jour fixe-initiative berlin (Hrsg.):
Theorie des Faschismus – Kritik der Gesellschaft
unrast: 2000, 270 S., ISBN 3-89771-401-9
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Die jour fixe-initiative berlin ist eine der wenigen Gruppen, die sich
bei der linken Theoriebildung verdient gemacht haben. Sie führt seit
Jahren Veranstaltungen zu bestimmten Themenkomplexen durch und faßt die
Ergebnisse in Büchern zusammen, von denen inzwischen drei erschienen sind
(Kritische Theorie und Poststrukturalismus, Faschismus- und Rassismustheorie).
Der vorliegende Sammelband vereint Referate aus den Jahren 1998/99 und hat es
sich zur Aufgabe gestellt, zu ergründen, welchen Beitrag eine
Theorie des Faschismus zur Kritik der heutigen Gesellschaft leisten kann.
Ihre Prämisse dabei ist, daß eine aktuelle Kritik der
Gesellschaft sich genau mit dieser Dialektik von Kontinuität und Bruch,
die der Nationalsozialismus bewirkt hat, auseinander setzen muß.
(S. 7)
Dies gelingt mit den einzelnen Beiträgen nur mangelhaft. Sie haben alle
ihre Qualität und sind interessant zu lesen. Sie beschäftigen sich
mit Einzelaspekten, deren Zusammenhang jedoch im Dunkeln bleibt. Da die
Aufsätze kaum die oben zitierte Aufgabenstellung erfüllen, sollte das
Buch nicht lesen, wer auf das Einlösen des Titel-Versprechens besteht. Wer
jedoch in einer Fundgrube voller Theoriefragmente schmökern will, dem sei
das Buch empfohlen.
Der erste Aufsatz von Stefan Vogt Gibt es einen kritischen
Totalitarismusbegriff ist insofern von Interesse, da genau dieses Thema
die Leipziger Szene zur Zeit beschäftigt (siehe Klarofix 02/2002, S.
40-49). Ausgangspunkt der Abhandlung ist, daß sich nach Auschwitz
die Frage (stellt), ob nicht die Kategorie der Totalität selbst
totalitär ist: Totalität wäre keine kritische,
sondern nunmehr eine affirmative Kategorie (S. 9) Genau deswegen erginge
die Aufforderung der Kritischen Theorie, den Totalitätsbegriff gegen sich
selbst zu wenden. Die (Post)Strukturalisten hätten sich sogar ganz von
diesem Begriff verabschiedet und der Untersuchung von Mikromächten
verschrieben. Diese finden aber keine weitere Beachtung, vielmehr werden die
Äußerungen von Max Horkheimer, Franz Neumann (beide Frankfurter
Schule) und Hannah Arendt untersucht. Diese Beschränkung ist insofern
sinnvoll, da das Verständnis von Totalität und Totalitarismus bei
anderen (bürgerlichen) Wissenschaftlern oder Politikern zu sehr von dem
hier verhandelten abweicht, um von Interesse sein zu können. Die beiden
Theoretiker der Frankfurter Schule sahen lediglich im Nationalsozialismus eine
gesellschaftliche Totalität wirken (und beziehen sich dabei auf die
Existenz der Konzentrationslager), da der Weg zur Veränderung oder gar
Abschaffung der herrschenden Verhältnisse abgeschnitten war. Dies gelte
für die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht, da sie die
Möglichkeit ihrer eigenen Überwindung beinhaltet.
Max Horkheimer dazu: Solche endgültigen Bestimmungen des Denkens und
seines Gegenstandes, die von der geschichtlichen Situation und den in ihr
gestellten theoretischen Aufgaben absehen, liegen der gesamten idealistischen
Philosophie zugrunde. Sie enthalten alle einen dogmatischen Begriff von
Totalität. (Die) Erkenntnis der Totalität (... ist) ein sich selbst
widersprechender Begriff. (S. 16, 27)
Hannah Arendt hingegen betonte stärker als die Frankfurter Schule die
Kontinuität im Nationalsozialismus totale Herrschaft war die der
spätkapitalistischen Massengesellschaft adäquate politische
Form (S. 23); gleichzeitig arbeitete sie deutlicher heraus, worin der
Bruch zwischen Nationalsozialismus und bürgerlicher Gesellschaft bestand.
Stefan Vogt zieht das Fazit, daß Geschichte in den Kategorien
historischer Totalität zu denken, (...) deshalb kein fortschrittlicher Akt
der Aufklärung, sondern eine von der Geschichte selbst aufgezwungene
Konzession, eine notwendige Deformation des Denkens (sei) ... Der Versuch, die
Integrationsmechanismen (der postfaschistischen Gesellschaft nach 1945) auf den
Begriff des Totalitären zu bringen, würde in diesem Zusammenhang mehr
verschleiern als erklären. (S. 27, 30) Er plädiert dafür,
der totalitären Herrschaft bei ihrer Durchsetzungsgeschichte durch
Herbeireden nicht noch unter die Arme zu greifen, sondern Wege des Entrinnens
zu suchen. Ob dabei Anleihen bei Hannah Arendt, die mit jeder Geburt eines
Menschen gleichzeitig destabilisierende Spontanität auf die Welt kommen
sah, genommen werden können, steht auf einem anderen Blatt.
Einen anderen Totalitätsbegriff untersucht Ulrich Bröckling in
Totalitätslehren der Zwischenkriegszeit. Die Doktrin des
>>totalen Krieges<< zwischen 1918 und 1945. Totalität
war ursprünglich ein Begriff der Rechten: totale Mobilmachung für den
totalen Krieg, totale Treue zum totalen Staat. Der Erste Weltkrieg war in
diesem Sinne der erste totale Krieg, der die gesamte Bevölkerung betraf
und an der sich die gesamte Bevölkerung beteiligte. Die Grenzen zwischen
Front und Hinterland, Zivilisten und Soldaten verschwammen. Die Niederlage im
Ersten Weltkrieg beförderte bei rechten und konservativen Kräften die
Diskussion über die mangelnde Wehrhaftigkeit des deutschen Volkes. Daraus
entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit das Totalitätsverständnis
der Rechten, das schließlich im Dritten Reich seine Erfüllung
fand.
Enzo Traverso untersucht in Die Intellektuellen und der
Antifaschismus, warum sich die antifaschistischen Intellektuellen nicht
positiv auf die bürgerliche Gesellschaft beziehen konnten. Diese galt
zurecht als Voraussetzung für den Faschismus. Das führte bei den
meisten Intellektuellen zu der fatalen Verkürzung, prosowjetisch und
prostalinistisch zu sein. Nur die wenigsten bewahrten sich die Freiheit,
antifaschistisch, antikapitalistisch und antistalinistisch zu sein und
das genau in der Reihenfolge.
Die zwei folgenden Aufsätze von Jan Weyand (Zur Aktualität der
Theorie des autoritären Charakters) und Moshe Zuckermann
(Faschismus, autoritärer Charakter und Kulturindustrie)
beschäftigen sich mit der Aktualität der Theorie vom autoritärem
Charakter in der heutigen Gesellschaft, die davon geprägt ist, daß
die Grundlagen des Erklärungsmodells (patriarchale Familie) keine Bestand
mehr haben. Adorno: Die vorbürgerliche Welt kennt die Psychologie
noch nicht, die total verwaltete nicht mehr (Adorno, S. 61). Wenn aber
die Theorie vom autoritären Charakter psychoanalytisch erklärt wurde,
dann muß man sich entweder von ihr verabschieden oder sie modernisieren.
Beide Autoren verschreiben sich dem letzteren. Jan Weyand prägt den
Begriff des charakterlosen Charakters, der sich nicht durch eine
festgefügte innere psychische Struktur, sondern durch die
Fähigkeit auszeichne, sich in wechselnde Funktionen einpassen zu
können. (S. 62) Die Weiterentwicklung dieses Konzeptes bleibt aber
recht blaß, zumal einfach mit den alten Begriffen operiert wird. Moshe
Zuckermann hingegen ersetzt die Erziehungsinstanz Familie durch die Medien und
fordert ein, die Kulturindustriethese zu radikalisieren.
Udo Wolter liefert in seinem Beitrag Postkolonialismus eine
vorgreifende Zusammenfassung seines ein Jahr später erscheinenden Buches
über Frantz Fanon (siehe Besprechung im CEE IEH #84). Wie er sich in
dieses Buch verirren konnte, blieb mir unklar...
Jochen Baumann beschreibt in Produktivität und Vernichtung
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der deutschen Sozialpolitik im Dritten Reich
sowie davor und danach. Er stellt fest, daß die reaktionäre
Sozialpolitik der Weimarer Republik (im Vergleich zu anderen europäischen
Ländern, nämlich eigenfinanzierte Sozialleistung für die
männliche Kernarbeiterschaft, Wohlfahrt für den Rest) der
völkischen NS-Politik ab 1938 im Wege stand und durch eine völkische
Sozialpolitik abgelöst wurde, die die sozialen Widersprüche
verschärfte. In seiner Analyse der Sozialpolitik nach 1945 bemüht er
eines der Lieblingsargumente der antirassistischen Linken, das aufrütteln
soll und dennoch falsch ist: an den Ausländern würde vorexerziert,
was demnächst auch der Rest der Bevölkerung zu erleiden
hätte.
Elfriede Müller und Klaus Holz untersuchen in ihren Beiträgen den
französischen Faschismus und Antisemitismus. Müller versucht zu
belegen, daß die Trennung von völkischen und republikanischen
Nationalismus historisch richtige Kategorien bemüht, die inzwischen jedoch
überholt sind und sich in Frankreich auch nie ausgeschlossen haben:
zyklisch kam der eine oder der andere Nationalismus zum Tragen. Sie geht dabei
auf die Besonderheit ein, daß der franzosische Faschismus sowohl von
linken als auch von rechten Kräften Zulauf erhielt das gemeinsame
Bindeglied war der Antisemitismus. Der französische Nationalismus, den
Elsässer als Bündnispartner gegen den deutschen ansieht, erweist sich
bei Müller als eine nicht viel weniger gefährliche Variante des
Faschismus.
Holz versucht am Beispiel von Drumont, der das antisemitische Standardwerk
La France Juive verfaßt hat, zu erklären, was Rassismus,
Nationalismus und Antisemitismus miteinander zu tun haben und was sie
voneinander unterscheidet. Er macht dabei nicht den Fehler, Rassismus und
Antisemitismus gegeneinander auszuspielen (wie es die Bahamas macht) oder als
zwei völlig konträre Prinzipien des Kapitalismus zu verklären
(wie es bei Martin anklingt, CEE IEH #84, #85).
In Science Fiction und bürgerliche Utopie. Zukunftsvorstellungen
nach Auschwitz frönt Alexander Ruoff seinem Hobby: Dem Fernsehen und
der Literatur. Er versucht aufzuzeigen, wie Auschwitz in sowohl positiven
(StarTrek) als auch negativen (Cyberpunk-Romane) Utopievorstellungen seinen
Niederschlag gefunden hat. Dies gelingt ihm allerdings nicht wirklich. Bei
Cyberpunk mündet seine langatmige Betrachtung in der Feststellung,
daß die Untergangsszenarien die Krise der bürgerlichen Gesellschaft
reflektieren und nur gelegentlich bei den Outlaws, die am Rande
ebenjener dahinvegetieren, ein Hauch Menschlichkeit aufscheint. Star-Trek
dagegen zeigt den Traum eines vom Rassismus und Geld befreiten globalen
Universums, dem lediglich der Makel des Autoritarismus anhaftet. Er versteigt
sich gar zu der Behauptung, daß mit der Art und Weise, wie in
einigen Folgen von StarTrek über den Holocaust erzählt wird, eine
Form gefunden worden ist, die sich dieser Verschleierung (die er allen Filmen
über den Holocaust unterstellt) weitgehend zu entziehen imstande ist. ...
Sie legen keinen Sinn in das Ereignis und keinen Trost. Und dies alleine
dadurch, dass sie nicht versuchen, das Ereignis zu repräsentieren. Nicht
Auschwitz wird bebildert, sondern eine konstruierte Geschichte, die in der
Zukunft spielt. ... Im Unterschied zu den Holocaust-Filmen zeigen die
StarTrek-Filme, dass die Zukunft durch dieses Ereignis kontaminiert ist.
(S. 256, 265). Die von Ruoff angeführten Beispiele (z.B. die Frage, ob die
Ergebnisse von in Menschenversuchen gewonnen medizinischen Erkenntnisse
vernichtert oder genutzt werden sollten) könnten bei den StarTrek sehenden
Kids aber auch etwas anderes auslösen, als die Beschäftigung mit der
Kontaminierung der bürgerlichen Gesellschaft durch Auschwitz, nämlich
die Einsicht, daß die Debatten um Gentechnologie, Organspende und andere
biopolitischen Zumutungen ihren rationalen Kern haben, über den sich
trefflich philosophisch spekulieren und abschließend mit der
entsprechenden Bioethik gewappnet entscheiden läßt.
Erich
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