Meine Betrachtung des Rassismus geht nicht in erster
Linie von den Problemen der deutschen Bevölkerung mit MigrantInnen
aus. Die Diskriminierung nicht-deutscher Bevölkerungsteile soll nur als
eine Erscheinung des in der Gesellschaft bestehenden Rassismus betrachtet
werden, keineswegs als dessen Kern und Wesen. Vielmehr wird Rassismus als
grundlegender Bestandteil nationaler, moderner Vergesellschaftung begriffen. In
diesem Sinne ist der Rassismus auch nicht von seinem Spiegelbild, dem
Antisemitismus zu trennen. Die Juden gelten dem Antisemitismus in erster Linie
als Rasse. Die heutige Entwicklung des Rassimsus zum Kultur-Rassismus kann auch
als Entwicklung hin zu einem verallgemeinerten Antisemitismus
(Poliakov/Girard/Delacampagne: Über den Rassismus) begriffen werden. Der
Antisemitismus hatte stets einen Rassenbegriff, der dem der Kultur
im heutigen Kultur-Rassismus nahesteht. Meine Kritik des Rassismus (die
wohl etwas anderes als Antirassismus ist) will die Entstehung dieser Ideologien
aufdecken.
In CEE IEH #84 habe ich mich der Herleitung von Rassismus und Antisemitismus
aus der kapitalistischen Gesellschaft (=warenförmiges Patriarchat)
gewidmet. Diesen Ansatz will ich im folgenden erweitern. In den Mittelpunkt
möchte ich dabei die modernen Erscheinungsformen des Rassismus stellen.
Ich vertrat die Position, daß sich Rassismus und Antisemitismus wesenhaft
aus dem Kapitalismus ergeben. Eindeutige Abfuhr von mir erhalten also all jene
Ansätze, die von einem Verschwinden des einen oder anderen ausgehen, z.B.
weil der Kapitalismus alles gleich machen würde. Das gilt
auch, wenngleich mit anderer Begründung, für den Sexismus. Nach einer
Beschreibung moderner Erscheinungsformen des Rassismus folgt eine Einordnung
des Rassismus in das Denken der bürgerlichen Gesellschaft. Dem folgt eine
Analyse der Funktion des Rassismus in der Konstitution des bürgerlichen
Subjekts. Abschließend möchte ich einige Konsequenzen aus diesen
Ausführungen ziehen. Die Argumentation orientiert sich weitgehend an der
Psychoanalyse. Dies steht nicht im logischen Widerspruch zum wertkritischen
Ansatz, den ich im vorigen Text verfolgt habe. Vielmehr kann die Psychoanalyse
als eine Wertkritik von innen, bzw. die Wertkritik als Psychoanalyse von
außen gelten. Eine ausführlichere Vermittlung beider Ansätze,
die sich nicht 1:1 ineinander überführen lassen, steht freilich noch
aus.
Rasse und Rassismus
Zunächst möchte ich klären, was unter Rassismus verstanden wird
und was in diesem Kontext Rasse bedeutet. Das Wort Rassismus wurde
lange Zeit fälschlich auf den deutschen Nationalsozialismus
eingeschränkt verwandt. Heute ist eine gegenteilige Entwicklung erkennbar
die ungebührliche Ausweitung der Verwendung. Im Sprachgebrauch
tauchen Wendungen wie Rassismus gegen Beamte, Jugendliche oder Frauen auf.
Gegen diese begriffliche Unschärfe ist auf der Bedeutung des Begriffes zu
beharren.
Zunächst eine definitorische Annäherung an den Rassismus: Detlef
Claussen beschreibt ihn als eine gesellschaftliche Praxis, die
darauf hinausläuft, in Wort und Tat Menschengruppen wegen ihrer
Hautfarbe oder ihrer Herkunft zu diskriminieren. Sinn des Rassismus ist
gemäß Christina von Rajewski eine Sinngebung durch
Vereinheitlichung des Bewußtseins. In diesem Zusammenhang bestimmt
sie den Rassismus als eine Alltagsreligion. Deren Aufgabe ist es
die chaotische Mannigfaltigkeit des Leben geordnet erscheinen zu
lassen.
Grundlage rassistischer Argumentation ist der Begriff der Rasse.
Wissenschaftlich ist es höchst umstritten, ob es möglich ist,
Menschen in Rassen einzuteilen. Streng genommen ist dies nach biologischen
Kriterien nicht durchführbar, weil sich die biologischen Merkmale, die
für die Einteilung in Frage kommen (Hautfarbe, Haarform, Augenfarbe,
Haarstruktur, Wuchs, Schädelform, Gesichtswinkel, chemische Eigenschaften
des Blutes) zu sehr überschneiden. Strenggenommen ist jeder Mensch ein
Rasse für sich, was die Soziologin Colette Guillaumin veranlaßte,
zur Streichung des Rassenbegriffs aus der Naturwissenschaft aufzurufen. Der
italienische Genetiker Luca Luigi Cavalli-Sforza versucht mit genetischer
Argumentation den Rassismus zu widerlegen. Er geht davon aus, daß ein
Afrikaner mit dunkler Haut, dessen Vorfahren ebenfalls in Afrika lebten,
dennoch einem hellhäutigen Europäer genetisch enger verwandt sein
kann, als einem anderen Afrikaner aus seinem Heimatort (vgl: Luca L.
Cavalli-Sforza: Verschieden und doch gleich ein Genetiker entzieht dem
Rassismus die Grundlage).
Alter und neuer Rassismus
Im Folgenden soll die Entwicklung des rassistischen Denkens von seiner
Entstehung an dargestellt werden. Dabei möchte ich besonders auf den Bruch
eingehen, der sich nach 1945 vollzog, der auf einen Übergang zu einem
kulturalistisch argumentierenden Rassismus hinzielte.
Selbst wenn man sich auf eine biologische Einteilung der Menschen in Rassen
einläßt, hat dies noch nichts mit dem allgemeinsprachlichen Gebrauch
des Wortes zu tun. Ein Rassist stützt sich nur scheinbar auf den
biologischen Rassenbegriff. Vielmehr verwendet er einen soziologischen
Rassenbegriff und behauptet dessen biologische Begründbarkeit. Der
soziologische Begriff von Rasse umfaßt viel mehr Merkmale als der
biologische, der sich ausschließlich auf äußere Merkmale
stützt. Im soziologischen Gebrauch werden Menschengruppen, denen eine
gemeinsame biologische Rassenzugehörigkeit zugeschrieben wird, auch
bestimmte moralische, psychische, intellektuelle und kulturelle Eigenschaften
zugesprochen. Bereits der schwedische Naturwissenschaftler Carl von
Linné sprach im 18. Jahrhundert in seiner Klassifikation vom
verstandgeleiteten Europäer, vom moralgeleiteten und freiheitsliebenden
Indianer, vom verschlagenen und geschäftstüchtigen Asiaten und vom
faulen, triebgesteuerten Afrikaner. Eine derart ausgeweitete Fassung des
Rassenbegriffs ist durch nichts zu rechtfertigen. Es handelt sich um ein reines
Wahngebilde.
Dessenungeachtet spielt der Rassismus in der europäischen Geschichte eine
entscheidende Rolle. Vor allem ist die Entwicklung des Rassismus eng mit der
Wissenschaft verknüpft. Die ersten Rassenvorstellungen wurden von den
Wissenschaftlern der Aufklärung entworfen. Später verknüpften
sich biologische und sprachwissenschaftliche Rassismusbegründungen. Die
Wissenschaft des 19. Jahrhunderts begab sich auf die Suche nach einem
neuen Adam (Poliakov). Aus der Erkenntnis einer sprachlichen
Verwandschaft zwischen germanischen, romanischen, slawischen, keltischen und
indischen sowie iranischen Sprachen (indo-europäische Sprachen)
entwickelte sich der Mythos eines einheitlichen Vorfahren und einer
biologischen Verwandschaft. Die derart halluzinierte arische Rasse
wurde im Gegensatz zu einer semitischen (Araber, Juden), sowie einer
hamitischen Rasse (Berber, Somalis, Tuareg, Äthiopier etc.)
konstruiert.(1) Die in Europa lebenden Juden wurden dabei als
Angehörige der semitischen Rasse inmitten des arischen Raumes
angesehen. Dabei wurde schließlich gänzlich von
äußerlichen Unterschieden abgesehen und auf
Blutszusammensetzung und daraus abgeleitet, bestimmten psychischen
Eigenschaften rekurriert. Es wurde ein typisch jüdisches Wesen
halluziniert (schmarotzend, umherschweifend), welches mit einem typisch
arischen Wesen (produktiv, mit der Heimat verwurzelt) unvereinbar sei. Durch
das Zusammenleben sei es zu einer Rassenmischung gekommen, die
einen unaufhaltsamen kulturellen Abstieg und schließlich den Untergang
der Kultur nach sich gezogen haben soll. Spätere rassistische
Argumentationen zielten daraufhin ab, diesen Prozeß durch
»Rassenkampf« und »Rassenbewußtsein« zu
stoppen und umzukehren. Durch Methoden der Zuchtauswahl (Eugenik) sollte eine
möglichst reine arische Rasse gezüchtet werden. Angebliche
Mißbildungen (Behinderte) und angeblicher kultureller Verfall (Abwendung
von tradierten Sitten, sexuelle Zügellosigkeit, Homosexualität,
psychische Erkrankungen wie Neurosen) wurden als Ergebnis der Rassenmischung
bzw. der aus ihr folgenden Degeneration dargestellt und sollten
durch Ghettoisierung oder Sterilisation abgewendet werden. Das bestialische
Mordprogramm der Nazis erweist sich somit als ein ideell vorbereitetes Projekt
keineswegs vom Himmel gefallen, sondern in die europäische
Geistesgeschichte sich einreihend.
Nach 1945 galt der Rassismus als weitgehend diskreditiert. Neuere
Entwicklungen, wie die Entstehung einer neonazistischen Massenkultur in den
Neuen Bundesländern der BRD und im gesamten Osteuropa und zunehmend auch
im westlichen Europa lassen diese Hoffnung als illusorisch erscheinen.
Tatsächlich vollzog sich in Westeuropa und Nordamerika eine subtile
Umgestaltung des Rassismus. »Rasse« ist kein Konzept, aber
unbestreitbar ist es eine Vorstellung, das heißt ein Bündel von
Konnotationen, ein Cluster unbeständiger Bedeutungen, dessen
Bedeutungskern allerdings konstant bleibt. Rasse erwies sich als
zentrales Moment der Wahrnehmung der Beziehungen zwischen Menschengruppen
als »natürliche«, physisch zu somatischen Besonderheiten
gehörenden Beziehungen. Rasse umfaßt
morpho-physiologische ... soziale, ... symbolische und geistige ...
sowie imaginäre Kennzeichen ... Die Gesamtheit dieser Kennzeichen
verschmilzt zu einem synkretischen Ganzen. Ein Zusammenhang, der zahlreiche
Zugänge aufweist. Wenn sich bis vor kurzem der offizielle und anerkannte
Zugang über somatische (oder als somatisch angenommene) Kriterien vollzog,
verändert sich dies nun. Der Begriff Kultur ist dabei, ein angesehener
Zugang zum gleichen Cluster von Bedeutungen zu werden. (Colette
Guillaumin, Rasse das Wort und die Vorstellung).
An die Stelle des alten Rassismus, in dessen Zentrum die Zuweisung von Menschen
zu Rassen stand, tritt jetzt ein Kultur-Rassismus bzw. Kulturalismus, in dessen
Zentrum die kulturelle Zuweisung steht.
Galt ein Mensch vorher als Exemplar seiner Rasse, so gilt er jetzt
als Exemplar seiner Kultur. Der alte und der neue Rassismus werden
von einem sie verbindenden ideologischen Kern durchzogen. Bevor dieser
dargestellt wird, soll noch kurz auf die Unterschiede zwischen altem und neuen
Rassismus eingegangen werden.
Kennzeichen dieses Neorassismus sind:
1) Eine Verschiebung von Rasse zu Kultur ...
2) Eine Verschiebung von Ungleichheit zu Differenz: Die zur Schau gestellte
Verachtung für die »Unteren« scheint so Platz zu machen
für die Angst vor dem Kontakt mit anderen und ... einer Phobie vor der
Mischung.
3) Ein stärkerer Bezug auf auf heterophile Aussagen (Recht auf Differenz
etc.) als auf heterophobe Äußerungen ...
4) Der symbolische oder indirekte Rassismus äußert sich, ohne
deklariert zu werden, und tendiert dazu, den direkten oder deklarierten
Rassismus zu ersetzen ... (Pierre-André Taguieff, Die
ideologischen Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus).
Der neue Rassismus spricht also nicht mehr von Rassen sondern von Kulturen. Der
Haß auf das Fremde kann dabei (muß aber keineswegs) einer Liebe des
Fremden Platz machen. Der Neue Rassismus liebt oft die Angehörigen fremder
Kulturen ob ihrer kulturellen Eigenarten. Damit liebt er sie aus
den gleichen Gründen, aus denen der alte Rassismus sie verachtete. Der
fließende Übergang beider Denkweisen zeigt sich auf einem
kürzlich gesichteten Aufkleber der NPD: auf diesem wurde die Forderung
nach einem Ausländerstopp mit dem Erhalt ethnischer
Vielfalt verbunden.
Rassismus und Antisemitismus als Biologisierung des Sozialen
Was verknünpft den neuen Rassismus mit dem Antisemitismus?
Es läßt sich dabei eine zentrale Ideologie ausmachen, die alten und
neuen Rassismus verknüpft. Sie beinhaltet seinen zutiefst inhumanen
Kern, der darin besteht, daß er Menschen ... nicht als
Persönlichkeiten mit eigenen Anlagen und Begabungen, sondern im Grunde nur
als Mitglieder ihrer »Rasse« oder ihres
»Kulturkreises« ansieht (Butterwegge, Rechtsextremismus,
Rassismus, Gewalt, S.122ff). Diese Ideologie wurde von Alexander Demirovic als
biologisch-genetischer Lebensbegriff bezeichnet (vgl. Demirovic:
Vom Vorurteil zum Neorassismus). Folgende Momente kennzeichnen diesen:
1) Ein Individuum wird als Teil eines Volkes oder einer »Rasse«
aber nicht als eigenständige und einmalige Persönlichkeit
wahrgenommen.
2) Der einzelne gilt als streng determiniertes Wesen.
3) Die Gemeinschaft sei nicht für den Einzelnen, sondern der Einzelne
für das Wohl der Gemeinschaft verantwortlich.
4) Sozialdarwinistische Interpretation des Lebens: Dem Schwachen wird kein
Existenzrecht zugestanden, die Anpassung an die Mehrheit gilt als oberstes
Gebot.
5) Die Abwehr des Fremden wird mit aus der Biologie entnommenen Metaphern
(Ethnozentrismus) gerechtfertigt. Es wird also behauptet,
Fremdenhaß wäre angeboren etc. .
6) Ablehnung kosmopolitischer Tendenzen. Betonung der Verwurzelung des Menschen
mit seiner »Heimat«.
7) Die verändernde und intellektuelle Kraft des Einzelnen zählt
nicht.
8) Ablehnung des Theoretischen zugunsten des Gefühls, des Konkreten, des
Ursprünglichen.
In diesem Zusammenhang spricht Etienne Balibar von einem Rassismus ohne
Rassen (Balibar: Der Rassismus auch noch ein Universalismus).
Kennzeichnend für diesen Neorassismus ist seine Liebe zur Vielfalt der
Kulturen und zur Differenz. Ethnische Vielfalt wird als Reichtum oder
»Wert« betrachtet, weshalb sich ethnische Mischung verböte
und der »Schutz der bedrohten Völker« (nicht selten geht es
dabei um den Schutz des eigenen angeblich bedrohten Volkes)
gebietet. Rassismus äußert sich nicht mehr unbedingt als Haß
auf Differenz, sondern: die Differenz der Ethnien wird zum neuen Dreh
und Angelpunkt des Rassismus.
Neuer Rassismus kann somit wesentlich als verallgemeinerter
Antisemitismus bezeichnet werden. Bestimmte Motive tauchen im
rassistischen wie auch im antisemitischen Denken auf, beispielsweise, wenn
»Asylanten« typisch »jüdische« Eigenschaften
zugeschrieben werden. Im Schimpfen auf die »unverschämte
Lässigkeit« und »sexuelle Attraktivität«
schwarzafrikanischer Flüchtlinge schwingt der Neid verkümmerter
Volksgenossen auf Individualität und Differenz. Mit der Figur des
»Wirtschaftsflüchtlings« haben die Politiker einen
historischen Wiedergänger des »reichen Geldjudens«
geschaffen. Es handelt sich also nicht um eine Ablösung des Antisemitismus
durch den Rassismus; vielmehr ist der deutsche Rassismus mit antisemitischen
Elementen aufgeladen.
Trotz der Gleichartigkeit der Motive des Hasses weist seine
Ausprägung die von Postone [Nationalsozialismus und Antisemitismus]
skizzierten Unterschiede auf. Rassistisch definiert der Bürger sich gegen
die zur Verwertung des Werts untauglichen; im Antisemitismus grenzt er sich ab
von den ihn angeblich bedrohenden, unfaßbaren Mächten des
Abstrakten, von Geld und Geist .... (Jürgen Elsässer,
Antisemitismus das alte Gesicht des neuen Deutschland, S. 57-59).
Rasssistisches und antisemitisches Denken läßt sich auf diese Weise
als eine umfassende Biologisierung des Sozialen darstellen.
Natur und Kultur in der Moderne
Im Folgenden soll geklärt werden, wie sich diese Denkweise
kulturhistorisch im europäischen Denken ausbildete. Oft wird in der
Diskussion um den Rassismus dieser als eine vormoderne Erscheinung betrachtet.
Ursächlich für rassistisches Denken seien quasi mittelalterliche
traditionelle Relikte, die noch in den Köpfen herumspuken würden. Mit
zunehmender Weiterentwicklung der Gesellschaft (»Globalisierung«)
würden diese verschwinden. Dieser These soll hier auf das Entschiedenste
widersprochen werden.
Vielmehr ist es derartiger Fortschrittsoptimismus, der sich an der Geschichte
längst bis zur Überdrüssigkeit blamiert hat und der endlich als
überholtes Relikt beiseite gelegt werden sollte.
Daher die Gegenthese dieses Textes: Rassismus ist untrennbarer Bestandteil
der kapitalistischen Moderne. Einige Autoren haben auf die Verquickung des
Rassismus mit der kapitalistischen Ökonomie (Werner Ruf) bzw. mit der
Kolonialgeschichte (Henning Melber) verwiesen. Darauf soll hier nicht
näher eingegangen werden. Statt dessen möchte ich rassistisches
Denken aus der Kulturgeschichte der Moderne entwickeln: Rassismus als
Konsequenz des modernen Denkens.
Tatsächlich finden sich rassistische Positionen nicht in
vormodernen Schriften. Diskriminierungen in vormodernen Zeiten (die Barbaren in
der Antike, die Juden, Ketzer, Aussätzigen und Geisteskranken im
Mittelalter) können nicht als rassistisch bezeichnet werden. Erst die
europäische Moderne und einzig diese entwickelte jene für den
Rassismus typische Biologisierung des Sozialen und die wissenschaftlich
begründete Abwertung und Bewertung von Menschen. Auf eine
ausführliche Beschreibung der Entwicklung dieses Denkens muß hier
leider verzichtet werden (vgl dazu Poliakov/Delacampagne/Girard: Über den
Rassismus oder Poliakov: Der arische Mythos oder Benz/Bergmann: Vorurteil und
Völkermord).
Grundlegend für das Denken in der Moderne ist die Bewußtwerdung des
Unterschiedes zwischen Mensch und Natur. In Ansätzen und bei nur geringer
Verbreitung war diese Trennung den Menschen schon vorher bewußt
(Beispiele dafür stellen die antike Philosophie in ihrer komplexesteten
Gestalt, also den Werken von Aristoteles und Platon sowie das Alte Testament
als Basis der jüdischen Religion dar).
Der Mensch beginnt in der Moderne, das heißt etwa ab der Aufklärung
sich seiner selbst als von der Natur getrenntes Wesen zu betrachten. Er stellt
sich ihr gegenüber, um sie wissenschaftlich zu erforschen und zu
klassifizieren (traditionelle Theorie, Horkheimer: Traditionelle
und kritische Theorie) und sich diese Erkenntnisse in ihrer Beherrschung
nutzbar zu machen(2).
Dazu unterwirft er sich selbst jenem beherrschenden Zwang. Er übt sich
einen klaren, geregelten Tagesablauf ein wie er für den Tagesablauf
der Arbeitenden in den entstehenden Manufakturen und Fabriken des 18. und 19.
Jahrhunderts typisch ist (und für die Verwaltenden dieser ebenso). Es
entsteht ein globales Weltsystem mit bürgerlichen Nationen, die über
Weltmarkt, Börse und Weltgeld zusammengeschweißt sind.
Dabei verschwinden einerseits die Unterschiede in den Gruppen (die
tradierten feudalen Kasten) und andererseits die Unterschiede zwischen den
Gruppen also die vielfältigen ethnisch-kulturellen
Differenzen.
Im Zuge dieser Entgegenstellung und dem Verschwinden der Unterschiede zwischen
und in den Gruppen mit zunehmender Durchsetzung kapitalistischer
Verhältnisse kommt es zu einer Orientierung an scheinbaren biologischen
Gewißheiten, wobei das scheinbar Natürliche einen hohen
Stellenwert erlangt. In diesem Kontext werden ethnische,
»rassische« und geschlechtliche Unterschiede naturalisiert. Es
wird also behauptet, es sei natürlich gegeben, also vor allem
unveränderlich, daß man Deutscher oder
Deutsche ist und deshalb sich in bestimmter Weise verhält und
so und so aussieht. Das es Deutsche gibt, die diesem Bild gerade
nicht entsprechen, widerspricht dem gemäß rassistischer Denkweise
nicht es bestätigt sie vielmehr geradezu. Einerseits schreibt man
sich selbst als Angehöriger eines Volkes oder einer »Rasse«
Natürlichkeit zu, andererseits wird »den Anderen«, der
»anderen Rasse« bzw. Kultur Natürlichkeit
zugeschrieben.
Jetzt soll nach dem Wesen rassistischer Mythen gefragt werden: In diesem
Zusammenhang ist es wichtig, daß die meisten völkischen Mythen
sogenannte Ursprungsmythen sind. So wird das deutsche Volk als ein in sich
geschlossenes organisches Ganzes halluziniert. Wir glauben daher,
daß die wahre Bedeutung der deutschen Geschichte in dem über
Jahrhunderte hin kumulativ gewachsenen Einfluß eines Phantasmas von ganz
bestimmter Art liegt.
Daraus entstehen von Zeit zu Zeit Schübe eines Verfolgungswahns, der sich
gegen eine als nicht-deutsch, als fremd empfundene Bedrohung richtet (Rom, die
Welschen, die Slawen, die Juden); der Wahn führt dazu, daß die
Reihen dichter geschlossen werden. Er läßt den Plan aufkommen,
Feinde anzugreifen und zu vernichten, die zugleich imaginär und real sind
...; und zwar Feinde, deren bloße Existenz als Provokation empfunden
werden kann ... daher die in ihrer Übertriebenheit charakteristischen
Anfälle eines flammenden deutschen Patriotismus, daher auch die Tradition
... der »nationalen Demütigungen«, die Deutschland
zugefügt wurden. (Poliakov, Der Arische Mythos, S. 107)
Das Volk wird als organisch-biologische Einheit gesehen, für dessen
Reinheit es zu kämpfen gilt. Alle äußeren und inneren
Andersartigen werden dann als Feinde betrachtet. Diese Feinde
stellen einerseits eine Bedrohung dar, werden andererseits aber gerade zur
Abgrenzung, zum eigenen Finden von Identität gebraucht. Adolf Hitler in
einem Gespräch: Gäbe es den Juden nicht, so müßten
wir ihn erfinden.
Diese ... ideologischen Bestrebungen ... stehen wohl im Zusammenhang mit
dem hervorstechenden Merkmal des archetypischen Germanen (oder des
»idealen deutschen Menschen«): einem unerschütterlich reinen
Gewissen oder vielmehr einem Gewissen, daß um jeden Preis rein sein will
, so daß wir schließlich ein Phantasma ohne jedes Gewissen
vor uns haben (die »blonde Bestie ein Tier, kein Mensch«).
Der Preis jedoch, der in Form von Abwehr und Projektionsmechanismen zu zahlen
ist (wobei per definitionem »fremdländische Feinde« als
Zielscheibe gewählt werden), ist sehr hoch ... (ebenda, S. 106f)
Der eigenen Nation wird ein dunkler und mythischer Ursprung
zugeschrieben. In Deutschland sind das die Germanen und die mythische deutsche
Sagenwelt, wie sie in Sagen wie dem Nibelungenlied ausgedrückt
wird. Die Vergangenheit der sagenhaften deutschen Nation wird als
stark, rein, gesund, unverfälscht halluziniert. Diesen als verloren
empfundenen Zuständen wird nachgetrauert bzw. um ihre Wiederherstellung
gekämpft. Man glaubt historisch eins mit sich, der Natur und dem Volk
gewesen zu sein, anstatt von abstrakten Zwängen beherrscht (und kann
dafür sogar in gewissem Sinne Wahrheit beanspruchen
(3)). Dabei
wird den Anderen, Fremden unterstellt, diese
ursprüngliche Einheit zerstört zu haben. Daher ist jeder Mythos ein
Ursprungsmythos. Er behauptet eine reine Vergangenheit, von der man sich mit
zunehmender Modernisierung entfremdet hätte (hier findet die
begrenzte Wahrheit dann ihr Ende: schließlich gab es diese
Ursprünglichkeit nie und vor allem wurde sie nicht von fremden
Mächten oder durch eine Rassenmischung und
Überfremdung zerstört).
Was ist die Konsequenz? Die erlebte und gefühlte Trennung von der Natur
soll durch Einbindung in eine angeblich natürliche, geschlossene
Gemeinschaft und durch Abgrenzung von ebenso naturhaft »Anderen«
überwunden werden. Diese »Anderen« sind dabei
gleichermaßen notwendig zur Herstellung dieser Einheit, wie
Ärgernis, welches an die Unmöglichkeit dieser Einheit mahnt und die
für die Unmöglichkeit dieser Einheit verantwortlich gemacht werden.
Die »Fremden«, bzw. »Anderen« stehen somit
gleichermaßen für die Herstellung dieser Einheit wie für die
vage Erkenntnis, daß es sich dabei letztendlich um einen Selbstbetrug
handelt. Die »Anderen« müssen also zugleich immer wieder
gesucht und sogleich immer wieder verfolgt werden.
Hier hat der Begriff der Identität seine Quelle:
Identität drückt stets ein Verhältnis/eine Beziehung aus. Die
Frage nach meiner Identität ist stets gleichbedeutend mit der Frage wie
ich mich von anderen bzw. dem Anderen unterscheide. Identität
bedeutet dabei stets Zurechtquetschung und Zurichtung.von sich selbst und den
anderen. Daher schließen sich auch Identität und Emanzipation aus.
Emanzipation kann nur als Befreiung von der Identität gedacht werden.
Die Sehnsucht nach Vollkommenheit und das Unheimliche als Allbekanntes
Um dem Phänomen Rassismus weiter auf die Spur zu kommen, soll jetzt
erörtert werden, warum einzelne Menschen in sich das Bedürfnis
verspüren, derartige Denkmuster aufzugreifen. Dazu soll auf die
Erkenntnisse der Psychoanalyse zurückgegriffen werden. Der den Rassismus
wesentlich begründende Mythos ist oben als Resultat gefühlter
Trennung von der Natur decodiert worden. Es war festgestellt worden, daß
er stets als Ursprungsmythos verbunden mit einer Sehnsucht nach
Reinheit und Ursprünglichkeit auftritt. Dieser kollektiven Denkweise soll
nun in ihrer individuellen, psychologischen Entstehung nachgespürt
werden.
Zunächst einige Gedanken zum Aufgreifen der Psychoanalyse. Kern dieser von
Freud entworfenen Lehre ist die Annahme unbewußter psychischer
Vorgänge. Ich habe also Gedanken, Gefühle und Gewißheiten von
denen ich selbst nichts weiß. Jeder Mensch kann das an sich
nachvollziehen. Mir fällt ein Name nicht ein, so angestrengt ich auch
nachdenke. Er liegt mir auf der Zunge aber ich komme einfach nicht drauf. Ich
denke schließlich nicht mehr dran und plötzlich fällt mit der
entsprechende Name wie aus heiterem Himmel ein. Unbewußt ging also die
Suche nach dem Vergessenen weiter. Ein anderes Beispiel: Ich habe ein Problem
zu dem mir trotz angestrengten Nachdenkens keine Lösung einfällt. Und
urplötzlich, häufig am nächsten Morgen, nach dem Schlaf,
erscheint das Problem nicht mehr so aussichtslos wie zuvor und ich habe
plötzlich eine Lösung parat. Diese alltäglichen Erscheinungen
aus dem psychischen Leben sind für Freud Hinweise auf ein psychisch
Unbewußtes (vgl. Freud: Das Unbewußte).
Ebenso beruhen Denkweisen und Ideologien der Menschen auf unbewußten
psychischen Vorgängen(4). Nicht rationale Überlegungen sind
der zentrale Grund für rassistische Überzeugungen, sondern eine
Idiosynkrasie, eine wirklich gefühlte Abneigung gegenüber
bestimmten Menschen. Unbewußte psychische Konstellationen sind also der
Untergrund ideologischer Gebilde, mit denen bestehende Zustände scheinbar
rational erklärt werden(5).
Doch zurück zum Unbewußten. Unsere zentrale Frage: woher stammt die
oben beschriebene Sehnsucht nach Reinheit, Vollkommenheit und
Ursprünglichkeit, die den Kern des Rassismus ausmacht? Daher zunächst
ein kurzer Ausflug in Freuds Entwicklungstheorie.
Gemäß der Entwicklungstheorie Freuds gestaltet sich die Entwicklung
des Kindes in der Form von psycho-sexuellen Phasen. Das Kind kommt als Wesen
zur Welt, bei dem sexuelle Lust und Nahrungsaufnahme nicht gesondert sind. Es
empfindet bei der Nahrungsaufnahme zugleich sexuelle Lust. Aufgrund
fortschreitender körperlicher Entwicklung (v.a. Muskelentwicklung und
Zahnbildung) einerseits und Entwöhnung von der Mutterbrust andererseits
geht diese erste orale Phase schließlich in die zweite, die
anale über. Lustgewinnung erfolgt jetzt nicht mehr bei der
Nahrungsaufnahme, sondern bei der Ausscheidung. Das in dieser Phase
entscheidende Lustobjekt, die eigenen Ausscheidungen, werden dem Kind aber
durch elterlichen Einfluß weggenommen. Es muß sie zu festgesetzten
geregelten Zeiten ausüben und darf nicht mehr frei über sie
verfügen. Das daraus für ein Kind entstehende Leid muß als
unermeßlich betrachtet werden schließlich handelt es sich um
die Verhinderung seiner sexuellen Befriedigung (Freuds fundamentale Entdeckung,
den Menschen von seiner Geburt an und nicht erst ab der Pubertät als
sexuelles Wesen zu betrachten, setze ich hier mal voraus).
Mit weiterer psycho-sexueller Entwicklung tritt schließlich, und zwar ca.
im 4.-5. Lebensjahr die phallische Phase ein, in der das Kind durch
Masturbation, nämlich Berührung des Penis oder der Klitoris Lust
empfindet. Mit der für das Kind katastrophalen Entdeckung seiner
Geschlechtlichkeit zieht es sich schließlich teilweise (nicht so radikal
wie Freud noch vermutete) vom Sexualleben zurück und es beginnt die
Latenzphase die typisch für das Schulkind ist und bis
zum erneuten Anwachsen sexueller Gefühle in der Pubertät
anhält.
Die Entdeckung der eigenen Geschlechtlichkeit zerstört im Kind die
vordem gefühlte Einheit, das Gefühl ein ganzer Mensch zu
sein. Daher der in den Träumen und Neurosen psychoanalytisch
nachweisbare Wunsch der Verleugnung der Geschlechtlichkeit der Menschen. In
einer männlich-patriarchalen Gesellschaft zeigt sich dieser im
unbewußten Schrecken vor der Penislosigkeit der Frau (beim Mann) und dem
Wunsch einen Penis zu besitzen (bei der Frau: hier zeigt er sich meist als
Wunsch ein Mann zu sein, oder männliche Eigenschaften zu haben). Wie
gesagt: alles weitgehend unbewußt.
Dieser Ansatz gewinnt seine Schärfe erst dann, wenn man bereit ist, die
Erkenntnisse der feministischen Wissenschaft ernst zu nehmen vor allem
dann, wenn man den Kapitalismus als patriarchale Gesellschaft begreift.
Kindern, die von vornherein mit der gespürten Gewißheit einer
männlichen Gesellschaft aufwachsen, halten den Penis tatsächlich
für ein Symbol der Macht, Beherrschung und Stärke. Die
Äußerung Freuds, daß das kleine Mädchen sich als
kastriert, also als Wunde (Adorno) vorkommt, findet
also in den gesellschaftlichen Verhältnissen ihre Entsprechung, in denen
der Besitz eines Penis tatsächlich einen wesentlichen Zugang zu
gesellschaftlichen Möglichkeiten bedeutet(6).
Es sollen jetzt zwei weitere psychische Vorgänge und ihre Konsequenzen
betrachtet werden: die Regression und die Fixierung.
Aufgabe der Entwicklung ist laut Freud die Bildung eines genitalen
Charakters. Die Sexualität soll der Fortpflanzungsfunktion
unterworfen werden. Alle andere Triebwünsche des Kindes, z.B. die nach
oraler oder analer sexueller Befriedigung, soll es dieser unterordnen. Vor
allem soll es den Wunsch nach Einheit mit der Mutter, nach der es sich als Kind
sehnte, aufgeben und statt dessen eine normale heterosexuelle
Beziehung eingehen. (wie gesagt: man mag zu diesen Äußerungen
stehen wie man will, es bleibt der Fakt, daß es die bestehende
Gesellschaft tatsächlich vom Kind, später vom Heranwachsenden
verlangt und davon ist zunächst auszugehen).
Bleibt im realen Leben die Befriedigung weitgehend versagt und davon ist
in einer kapitalistischen, patriarchalen Arbeitsgesellschaft auszugehen, dann
droht ein psychischer und sexueller Rückfall auf frühere
Stufen der Entwicklung. Der erwachsene Mensch kramt unbewußt in seiner
Erinnerung, fragt sich, wann er denn einmal voll befriedigt war und
stößt dabei auf jene frühkindliche Phase, die vor dem
Erkenntnis der Geschlechtlichkeit liegt. Er sehnt sich zurück nach jenem
frühkindlichen Stadium der gefühlten Einheit mit der Mutter. Das
versteht Freud unter Regression.
Die Fixierung beschreibt das Steckenbleiben der oben beschriebenen
phasenartigen Entwicklung. Es kommt also gar nicht erst zur Herausbildung jenes
genitalen Charakters und die Person bleibt psychisch auf der oralen
oder analen Phasen stehen: in diesem Fall spricht Freud von Fixierung (auf
einer bestimmten Phase).
Zusammenfassend kann also gesagt werden, daß das Kind sich vor dem
Erkennen der Geschlechtlichkeit als »ganzer Mensch« fühlt
(zumindest erscheint dies beim Rückblick auf die Kindheit so) erst
jetzt erkennt es seine prinzipielle Getrenntheit vom anderen, in Form des
Liebesobjekts Mutter. Das Kind erkennt, daß es ein vereinzeltes, auf
sich allein gestelltes Wesen ist und bleibt. Dies geht einher mit einer
Sehnsucht nach jener früheren Phase, der Sehnsucht nach einer
verlorengegangenen, früher angeblich vorhandenen Einheit und Ganzheit
(vgl. Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips).
Was bedeuten die beschriebenen psychischen Prozesse für das
Verständnis des Rassismus? In dieser Sehnsucht nach der einst
gefühlten Allmacht und Einheit hat die
Herausbildung rassistischer Denkweisen ihren Urquell. Der einstmals
gefühlte Zustand soll im realen Leben durch die Bindung an rigide
Gemeinschaften und Denkweisen realisiert werden. Julian Bielicki spricht in
diesem Zusammenhang von Faschos als erwachsen gewordenen Riesensäuglingen
(Bielicki: Der rechtsextreme Gewalttäter).
Daher der Wunsch der Rassisten nach Verschmelzung mit der eigenen
Rasse, dem eigenen Volk, daher die zentrale Bedeutung
von Blut, Volk und Boden im rassistischen
Denken. Man möchte Teil einer Blutsgemeinschaft, verwurzelt mit der
Volksgemeinschaft und ihrem angestammten Boden sein.
In diesem Wunsch eines mit sich, seinem Volk, dessen Boden/Natur zu sein, hat
auch der sexistische Männlichkeitswahn seinen Ursprung. Wie dem Rassisten
die Existenz anderer Rassen, so ist dem Sexisten die Existenz des
anderen nämlich weiblichen Geschlechts ein permanentes
unbewußtes Ärgernis. Das selbstherrliche männliche Subjekt kann
neben sich nichts dulden, es will alles sein, eben das
Ganze, auf das sich die infantile Sehnsucht richtet. Damit kann man
durchaus vom Rassismus als männlichem Denken sprechen. Da spricht nicht
dagegen, daß sich auch Frauen dieses Denkens bedienen können. Die
psychische Entwicklung hält für sie, wenn auch in begrenztem Umfang,
die Möglichkeit bereit, am Männlichen teilzuhaben (vgl.
Freud: Neue Folge: Die Weiblichkeit).
Dem Fremden wie auch dem anderen Geschlecht kommt im
rassistischen/sexistischen Denken eine eigentümliche Ambivalenz zu.
Ambivalenz ist ebenfalls ein psychoanalytischer Begriff. Er verweist auf das
Nebeneinanderbestehen gegensätzlicher Regungen. Typisch dafür ist das
gleichzeitige Hassen und Lieben der Eltern.(7)
Auch das besprochene Fremde unterliegt nun einer derartigen Ambivalenz. Es wird
gleichzeitig panisch gesucht wie panisch davor geflohen. Einerseits braucht der
Rassist die andere Rasse und schafft sie damit geradezu und
andererseits flieht er vor ihr, buchstäblich wie vor der Pest. Einerseits
ermöglicht die Abgrenzung von den Fremden die Begründung
einer eigenen Rasse und des Gefühls der Zugehörigkeit zu dieser.
Andererseits macht gerade dieser rassische Unterschied darauf
aufmerksam, daß man eben nicht alles ist, sondern daß
es noch dieses Andere gibt. An der anderen Rasse wird die
Verlogenheit der Volksgemeinschaftsideologie deutlich. Sie gibt nicht, was sie
verspricht. Daher mußte im Nationalsozialismus zur vollständigen
Vernichtung immer erst noch aufgerufen werden, war die wirkliche
Tat stets erst noch zu vollbringen (Horkheimer/Adorno: Dialektik der
Aufklärung).
Das Fremde erscheint dem Rassisten somit als unheimlich. Unheimlich ist
aber stets das allzu Vertraute. Es muß Gründe dafür geben,
daß einem etwas unheimlich und eben nicht gleichgültig ist. Das ist
die ... geheime Natur des Unheimlichen ... dies Unheimliche ist wirklich
nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her
Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet
worden ist ... etwas, was im Verborgenen hätte bleiben sollen und
hervorgetreten ist (Das Unheimliche, in Freud: Essays. Band 2, S. 577f)
Hinter dem Unheimlichen steht also das Heimisch-Vertraute, die Sehnsucht nach
der einst gefühlten Einheit mit der Mutter. ... wenn der
Träumer von einer Örtlichkeit oder Landschaft noch im Träume
denkt: Das ist mir bekannt, hier war ich schon mal, so darf die Deutung
dafür ... den Leib der Mutter einsetzen (ebenda, S. 582f). Hinter
dieser Sehnsucht nach der Rückkehr in den Mutterleib steht das
Bedürfnis nach Rückkehr zu jenem Zustand der frühkindlich
gefühlten Ungeschlechtlichkeit. In diesem einst gefühlten Zustand
unterschied das Kind nämlich noch nicht zwischen sich und der Mutter,
vielmehr war dies ihm alles eines. Der konservative Charakter der
Triebe(8) sorgt nun für ein Zurücksehnen zu diesem
Zustand.
Hiermit jedoch zurück zum Rassismus: sein Kern bestand in dem skizzierten
biologistisch-genetischen Lebensbegriff, der sich in der Ideologie als
Biologisierung bzw. Kulturalisierung des Sozialen ausdrückt. Diese
Denkweise läßt jetzt ihren geheimen Urgrund erkennen. Er besteht in
den dargestellten unbewußten Triebwünschen nach Rückkehr in den
frühkindlichen Zustand einer gefühlten Ganzheit. Betreffende lehnen
es ab, ein begrifflich denkendes und sich die Welt erschließendes
Individuum zu sein. Genau das macht den Kern jenes biologistisch-genetischen
Lebensbegriffs aus: Teil einer Rasse, eines Blutes,
eines Volkes, einer diffusen Masse zu sein. Der Rassismus als
Alltagsreligion, wie er eingangs dargestellt wurde greift systematisch diese
unbewußten Phantasien auf.
Rufen wir uns nochmals gängige Praxen des Rassismus ins Gedächtnis:
Mittels Methoden der Zuchtauswahl (Eugenik) geht es um die Züchtung einer
reinen arischen Rasse. Angebliche Mißbildungen (Behinderte) und
angeblicher kultureller Verfall (Abwendung von tradierten Sitten, sexuelle
Zügellosigkeit, Homosexualität, psychische Erkrankungen wie Neurosen)
werden als Ergebnis der Rassenmischung bzw. der aus ihr folgenden
Degeneration dargestellt und sollten durch Ghettoisierung oder
Sterilisation abgewendet werden. Die Zucht- und Ausgrenzungspraxis, die in der
Konsequenz zum Massenmord führte, erscheint jetzt in ihrer Entstehung
klarer und durchsichtiger. Auf keinen Fall sollte man Positionen auf den Leim
gehen, die solche Denkweisen aus Nützlichkeitserwägungen von
irgendwem ableiten. Vielmehr ergeben sie sich aus der Geschichte der
europäischen Moderne und knüpfen an unbewußte psychische
Empfindungen der Einzelnen an, soweit sie in einer derartig verfaßten
Gesellschaft leben.
Die Zukunft einer Illusion!?
Ein anderer Weg der Überwindung dieser Trennung besteht in der Einsicht in
diese und ihrer Überwindung mittels Gestaltung des eigenen Lebens und
mittels Denken (auch hier finden sich wichtige Anregungen bei Freud, z.B. in
Die Zukunft einer Illusion oder der letzten (35.), der Vorlesungen
der Neuen Folge).
Die jüdische Religion steht seit vielen Jahrhunderten für diesen
zweiten Weg. Im Unterschied zu den meisten anderen Religionen kennt das
Judentum keine individuelle Erlösung mittels Glauben (Protestantisches
Christentum), keinen Weg zu Gott über den Vermittler Jesus
(Katholizismus), keine meditativen Praktiken oder positive Beeinflussung des
Karmas. Das Judentum steht für die konsequente Einsicht in die Vertreibung
des Menschen aus dem Paradies und eine vernünftige Gestaltung des
diesseitigen Lebens (zehn Gebote). Mit diesem nüchtern-realistischen wie
diesseitsbejahenden Blick auf das Leben war der Judaismus seit je, besonders
unter Christen, verhaßt. Es machte die Christen und später
die Nationalen, Völkischen und Rassisten auf die Verlogenheit und
den selbstbetrügerischen Charakter ihrer Ideologien aufmerksam. Ohne es zu
wollen, zog die jüdische Bevölkerung durch ihre bloße Existenz
den Haß der umliegenden Bevölkerung auf sich.
Die dem alten wie neuen Rassismus zugrundeliegende Sehnsucht nach Allmacht und
Vollkommenheit muß also als gegeben betrachtet werden. Es geht also
darum, sich dem davon ausgehenden Zwang nach Weghalluzinierung der
gefühlten Unvollkommenheit durch Eingliederung in rigide Strukturen und
Denkweisen zu widerstehen und schonungslos zu erkennen, daß das
begriffliche Denken der einzige Weg ist, mit dem Gefühl der
verlorengegangenen kindlichen Allmacht umzugehen.
Rassismus ist also weder irreale Spinnerei noch rationales Kalkül,
vielmehr gibt es in jeder Person etwas psychisch real bestehendes, was die
Anknüpfung derartiger Denkweisen ermöglicht. Es ging mir darum, genau
das begreiflich zu machen. Ich warte schon darauf, der Verharmlosung
beschuldigt zu werden. Diese Beschuldigung gebe ich postwendend an jene
zurück, die allen Ernstes von einem
Nützlichkeitsrassismus schwafeln. Nicht die Aufdeckung der
unbewußten psychischen Regungen, die Rassismus möglich machen ist
verharmlosend, sondern ihr Verschweigen oder Nicht-zur-Kenntnis-nehmen. Das
Wesen der Kritik hingegen besteht darin, dem kritisierten Gegenstand seine
partielle Wahrheit zuzugestehen.
Martin D.
Fussnoten:
(1) Genau betrachtet, liegt dieser Position eine doppelte
Rassenkonzeption zugrunde. Einerseits würde sich die Menschheit in die
drei Großrassen (negrid, europid und mongolid) teilen und andererseits
würde sich die europide Großrasse nochmals in drei Zweige teilen. In
Anlehnung an den biblischen Mythos unterschied man zunächst einen
semitischen, einen hamitischen und einen japhetitischen Zweig. Das leitete sich
von den drei Söhnen Noahs ab: Sem, Ham und Japhet. Nach biblischer
Überlieferung wurde die Menschheit von Gott durch die Sintflut vernichtet.
Nur Noah mit seiner Frau und seinen drei Söhnen durften auf der Arche
überleben. An diesem Mythos knüpften auch die ersten Rassentheorien
an. Von den drei Söhnen Noahs sollen drei Rassen abstammen
semitisch, hamitisch und japhetitisch. Aus der ursprünglich als
japhetitisch bezeichneten Rasse entstand später das Bild der arischen
Rasse.
(2) Vormoderne Denkweisen (also solche aus Zeiten vor Beginn
der Durchsetzung des Kapitalismus) unterschieden gar nicht zwischen
Natur und Zivilisation bzw. Kultur. Zu dem,
was wir heute als Natur bezeichnen, bestand ein völlig anderes
Verhältnis. Zur Umwelt bzw. zu der die Menschen umgebenden
Dingwelt bestand ein heute als sympathetisch
bezeichnetes Verhältnis des Hineinfühlens statt des Beherrschens und
Unterwerfens.
(3) Tatsächlich breiteten sich die abstrakten Zwänge erst
mit der Entstehung des Kapitalismus aus. Vergleiche dazu meinen Artikel in CEE
IEH #83: Die halbe Wahrheit ist die ganze Unwahrheit
(4) Streng genommen ist diese Ableitung nicht zulässig. Die zu
beschreibenden frühkindlichen, in dem Erwachsenden vorhandenen
unbewußten Wünsche sind von anderer Art, als jene unbewußte
Problemlösung. Es gibt bei Freud nämlich zwei Arten des
Unbewußten. Beschreibend ist ein vergessener Name genauso unbewußt
wie verdrängte Triebe der Kindheit. Analytisch gesehen verbirgt sich
hinter letzterem jedoch etwas vollkommen anderes: Freud trennt scharf zwischem
der prinzipiell unbewußten Welt der Triebe und des Verdrängten
(psychisches System des Unbewußten) und dem System des Vorbewußten,
welches Wissen enthält, das jederzeit zu Bewußtsein treten kann, wie
ein vergessener, mir auf der Zunge liegender Name.
(5) Häufig werden der Psychoanalyse ähnliche Denkweisen
unterschoben, wie ich sie oben im Text angegriffen habe. Freud würde
Menschen als naturhaft bestimmt und festgelegt betrachten, die geschlechtlichen
Rollen nicht hinterfragen kurzum: biologistisch und sexistisch
argumentieren. Dieser Einwand ist sehr schwierig zu behandeln, weil er richtig
und falsch zugleich ist. Die Schwierigkeiten verschärfen sich, wenn man
bedenkt, daß man Freud nicht einfach in politisch korrekte
und unkorrekte Äußerungen zerteilen kann. So schreibt
er: Man gewinnt beim Kulturkind den Eindruck, daß der Aufbau
[seiner Persönlichkeit] ein Werk der Erziehung ist ... . In Wirklichkeit
ist diese Erziehung eine organisch bedingte ... . Die Erziehung
verbleibt durchaus in dem ihr angewiesenen Machtbereich, wenn sie sich darauf
beschränkt, das organisch Vorgezeichnete nachzuziehen ... .
(Band 5, S. 85; Hervorhebung von mir). Das klingt streng biologistisch,
läßt sich jedoch auch anders auslegen. Tatsächlich kann keine
noch so politisch korrekte Erziehung verhindern, daß der
erzogene Mensch grundlegende Momente der bürgerlichen,
falschen Gesellschaft in sich aufnimmt. Wirklich vollzieht sich die
menschliche Entwicklung quasi biologisch einem Naturzwang ähnlich.
Das Freud diesen Naturzwang lediglich feststellt, nicht jedoch kritisch wertet,
kann ihm zu Recht vorgeworfen werden. Dennoch bleibt es sein Verdienst auf
einen solchen Zwang erstmals überhaupt hingewiesen zu haben.
(6) Man könnte sagen, daß es erst der Kapitalismus ist, der
die Menschen auf ihre biologischen Eigenschaften reduziert. In diesem Sinne ist
Freuds Erkenntnis durchaus richtig, wenn er schreibt das der anatomische
Unterschied (also der Besitz eines Penis) grundlegend für die spätere
psychische Entwicklung ist (vgl. Sigmund Freud: Die psychische Bedeutung des
anatomischen Geschlechtsunterschieds).
(7) Dem Unbewußten kommen laut Freud bestimmte psychische
Eigenschaften zu, die es vom Bewußten unterscheiden. Das Unbewußte
kennt keine Zeit und keine logischen Widersprüche. Gleichzeitig eine
Person zu lieben und zu hassen ist daher im Unbewußten problemlos
gleichzeitig möglich.
(8) Alle Trieben haben nach Freud einen konservativen
Charakter. Sie streben nach Rückkehr zu einem einst erreichten
Zustand. Ausdruck davon ist der Todestrieb, der den anorganischen
Zustand des Lebenden wiederherstellen will. Der Ich- bzw.
Selbsterhaltungstrieb strebt gleiches an. Er will dem Organismus seinen
eigenen Weg zum Untergang absichern, nicht etwa einen von außen
aufgezwungenen (vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips).
Literaturangabe zum Verständnis des Rassismus:
Sigmund Freud: Studienausgabe; Band 1 bis 10 +Ergänzungsband
Einführend reichen auch erstmal die Vorlesungen und deren
Neue Folge (Band 1), die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Band
5) und Das Unheimliche (Band 6).
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