, Berlin 1966
- Meyer, Thomas, Was ist Politik?, Opladen 2000
- Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft, Frankfurt am Main 2000
- Paschukanis, Eugen, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Frankfurt am Main 1966
- Reese-Schäfer, Walter, Antike politische Philosophie, Hamburg, 1998
- Scheich, Elvira, Natur' im 18. Jahrhundert und die Bestimmung der Geschlechterdifferenz; in: Gerhard Ute/Jansen, Mechthild/Maihofer Andrea/Schmid, Pia/Schulz, Irmgard (Hrsg), Differenz und Gleichheit, Frankfurt am Main 1997
- Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen, Berlin 1996
- Sturma Dieter, Jean-Jaques Rousseau, München 2001
- Türcke, Christoph, Sexus und Geist, Frankfurt am Main 1991
- ders., Vermittlung als Gott, Lüneburg 1994
- Weber, Max, Politik als Beruf, Stuttgart 1992
- ders., Wissenschaft als Beruf, in: Kaesler, Dirk (Hrsg.), Max Weber-Politische Schriften 1894 - 1922, Stuttgart 2002
Fußnoten:
(1) Der Autor ist sich darüber im Klaren, daß er, in
dem er auf die idealistische Relation von Form und Stoff des Aristoteles
rekurriert, zugleich die patriarchale Logik des Naturbegriffes reproduziert. So
schreibt Aristoteles: Weil aber die erste bewegende Ursache, in welcher
der Logos und die Form liegt, höher und göttlicher ist als der Stoff,
ist es auch besser, daß das Höhere vom Niederen getrennt ist, daher
ist überall da, wo es tunlich ist, das Männliche vom Weiblichen
getrennt. Denn besser und göttlicher ist das Prinzip der Bewegung, welches
das Männliche in den Geschöpfen ist; der Stoff aber ist das Weibliche
(...). Der Körper aber kommt vom Weiblichen, die Seele dagegen vom
Männlichen; denn die Seele ist das Wesen des Körpers.
(Aristoteles, Über die Entstehung der Lebewesen, 732a, 738b; hier zitiert
nach Christoph Türcke, Sexus und Geist, Frankfurt am Main 1991, S. 73)
(2) Max Horkheimer, Autoritärer Staat; in: Helmut Dubiel/
Alfons Söllner, Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus,
Frankfurt am Main 1981, S.69
(3) Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die
Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik
der Theologie in die Kritik der Politik. Karl Marx, Zur Kritik der
Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, Berlin 1964, S.379
(4) Ist das Wahre Sein nur das leere Jenseits der
Wirklichkeit, in der die Menschen sich stets schon vorfinden, so hat diese
Wirklichkeit keine Wahrheit in sich. Ist aber nichts in ihr wahr, so ist
zugleich alles in ihr wahr (...). Das ist die unvermeidliche Folge, wenn das
wahre Sein der materiellen Welt strikt entgegengesetzt wird. Fallen Wahrheit
und Wirklichkeit derart auseinander, so ist es um beide geschehen; sie
verdunsten in Bestimmungslosigkeit. Soll Wahrheit aber kein leerer Gedanke
sein, so muß er ein Fundament in der Wirklichkeit haben. Christoph
Türcke, Vermittlung als Gott, Lüneburg 1994, S. 28
(5) Kein Sein ohne Seiendes. Das Etwas als denknotwendiges
Substrat des Begriffs, auch dessen vom Sein, ist die äußerste, doch
durch keinen weiteren Denkprozeß abzuschaffende Abstraktion des mit dem
Denken nicht identischen Sachhaltigen; ohne das Etwas kann formale Logik nicht
gedacht werden. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main
1966, S.139.
Die Antinomie von Sein und Seiendem ist keine, weil ohne die Vermittlung von
beiden sie nicht als solche erkennbar ist. Das Seiende der Verhältnisse
bestimmt den Begriff vom Sein, in den die objektive Wirklichkeit eingeht.
Niemand wird in ein Sein geworfen, dem man an sich unterworfen wäre. Das
Sein ist nichts ohne das erkennende Subjekt, das sich durch das Seiende der
Verhältnisse einen Begriff vom Sein zu machen vermag. Und doch geht es
nicht, ohne daß dem Begriff vom Sein etwas äußerlich
wäre, was der Begriff nicht erfaßt. Insofern ist objektive Substanz
die Bedingung für subjektive Erkenntnis. Doch ohne subjektive Erkenntnis
ist nicht einmal das Nichts nichts. Insofern gilt es nur als solches, weil man
es zu erfassen vermag. Ohne Möglichkeit der Erkenntnis über das
Nichts wäre für den Menschen das Nichts nicht zu fassen. Erkenntnis
ist die Bedingung für einen Begriff vom Sein. Ein Nichts, das als Nichts
identifiziert ist, und sei es als eines, das sich nicht identifizieren
läßt - also als Negation der Negation, daß man weiß,
daß man nichts über es weiß - kann kein Nichts an sich sein,
sondern ist nur deshalb ein Nichts, weil man sich von einer Sache einen Begriff
gemacht hat, über die man glaubt zu wissen, daß sie das Nichts ist.
Erkenntnis über das Sein ist sinnlich gebunden an das Seiende, nicht von
ihm abtrennbar. Der Seinsbegriff birgt so nicht mehr und nicht weniger als die
Wahrheit über das Seiende in sich. Wie auch die sinnliche Erfahrung des
Seienden die Wahrheit über das Sein enthält. Adornos Kein Sein ohne
Seiendes bedeutet letztlich nichts anderes als Marx' Satz: Es genügt
nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit
muß sich selbst zum Gedanken drängen. Hierin drückt sich
die ganze Wahrheit über die Relation von Gedanke und Wirklichkeit, Sein
und Seiendem wie auch zugleich die ganze Relation von Wahrheit überhaupt
aus. (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW
1, Berlin 1964, S. 386)
(6) Vergleiche dazu Sigmund Freud, Totem und Tabu sowie ders.,
Der Mann Moses und die monotheistische Religion
(7) Vergleiche zum patriarchalen Gehalt des Logos und den
patriarchalen Gestehungskosten des Idealismus: Christoph
Türcke, Sexus und Geist, Frankfurt am Main 1991, S. 60 ff. Türcke
schreibt da u.a.: Der nur sich und seinesgleichen zulassende Logos ist
tief befangen in dem, was nicht seinesgleichen ist, sein Erstarren in reiner
Identität der Urschrecken des Idealismus. Von Anfang an ist der Wahn der
Autarkie des Logos von der Ahnung begleitet, daß er nicht wahr ist - wie
der Autarkiewahn des männlichen Geschlechts, aus dem er aufgestiegen
ist. Und auf Platons Schrift Politeia bezogen heißt es: ...
Keine Rede davon, der Frau das Vernunftvermögen abzusprechen, aber auch
keine davon, es ihr rundum zuzugestehen. Ähnlich ist sie dem Mann, aber
nicht gleich, also nicht subjektlos, aber auch nicht ganz Subjekt. (ebd.
S. 60)
(8) Jean-Jaques Rosseau, Werke IV, S.284, München 1996;
hier aus: Dieter Sturma, Jean-Jaques Rosseau, München 2001, S.145
(9) ebenda S.231; S.144
(10) Elvira Scheich, Natur im 18.Jahrhundert und die
Bestimmung der Geschlechterdifferenz, in: Ute Gerhard, Mechthild Jansen, Andrea
Maihofer, Pia Schmid, Irmgard Schulz (Hrsg.), Differenz und Gleichheit,
Frankfurt am Main 1997, S.254
Der Autor geht im übrigen grundlegend von der männlichen
Zugerichtetheit des Selbst als Ich im Sinne der Dialektik der Aufklärung
von Horkheimer/Adorno aus. Geteilt wir allerdings nicht, was sich ebenda im
Aufsatz Mensch und Tier findet. Dort heißt es zur westlichen
Zivilisation: Die Frau ist nie Subjekt. (Frankfurt am Main 1988,
S.264) Wäre das so, daß der Frau innerhalb der
Zivilisationsgeschichte der Subjektstatuts grundsätzlich verweigert wurde,
dann gäbe es weder das männlich zugerichtete Selbst noch hätte
sich überhaupt ein Gattungsbegriff Mensch durchsetzen können.
Zum Patriarchat im Kapitalismus geht der Autor mit Christoph Türcke
konform, der über die kapitalistische Entwicklung schreibt:
Vordergründig sieht dieser Prozeß aus, als sei er bloß
die Fortsetzung der altbekannten Männerherrschaft mit etwas anderen
Mitteln. So war er auch gedacht. Aber hinterrücks kam etwas anderes in
Gang: die Selbstaushebelung des Patriarchats. Männer betreiben verzweifelt
die innere und äußere Befestigung ihrer Herrschaft und untergraben
sie dabei (...). Kurzum, Männer heben die abstrakte Macht der
Quantität auf den Thron - und die Männerherrschaft aus den Angeln. Wo
dieser Vorgang beginnt, ist eine entscheidende Bruchstelle im historischen
Kontinuum des Geschlechterkampfes (...). Erst vom erwachsenen, zur großen
Industrie entfalteten Kapitalismus aus wird allmählich sichtbar, daß
in ihm etwas anderes zur Macht gelangt ist als Männer: ein
Herrschaftsprinzip, mit dem sie - vorerst jedenfalls - enger liiert sind als
Frauen und das dennoch nicht ihr eigenes ist (...). Eine entsinnlichte,
entgeistigte, neutralisierte ökonomische Gesetzmäßigkeit bildet
den äußersten Extrakt der Geschlechtsherrschaft, ohne selbst noch
Geschlechtsherrschaft zu sein. Das foppt beide Geschlechter, vor allem aber die
moderne Frauenbewegung. Wo sie ihren Kampf gegen die Männer beginnt, hat
das Patriarchat - aufgehört. (Sexus und Geist, Frankfurt am Main
1991, S.210 ff.)
Im übrigen enthält der historische Patriarchatsbegriff eine
unumstößliche Wahrheit. Daß nämlich Frauen und
Männer nicht nur gleich, sondern ebenso von Natur aus unterschiedlich
sind. Diese natürliche Unterschiedlichkeit ging als Wahrheit über
Natur bei allem männlichen Idealismus in die Entstehung des Patriarchats
mit ein. Ohne die natürlichen Unterschiede gar wäre eine sinnliche
Erfahrbarkeit wohl kaum möglich gewesen, auf deren Basis erst die
Reflexion auf sie erfolgte. So läßt sich also behaupten, daß
ohne die natürlichen Unterschiede zwischen den Menschen das Patriarchat
wohl hätte gar nicht entstehen können. Daß Denken von Natur -
die Reflexion auf sie - grundsätzlich nur mit Abspaltung des Geistes von
ihr möglich sein kann, ist kein Sonderfall des Denkens, sondern Bedingung
für es. Insofern liegt dem Idealismus der Frauenunterdrückung etwas
zugrunde, was sich als Präposition durch Natur fassen läßt.
(11) Immanuel Kant Akademie Ausgabe Band VIII, Berlin 1900; hier
zitiert nach: Hans J. Lietzmann/Peter Nitschke (Hrsg.), Klassische Politik,
Opladen 2000 S.176
(12) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie
des Rechts, Hamburg 1955, S.207; sowie ders. Die Vernunft in der Geschichte,
Hamburg 1955, S.111 ff.; hier zitiert nach: Norbert Hoerster (Hrsg.),
Klassische Texte zur Staatsphilosophie, München 1976, S.242 ff.
(13) vergleiche Friedrich Nietzsche, Der tolle Mensch, in: Die
fröhliche Wissenschaft, Stuttgart 2000, S.141. Nietzsche läßt
dort den tollen Mensch auf dem Marktplatz fragen: Wohin ist Gott? ... Ich
will es euch sagen! Wir haben ihn getötet, - ihr und ich! Wir alle sind
seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das
Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont
wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?
Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen?
Stürzen wir nicht fortwährend? Giebt es noch ein unendliches Nichts?
Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt
nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am
Vormittage gezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm
der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der
göttlichen Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott
bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die
Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt
bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, - wer wischt das Blut
von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche
Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist
nicht die Größe dieser That zu gross für uns? Müssen wir
nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es
gab nie eine grössere That, - und wer nur immer nach uns geboren wird,
gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle
Geschichte bisher war.
Vergleiche außerdem Max Weber, Wissenschaft als Beruf: Es ist das
Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und
Inellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, daß gerade die
letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der
Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens
oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen
zueinander. ... Wer - außer einigen großen Kindern, wie sie sich
gerade in den Naturwissenschaften finden - glaubt heute noch, daß
Erkenntnisse der Astronomie oder der Biologie oder der Physik oder der Chemie
uns etwas über den Sinn der Welt, ja auch nur etwas darüber lehren
könnten: auf welchem Weg man einem solchen Sinn' - wenn es ihn gibt
- auf die Spur kommen könnte? Wenn irgend etwas, so sind sie geeignet, den
Glauben daran: daß es so etwas wie einen Sinn' der Welt gebe, in
der Wurzel absterben zu lassen! Und vollends: die Wissenschaft als Weg zu
Gott'? Sie, die spezifisch gottfremde Macht? Daß sie das ist,
darüber wird - mag er es sich zugestehen oder nicht - in seinem letzten
Innern heute niemand im Zweifel sein. Erlösung von dem Rationalismus und
Intellektualismus der Wissenschaft ist die Grundvoraussetzung des Lebens in der
Gemeinschaft mit dem Göttlichen (...). (in: Max Weber, Schriften
1894 - 1922, Stuttgart 2002, S.510 und 493)
(14) vergleiche Joachim Bruhn, Was deutsch ist, Freiburg 1994,
S. 158. Es heißt dort: Die Linke und die Rechte sind das
Spiegelspiel der Politik (...). Das Spiegelspiel der Politik ist der
Prozeß der Verschmelzung von Legalität und Legitimät zur
Souveränität. Ebenda meint Bruhn allerdings auch folgendes:
Zwischen Staat und Kapital kann (...) ein Verhältnis der Ableitung
nicht bestehen, vielmehr: Die Souveränität ist das politische
Verhältnis des Kapitals wie das Kapital nur das ökonomische
Verhältnis der Souveränität ist. (ebd. S.172) Wäre
das so, dann hätte der Nationalsozialismus wie auch der Realsozialismus
eine objektive Chance besessen, sich vom Kapital zu lösen. Es ist jedoch
gerade unter dem Eindruck der Staatskapitalismus-Debatte und der Widerlegung
Pollocks und Horkheimers durch Franz L. Neumann so, daß das Wertgesetz im
NS keineswegs stillgestellt war. Und damit ist in diesem Zusammenhang auf
folgendes zu verweisen: Gerade weil der Staat sich nicht über das Kapital
erheben kann, ist der Staat das barbarische Problem. Sein Subjektstatus als
ideeller Gesamtkapitalist ist zwar weitreichend. Er reicht aber nicht soweit,
die Objektbindung an das Kapital zu beenden. Für das bürgerliche
Subjekt in seiner Gespaltenheit in Citoyen und Bourgeois heißt das, daß im Zweifel
immer der Bourgeois über den Citoyen herrscht. Der antisemitische
Vernichtungswahn hat seinen Grund in der objektiven Unmöglichkeit, das
Wertgesetz stillzustellen. Daraus erst entsteht die Maßlosigkeit der
Vernichtung: man will die personifzierte kapitalistische Produktionsweise
kleinkriegen, aber man schafft es nicht. Mit anderen Worten, der Autor geht vom
Vorrang des Kapitals über den Staat aus. Denn das scheint gerade im Bezug
auf die bürgerliche Subjektform das wesentliche Problem zu sein, auf das
eine Kritik von Staat und Kapital zu zielen hat.
(15) Max Weber, Politik als Beruf, Stuttgart 1992, S.65
(16) a.a.O. S.70
(17) a.a.O. S.81
(18) Der Begriff des Staates setzt den Begriff des
Politischen voraus. (Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin
1932, S.20)
(19) ebenda und a.a.O. S.26
(20) a.a.O. S.28
(21) a.a.O. S.44
(22) Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW 1,
Berlin 1964, S.303
(23) Karl Marx, Zur Judenfrage, MEW 1, Berlin 1964, S.365
(24) Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung
ein., Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt
am Main, 1967, S.94
(25) vgl. Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, Frankfurt am
Main 1965, S.63 und 45: Alle Gewalt ist als Mittel entweder rechtsetzend
oder rechtserhaltend. Wenn sie auf keines dieser beiden Prädikate Anspruch
erhebt, so verzichtet sie damit auf jede Geltung. Daraus aber folgt, daß
jede Gewalt als Mittel selbst im günstigsten Falle an der Problematik des
Rechts überhaupt teilhat.
(26) Das gilt ebenso für die Begriffe Gegenmacht und
Ungerechtigkeit.
(27) Auch Walter Benjamin legt sich dies nicht zugrunde. Er
schreibt in Zur Kritik der Gewalt: Die organisierte Arbeiterschaft ist
neben den Staaten heute wohl das einzige Rechtssubjekt, dem ein Recht auf
Gewalt zusteht. (a.a.O. S.36)
(28) Meine Untersuchung mündete in dem Ergebnis,
daß Rechtsverhältnisse wie Staatsformen weder aus sich selbst zu
begreifen sind noch aus der sogenannten allgemeinen Entwicklung des
menschlichen Geistes, sondern vielmehr in den materiellen
Lebensverhältnissen wurzeln (...). Das allgemeine Resultat, das sich mit
ergab (...): In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die
Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige
Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten
Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die
Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische
Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und
politischer Überbau erhebt (...). (Karl Marx, Vorwort zur Kritik der
Politischen Ökonomie, in: Marx/Engels, Ausgewählte Schriften I,
Berlin 1966, S.334)
(29) Dieser Einwand ist auch nicht damit vom Tisch zu wischen,
daß die Frühschriften erst in den zwanziger Jahren des 20.
Jahrhunderts zugänglich wurden. Dem kann sicherlich formale Bedeutung
beigemessen werden, keinewgs aber grundlegende.
(30) MEW I, Berlin 1964, S.303
(31) a.a.O. S.361 und 370
(32) Die Waren können nicht selbst zu Markte gehn und
sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern
umsehen, den Warenbesitzern. Die Waren sind Dinge und darum widerstandslos
gegen Menschen. Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, in andren
Worten, sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehn,
müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren
Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des
andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willenakts sich
die fremde Ware aneignet, in dem er die eigne veräußert. Sie
müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies
Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt
oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische
Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- oder
Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst
gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als
Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. (Karl Marx, Das
Kapital Band I, Berlin 1955, S.90-91
(33) Karl Marx, Das Kapital Band I, Berlin 1955, S.81
(34) Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus,
Frankfurt am Main 1966, S.47-48. Paschukanis ist insbesondere schon deshalb
höchst wichtig, weil er selbst von einem der wichtigsten Vertreter des
sogenannten westlichen Marxismus, von Karl Korsch, im Vorwort zu besagter
Ausgabe sich folgenden Vorwurf einhandelt:
Wenn Paschukanis (...) ausdrücklich von zwei gleich
grundlegenden' Aspekten für das einheitlich-ganzheitliche
Verhältnis der in der warenproduzierenden Gesellschaft lebenden Menschen,
einem ökonomischen und einem juristischen spricht, wenn er
ausdrücklich den Rechtsfetischismus' und den
Warenfetischismus' als zwei auf derselben Grundlage' ruhende und in
gleichem Maße rätselhafte' Phänomene bezeichnet, wenn er
sagt, daß diese beiden Grundformen' sich gegenseitig'
bedingen und daß sich der gesellschaftliche, in der Produktion wurzelnde
Zusammenhang gleichzeitig in diesen zwei absurden Formen' darstellt, so
verläßt er hier und ebenso nicht an zahlreichen anderen Stellen, die
als ein einheitlicher Zusammenhang sein ganzes Buch durchziehen, entscheiden
den Marxschen Gedanken, der das ökonomische Verhältnis als
das grundlegende, dagegen das juristische ebenso wie das politische
Verhältnis als daraus abgeleitete Verhältnisse betrachtet.
(Hrvg. i. Orginal, ebd. S.XI) Paschukanis selbst schreibt u.a.: Die
Kategorien Ware, Wert, Tauschwert sind ohne Zweifel ideologische Gebilde,
entstellte, ins Mystische gewendete Vorstellungsformen, in denen sich die
warentauschende Gesellschaft das Arbeitsverhältnis zwischen den einzelnen
Produzenten denkt. Der ideologische Charakter dieser Formen ist dadurch
bewiesen, daß es genügt, zu anderen wirtschaftlichen Strukturen
überzugehen, damit die Kategorien der Ware, des Werts usw. jegliche
Geltung verlieren (...). Somit sind also die allgemeinen Begriffe der
politischen Ökonomie nicht nur ideologische Elemente, sondern solche
Abstraktionen, aus denen die objektive ökonomische Wirklichkeit
wissenschaftlich, d.h. theoretisch konstruiert werden kann (...). Der Staat ist
nicht nur eine ideologische Form, sondern zugleich auch eine Form des
gesellschaftlichen Seins. Die ideologische Natur des Begriffs schafft die
Realität und Materialität der Verhältnisse, die er
ausdrückt, nicht aus der Welt. (S.46 ff.)
(35) vgl. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie,
Freiburg 1990, S.20. Agnoli versucht tatsächlich nur den einen Weg von der
Marxschen Kritik der politischen Ökonomie her. Der Umkehrschluß
bleibt bei ihm aus. Wenn er also das Wesen der Politik als System der
Machterorberung, -erhaltung und -ausübung (in: Sinn ist rar!
02) bestimmt, dann tut er dies vom Standpunkt des Klassenkämpfers und
dessen traditionellem Macht- und Herrschaftsbegriffes aus. Umso erstaunlicher
allerdings ist, daß erstens ein traditioneller
Klassenkämpfer an die Kritik der Politik gemahnt und zweitens erst ein
solcher kommen mußte, um die Tür zur Kritik derselben aufzustossen.
Die Schwelle zu einer radikalisierten Staatskritik allerdings hat Agnoli nie
wirklich überschritten. Insofern hat Peter Klein Recht, wenn er in seinem
Text Hier ruht Agnoli schreibt: Daß Agnoli eine
aufmüpfige Sprache sprach, daß er in seiner seriösen',
politikwissenschaftlichen' Publikation anstössige Vokabeln wie
Klassenkampf', politischer Streik', Barrikaden',
Revolution' verwendete, das war es, was damals (um 68 -S.P.)
Sensation machte, darin liegt sein Verdienst. Wir haben hier also den ersten,
noch vollkommen unvermittelten Schritt zu einem neuen Anlauf der
Kapitalismuskritik vor uns. Ihrer Abstraktheit wegen konnte und mußte
diese gewissermaßen noch jungfräuliche, von keiner näheren
Bestimmung befrachtete Negation, dieses Nein überhaupt', für
einen winzigen historischen Augenblick alle späteren Splitter und
Fraktionen der Neuen Linken unter sich versammeln. (in: Krisis
Nr.10, 1991 oder www.krisis.org)
Gegen Kleins gänzliche Agnoli-Kritik ist allerdings Stephan Grigat zu
unterstützen, der in seinem Text Was bleibt von Agnolis Kritik der
Politik? auf das verweist, was Klein in seiner Kritik zu übersehen
scheint: Agnoli kritisiert (...) nicht nur den bestehenden, als
Demokratie organisierten Staat, sondern wendet sich gegen alle auf die Form
Staat fixierten Emanzipationsansätze (...). Agnoli war und ist einer der
wenigen radikalen Staats- und Demokratiekritiker des postfaschistischen
Deutschlands, dessen theoretische Einlassungen allzu personalisierender Politik
und Staatskritik von vornherein eine klare Absage erteilen. Als Wert- und
Fetischkritiker gibt er dennoch nicht viel her. Was heute ansteht, ist eine
Radikalisierung von Agnolis Kritik der Politik vor dem Hintergrund der
Neurezeption der Marxschen Fetischkritik. (in: Streifzüge
01/2000)
(36) vergleiche: Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings
Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring), MEW 20, Berlin 1983,
S.262. Engels schreibt dort u.a.: Der erste Akt, worin der Staat wirklich
als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung
der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich sein letzter
selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staatsgewalt in
gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem anderen Gebiete nach dem
andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die
Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die
Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht abgeschafft', er
stirbt ab.
(37) W.I.Lenin, Ausgewählte Werke Band II, Berlin S.323
(38) ebd S.387
(39) ebd S.335
(40) Hans Jürgen Krahl, in: Konstitution und Klassenkampf,
Frankfurt am Main 1971, S.187
(41) ebd. S.183 heißt es: Die Frage nach den
geschichtlichen Formbestimmungen der revolutionären Organisation wird in
der theoretischen Tradition des Marxismus in der Regel mit dem Verweis
beantwortet, jene hätten sich an der Verfassung der Staatsgewalt, dem
strategischen Ziel des Kampfes um die politische Macht im Staate, adäquat
zu orientieren. Diese These ist in dieser zum allgemeinen Lehrsatz erhobenen
Abstraktion dogmatisch. Damit ist Krahl letztlich hinter die Kritische
Theorie zurückgefallen und bei Lukacs gelandet, der die revolutionäre
Organisierung ebenfalls nicht grundsätzlich in Frage stellte, sondern das
Parteienmodell favorisierte. Krahl sah das Elend der Kritischen
Theorie in ihrem Unvermögen, die Organisationsfrage zu
stellen. (ebd., Das Elend der kritischen Theorie eines kritischen
Theoretikers, S.246)
(42) in: Joachim Bruhn, Was deutsch ist, Freiburg 1994, S.137
(43) Gerhard Bolte, in ders. (Hrsg.) Unkritische Theorie,
Lüneburg 1989, S.19. Es heißt dort: In einer glatten Umkehrung
der Horkheimerschen Kritik nimmt Habermas die ökonomische Struktur der
Gesellschaft affirmativ hin, gibt jeden Gedanken an ihre Veränderung auf
und lenkt die geschichtliche Perspektive auf ein sprachlich-kulturelles
Wolkenkuckucksheim.
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