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Foto von Oona Leganovic, 24.5k
Reggae- und Deutschland-Liebe in trauter Zweisamkeit

Die Hure muss brennen

Wie deutscher Reggae Massenvernichtungsphantasien re-importiert.

3. November 2002, Düsseldorf, ZAKK. „Give me some fire ... Burn down Babylon!”, ruft Mellow Mark, der mit seiner Gitarre das Vorprogramm für Gentleman bestreitet. Dann kommt Gentleman mit seiner Band auf die Bühne und lässt sich von der Massive feiern. Auch er trägt mit seinen Liedern zur Vernichtung Babylons bei: „A-just di fire-a-go bun dem. A-just di fire-a-go blaze dem...”. Deutsche Reggae-Artists wie Gentleman und Patrice sind nicht nur mit dem „Reggae-Virus“ infiziert, sondern auch stark von Rastafari-Ideen beeinflusst.(1)

In der Zeitschrift Bahamas machte Tim Münninghoff auf die vor allem für Homosexuelle tödlichen Folgen der „wirklichen Zwangsheterosexualität“ in Jamaika aufmerksam. Die Gelegenheit sollte genutzt werden, um hinzuweisen auf die zahlreichen, ebendort in Gestalt der populären christlichen Sekte Rastafari konservierten, längst überwunden geglaubten Vorstellungen und ihre – katalysiert von einer der beliebtesten Strömungen der Populärkultur, dem Reggae nämlich – Fernwirkungen auf andere Gesellschaften, nicht zuletzt der deutschen. Wobei es sich in eben diesem Fall um den Rückfluss eines einstmaligen Exportschlagers deutscher Ideologiefabrikanten handelt: des christlichen Sozialismus, sozusagen des Antiimperialismus des ausgehenden Mittelalters und leider dann auch weiter Teile der Neuzeit.
Sind deutsche Orientalisten in den vergangenen Jahrzehnten zu den „besseren“ Moslems geworden, so möchten einige deutsche Reggaekünstler nun offenbar die „besseren“ Rastafarians werden. Gerade die erfolgreichsten von ihnen zeichnen sich durch weiträumigste Preisgabe ihres Gemüts an die Verkündigung aus, noch der mehrere tausendmal verkaufte Klingelton von Gentlemans Hit „Superior“ aus dem Jahr 2005 lässt die Gottesliebe vibrieren: „Jah lovin‘ is superior“, tönt es nunmehr allerorten im Realtone aus Telefonen, „the devil complex inferior“. Auch das Video können die Handys abspielen, das zeigt den Teufelskomplex in Gestalt der US Air Force und natürlich unvermeidlicherweise ihres Oberbefehlshabers.

Linke Leitkultur

Die netten Dreadlocksträger stehen unter Kulturschutz, insgesamt angesichts ihrer zur Schau getragenen Harmlosigkeit nicht einmal unter ernsthaftem Verdacht. Mehr noch: Reggae ist linke Leitkultur mit größtem inhaltlichen Einfluss auf andere Strömungen, die äußerlichen Insignien sind optischer Konsens und als Wanddekoration oder Jackenaufnäher wird das Konterfei Bob Marleys höchstens noch von Che Guevara an Häufigkeit übertroffen. Dabei wird durch Reggae ein weit hermetischeres Weltbild vermittelt, als die meisten Ohrenzeugen der hauptsächlich um „Frieden“ und „Liebe“ kreisenden Songs vermutlich ahnen – und auch ein erheblich gefährlicheres.
Gentleman ist kein entrechteter Ghetto-Bewohner, der die benachbarten Gangs beschwichtigen will, und er steckt auch nicht im religiösen Sumpf seiner Umgebung fest. Er heißt Tillmann Otto, kommt aus Köln und ist auf der Flucht vor der Dekadenz in die Arme des New Rastafarianism gelaufen: „Ich konnte mich mit Sex Pistols und anderen Sachen nicht so identifizieren, die haben mich ängstlich gemacht. Und Reggae hat mir Zuversicht gegeben. Es ist eben nicht Drinking, Bitches & Champagne – das ist eine Traumwelt! Mir ist es wichtig, dass sich Menschen mit meinen Texten identifizieren können. Und ich will zeigen: Hey, es gibt auch noch Sachen jenseits eurer Konsumwelt!“(2)
Und die Fachwelt staunt: „Gentleman schafft es, eine andere Kultur glaubwürdig zu repräsentieren. Er ist Teil einer deutschen Reggae-Generation, die sich aus einem verbindenden Gefühl heraus an jamaikanischer Musik orientiert und mit ihr identifiziert. Er ist eins geworden mit der Musik, mit der Sprache.“(3) Was dann natürlich doch nicht so schön ist: „Manche stoßen sich daran, dass ihm auch auf der Bühne kein deutsches Wort über die Lippen kommt.“
Alles in allem wird der erfolgreiche Transfer der Rasta-Ideologie bejubelt und stolz darauf verwiesen, dass umgekehrt Gentleman schon seit Jahren im jamaikanischen Radio gespielt wird.
Vor Herrn Otto und Bob Marley bedienten sich vor allem die frühesten deutschen Nationalisten zu vermeintlich aufrührerischen Zwecken beim ideellen Sondermülldepot des Christentums. Die konsistente christliche Wahnwelt um die „Hure Babylon“ wurde vor einem halben Jahrtausend in Deutschland als nationalrevolutionärer Brandbeschleuniger nutzbar gemacht und gelangte auf dem Umweg über die nicht minder irren englischen Freikirchen der Aufklärungszeit in Kolonien wie eben Jamaica, wo sie zur Verblüffung Außenstehender und zum Entsetzen der unmittelbar Betroffenen, gerade der Homosexuellen, nach wie vor völlig intakt ist und die Schrauben sogar noch einige Drehungen weiter aus der Wand gekommen sind.

Himmlischer Frieden

Doch der Reihe nach. Um die Folgen einer Rückkehr christlich motivierter sozialer Bewegungen abschätzen zu können, sei im Rückblick demonstriert, wie wertvoll und programmatisch unverzichtbar die erst spät erfolgte Trennung der Vorstellung von gesellschaftlicher Umwälzung von den Konzepten gerade des letzten, oft nicht kanonisierten Buchs der Bibel, der Offenbarung des Johannes, war.
Der Ausgang des Mittelalters sieht nur wenige Freidenker sich tatsächlich teilweise recht rapide aus der geistigen Umarmung durch die Kirche lösen; die Bewegungen der Bauern und Handwerker jedoch werden nicht nur, wie im Falle der rituellen Enteignungen und fastnächtlichen antisemitischen Ausschreitungen, in wachsendem Maß von Klerus und Adel angeführt, sondern steigern sich höchstselbst in erste Exzesse antibürgerlichen und antimodernen Wahns hinein. Dass die Ereignisse der 1520er Jahre bis heute in ihrer Interessenlage unscharf blieben, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der sich artikulierende Unmut nicht hauptsächlich auf eine Verbesserung der Lebensumstände ausgerichtet war, sondern bereits erschreckend deutsch nach einer Nivellierung des sozialen Niveaus und dezidiertem Rückschritt gerufen wurde.
Die erhaltenen Forderungskataloge der aufständischen Bauern verlangen nicht etwa, die Gewinne der Handelsgesellschaften auszuschütten, sondern die Zerschlagung der Fugger, die im Ablasshandel mit dem „christlichen Gewissen Schacher“ getrieben hätten. Auch der Slogan „Stadtluft macht frei“ erfreute sich geringer Popularität, die Städte, von denen die größten gerade mal 10000 Bewohner behausten, sollten zurückgebaut und die Menschen wieder im Ländlichen angesiedelt werden, nicht nur wegen der immer wieder angeführten Gesundheit, sondern tatsächlich, um sich nicht weiter an der „Natur“ zu vergehen. Schließlich wurde im Vorgriff auf den Arbeiterkult späterer Jahrhunderte das „Beackern der Scholle“ verherrlicht und für unterschiedslos alle zur gemeinschaftlichen Pflicht erhoben, das Ganze unter der Knute einer nicht bürgerlich privatisierten Religion, sondern des vergemeinschafteten Christentums. Diese angestrebten Zustände wurden vorwiegend mit den Begriffen „himmlischer Frieden“ und „christliche Liebe“ bezeichnet.
Exemplarisch sei die bis in die Gegenwart quasi als Ahnherr deutscher Revolutionen verehrte Heldenfigur dieser Bewegung, der Theokrat Thomas Müntzer, herausgegriffen, um zu zeigen, welche Vorstellungen von gesellschaftlicher Veränderung durch Jahrhunderte mitgeschleppt wurden. Die Wahrnehmung Müntzers wandelt sich mit dem Grad der Nüchternheit ihrer Betrachter erheblich.
Wollte Friedrich Engels in ihm den Kommunisten im Sinne des Manifests sehen, schildern Theologen im Nationalsozialismus voller Begeisterung: „Jetzt tritt er seiner Zeit als der bewaffnete Prophet entgegen, der von Gott gesandt ist, mit dem Schwerte die Ungläubigen zu zerstören.“(4) Letzteren ist auch die Natur der Verbindung zwischen Müntzers Allstedter Bund und des später sich auf diesen berufenden englischen Covenant und bestimmter Französischen Revolutionsklubs klar: der religiöse Eifer, das Sendungsbewusstsein und der Rückgriff auf dieselben Elemente der christlichen Literatur.

Wer wie später Engels nach der gescheiterten Revolution von 1848 eine progressive historische Mission konstruieren wollte, fokussierte auf den ökonomischen Brennstoff der damaligen Aufstände, der sozialen Lage der Feudalabhängigen und den damit zusammenfallenden Ambitionen des erstarkenden Bürgertums; oder er strich die Forderung nach Gemeineigentum als kommunistisch heraus, die Losung vom „Himmelreich auf Erden“ gar als tendenzielle Lösung von der Jenseitigkeit des Christentums.
Wer sich hingegen zurecht in die Tradition des „Großen Deutschen Bauernkrieges“ stellte, wie bevorzugt die Nationalisten ab dem 19. Jahrhundert, berief sich viel deutungsärmer auf die sichtbaren Elemente: Die Revolution gegen die rationale Kultur („Geist gegen Buchstaben“, Engels dagegen: „Der heilige Geist sei eben die Vernunft“), die weiterhin willkürliche Auslegbarkeit der Glaubensinhalte („Gott spricht, der Prophet verkündet noch“, Engels: „Er verwarf die Bibel als ausschließlich, wie als unfehlbare Offenbarung“) sowie auf die Verherrlichung der produktiven Vernichtung („Die Gottlosen haben kein Recht zu leben“, „Man muss Unkraut ausraufen aus dem Weingarten Gottes in der Zeit der Ernte. Dann wird der schöne rote Weizen beständige Wurzeln gewinnen und recht aufgehen. Die Engel aber, die ihre Sichel dazu schärfen, sind die ernsten Knechte Gottes, die den Eifer göttlicher Weisheit vollführen.“). Kurz vor seinem Tod, schon nach der Gefangennahme und Folterung, wirft Müntzer dem „Volk“ noch vor, dass es ihn „nicht recht verstanden“ habe, sondern „allein nach Eigennutz getrachtet, der zu Untergang der göttlichen Wahrheit führt.“

Vergewaltigung der „Hure Babylon“

Das legitimierende Bindeglied zwischen der auch in den Jahrhunderten vor der Reformation bereits virulenten Besessenheit vorm Jüngsten Gericht und dem wegen elender Lebensbedingungen und antihabsburgischem Nationalismus ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts um sich greifenden Massenterror stellte die bereits erwähnte Johannes-Offenbarung dar, die sogenannte Apokalypse, deren Name damals vielleicht noch viel wörtlicher verstanden wurde: „Das Substantiv ist... in älterer griechisch-römischer Literatur außerordentlich selten überliefert und hat nie die Bedeutung einer göttlichen Offenbarung, sondern die einer Aufdeckung oder Entblößung. Seit ca. 100 v. Chr. ist das Wortfeld besser belegt, so dass es im NT durchweg religiös gebraucht wird. Hier kann das Verb [apokalypto] die göttliche Enthüllung oder eben Entblößung eines Geheimnisses bzw. von etwas Verborgenem bezeichnen...“(5) Kurz gesagt werden in diesem populären Text zunächst die „wahren Interessen“ hinter dem prunkvoll erscheinenden Babylon „enthüllt“, dann wird sie zur „Hure Babylon“ erniedrigt und unter Anleitung Gottes vergewaltigt („Das Wort ‚vergewaltigen‘ bezieht sich auf Frauen sowie auf die militärische Zerstörung von Städten“(6)) und vernichtet. Ähnlich wie im heutigen Islamismus besteht in der Teilnahme an diesem Feldzug eine Möglichkeit, sich zu entschulden.
Dabei ist die „Hure Babylon“, die zu Reformationszeiten hauptsächlich mit dem „verkommenen“ päpstlichen Hof in Avignon und der weltlichen Macht der Habsburger – dahinter: Fugger und Juden – identifiziert wurde, als Verkörperung alles Schlechten beinahe wichtiger als der Teufel selbst. Als historisch aufgebautes Sinnbild menschlicher Gottesferne, das sich aus ursprünglich noch teilweise nachvollziehbaren Vergeltungsvorstellungen für die babylonische Eroberung Jerusalems und Zerstörung des Tempels speiste, sind es gerade der vom Menschen unternommene Turmbau und die in ständiger Hybris agierenden babylonischen Könige wie Nebukadnezar, die die Stadt als antichristliches Target ausmachen, an dem sich in der Apokalypse dann auch sämtliche Phantasien abreagieren können: ihr Tod wird von den Engeln bejubelt, was einmalig ist(7); alle „Huren“, also alle als „schlecht“ konnotierten Frauengestalten der Bibel bis hin zu Eva, fallen in eins und verschmelzen zum Feindbild Babylon; erst während der Vernichtung geraten die Bewohner der Stadt ins Bild, von denen vorher überhaupt nicht die Rede war, deren Tod jetzt aber unter Schilderung ihrer fröhlichen Verrichtungen inkaufgenommen wird; buchstäblich alle hatten mit ihr „gehurt“, was nur durch ihre Vernichtung getilgt werden kann; nach ihrem Tod gibt es das Meer nicht mehr.
Sie wird eben nicht aufgrund rationaler Vorwürfe zum Ziel der Aggression, sondern weil die „eigentlichen“ Gründe nicht erkennbar sind. Alles, was Babylon aufbietet, um zu gefallen, soll nur über den teuflischen Kern ihres Strebens hinwegtäuschen. In der Breitenwirkung dieser Erzählung werden also besonders reizvolle Äußerlichkeiten zum Hinweis auf ein verdorbenes Dahinter oder Darunter, dass es mittels Enthüllung bzw. Entblößung offenzulegen gilt, um dann zur Erniedrigung und Vernichtung schreiten zu können.
Im Anschluss an die Reformation griffen fast alle Lossagungsbewegungen weite Teile dieser Wahnwelt auf, um den je bekämpften Staat – teilweise kalkuliert, teilweise voller Überzeugung – auch als Feind des Volksglaubens hinzustellen. Jedweder genussfeindlicher, vor allem aber antisexueller Affekt konnte am vermeintlichen Babylon oder seinen Repräsentanten ausagiert werden; im Dreißigjährigen Krieg wurde Babylon von allen beteiligten Kriegsparteien im jeweiligen Gegner verortet, was auf die Kriegführung die bekannten Auswirkungen zeitigte.

Religiöse Zurichtung

Ein besonders massives Reüssieren dieser Ideen war jedoch vor allem im England Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachten, als die eifernden Freikirchen in ihrer verworrenen Mischung aus bürgerlich-republikanischem, frühproletarischem und wiederum theokratischem Revolutionsdrang mit den Schreckbildern der Apokalypse Gläubige warben, Politik trieben und Kinder disziplinierten.
Hier vertraten plebejische kirchliche Klubs, die mit einiger Berechtigung als die Vorläufer der Gewerkschafts-, mithin der organisierten Arbeiterbewegung gelten können, eine paternalistische Version des Frühsozialismus, der sich offen auf das Vorbild Müntzers stützte. Waren hier auch reale Verbesserungen der Lebensbedingungen selbst im engeren kirchlichen Zirkel das vorrangige Ziel, das allerdings mithilfe einer moralischeren Lebensweise der Arbeiter selbst erreicht werden sollte, so stellte der pausenlose Bezug auf die gottlose „Fremdherrschaft“ und das daher gespaltene Verhältnis zum revolutionären Frankreich doch den häufigeren Debattenstoff.
Es ist in diesem Sozialismus schon vieles vom späteren enthalten: die überaus feudale Vorstellung der Maßlosigkeit, die die Forderung nach einer obrigkeitlichen Maßsetzung beinhaltet; die Verklärung des arbeitenden Menschen, in dessen Stand alle gesetzt werden sollen; die moralische Wahrnehmung von Sittenverfall als Ursache und nicht Folge der sozialen Dekomposition, wogegen mit Prügel und biblischen Schreckgeschichten ab dem Kleinkindalter vorgegangen werden sollte. Ähnlich wie der „gewaltlos“ missionierende Islamismus heute in Ländern wie Malaysia, funktionierte das freikirchliche Christentum als nichtstaatliche Zurichtungsanstalt von Landbewohnern zu variablem Kapital im Produktionsprozess.
Exakt in diesem Stadium spielte sich der Höhepunkt der christlichen Missionstätigkeit auf Jamaika ab, d.h. in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts breitete sich diese Form des Christentums unter der schwarzen Bevölkerung der britischen Kolonie massiv aus und wurde im oral tradition-Rahmen der zwangsweise illiteraten Sklaven weiter verfremdet. So wurden vor allem der bereits musikalisierte Psalm 137 (der Gesang in der babylonischen Gefangenschaft) und die Erzählmuster der Johannes-Offenbarung aufgegriffen: die weltliche Macht Babylon täuscht mit Reichtum und Vernunft über ihr satanisches Wesen; der von Gott Erleuchtete kann das Wesen der „Hure“ enthüllen und ihre Vernichtung einleiten, nach der die Gläubigen ins Gelobte Land zurückkehren bzw. ins irdische Himmelreich einkehren können. Bis dahin muss die Glaubensgemeinschaft in arbeitsamer Askese und im Einklang mit Gottes Wort leben. Oft mischten sich auch skurrile, zeitspezifische Aussagen mit in den dauerhaften Kanon, so dass der Reggaekünstler Capleton heute von Napoleon als dem ersten Antichristen spricht.
Unter den einer ihnen unverständlichen Willkür ausgelieferten Plantagensklaven wurde diese spezielle und auf ihre Lebensumstände nur mit viel Glauben anwendbare religiöse Konzeption viel unvermittelter noch als selbst in den ärmsten Teilen des englischen Proletariats zur vollständigen Welterklärung, wobei eine charakteristische Mischung aus freier Auslegung und penibler Buchstabentreue entstand. Noch bis heute wird beispielsweise unter orthodoxen Rastas die in Epheser 5,22-24 gebotene Unterwerfung der Frau strengstens wörtlich genommen(8), während gerade in bezug auf die Zuschreibung der Hautfarbe biblischer Figuren erheblicher Interpretationsspielraum besteht.
Diese wurde nämlich in der innerhalb der folgenden 100 Jahre nach und nach entstehenden Rastafari-Religion in Spiegelung des rassistischen Protestantismus zum Hauptkriterium für die Zugehörigkeit zum Volk Gottes. Der Schöpfer selbst wurde schwarz, desgleichen die Propheten und die verlorenen Stämme. Im Kontext der antikolonialen Erhebungen wurde Babylon mit dem künstlichen und unnatürlichen weißen Kolonialreich gleichgesetzt, die Weißen seien ursprünglich schwarz gewesen und erst bei der Abwendung von Gott ausgebleicht oder leprös geworden. Sie würden überall die natürliche Ordnung zerschlagen und eine künstliche aufrichten, die schon deshalb gegen Gott gerichtet ist und notwendig zur Ausbeutung führen muss. Dagegen wurde die schwarze Gemeinschaft gesetzt, in der „schon immer“ die Natur verehrt und direktes Recht gegolten hätte.
Diese umgekehrte Affirmation des „weißen“ Wertesystems, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts noch steigern sollte, setzt die jüdische Diaspora mit der schwarzen gleich und betrachtet das „Schwarzsein“ (späterer Modebegriff: blackness) als Wesenseigenschaft.(9) In dieser Form, die Rolle anzunehmen und als Identität zu verwenden, sind sich später die Arbeiterbewegung und die antikoloniale Bewegung sehr nahe.
Der verständliche Kampf um Abschaffung der Sklaverei und Emanzipation gegenüber dem „weißen Imperialismus“, der etwa auf Haiti mit europäischer Charta zunächst erfolgreich war, wurde so immer weiter mit irrationalem Gehalt gefüllt und begann sich gegen die eigenen Interessen zu wenden. Da die meisten Funktionen des politischen Überbaus als Agenturen Babylons wahrgenommen wurden, positionierte sich der Volksglauben gegen den Kampf um Partizipation, welche als Kollaboration galt. Die vom „schwarzen Christentum“ beeinflussten Teile der jamaikanischen Bevölkerung brachten zusätzlich zu ihrer ohnehin enormen Benachteiligung mehr Prediger als dringend benötigte Anwälte und politische Vertreter hervor. Zudem lieferten sie ihren Slogans von „unity is a must“ zuwiderlaufend unentwegt religiöse Begründungen für Lagerkämpfe unter den Schwarzen, was angesichts der wenig romantischen gesellschaftlichen Realität in einem spät modernisierten Staat in der Peripherie dazu beiträgt, dass Jamaika bis heute zu den gewalttätigsten Gesellschaften der Welt gehört.

„Ich bin nicht der Messias“

Mit der eigentlichen Verkündigungsphase der Rasta-Religion ab den 1930ern wurde es allerdings wirklich bizarr. Als 1930 in Äthiopien ein schwarzer Kaiser gekrönt wurde, erklärten verschiedene jamaikanische Prediger ihn zum Messias, sein Zweitname Ras Tafari wurde zur Bezeichnung der religiösen Bewegung. Der Umstand, dass sich Haile Selassie den klassischen Kaisertitel „König der Könige, Herr der Herren“ zulegte, konnte für die frischgebackenen Jünger nur bedeuten, dass es sich um den mit dem gleichen Beinamen in der Johannes-Offenbarung angekündigten Heiland handelte, der jetzt allerdings nicht mehr Jesus, sondern Jah hieß; das alles, obwohl sich Selassie zeitlebens gegen die Vergottung wehrte. Die Religionsproduktion erfuhr nun einen intensiven Schub, Haile Selassie wurde die Gründung des Völkerbundes zugeschrieben, er erfüllte unzählige Prophezeiungen und löste mit den per Zeitung nach Jamaika dringenden politischen Formeln religiöse Rätsel.
Zum Antifaschisten wurde er, als Italien 1935 Äthiopien angriff und die junge Monarchie Widerstand leistete. Für die Rastafarians steckte natürlich Rom, das verfälschte und verfälschende weiße Christentum in Babylon, hinter dem Angriff.
Da die Neuauslegung der alten Prophezeiungen beinhaltet, dass der schwarze Messias dafür sorgen wird, dass „sein Volk“ nach Äthiopien „zurückkehrt“, wurden in der Folge diesbezügliche Wünsche und Forderungen entwickelt, die jedoch nie über das Stadium von Kleinkolonien hinauskamen. Dafür wurde der Gedanke der „Rückführung in die Heimat“, repatriation, für das Glaubensbekenntnis immer wichtiger. Rastas vertreten auch heute die ethnopluralistische Auffassung, dass alle Völker dahin zurückgehen sollten, wo sie herkommen: „Wenn es zum Beispiel in einer aktuellen Repatriation-Hymne (Bushman 2001: ‚Yadd Away Home‘) nicht nur ‚Africa for Africans‘ heißt, sondern unter anderem auch ‚Europe for Europeans‘ und ‚Italy for Italians‘, so stimmen diese Slogans – nimmt man sie aus dem symbolischen Rasta-Kontext heraus – sogar mit den Forderungen weißer europäischer Rassisten überein, die die Immigration aus den Entwicklungsländern nach Europa verhindern bzw. rückgängig machen wollen! (...) Zu einer Übereinstimmung weißer Rassisten mit den Forderungen von Angehörigen der afrikanischen Diaspora nach Repatriation kam es bereits Ende des 18. Jahrhunderts in England im Zusammenhang mit der Gründung von Sierra Leone. Und auch Marcus Garvey erhielt in den USA Beifall von weißen Rassisten für seine separatistische Back-to-Africa-Rhetorik“.(10)
Zur Identifikation der jamaikanischen Bevölkerung mit der Religionsgemeinschaft der Rastafarians kam es in der kurzen Phase in den 70er Jahren, als die antikoloniale und an Kuba orientierte Regierung unter Michael Manley sich auf die Popularität der Reggae-Musik stützte und Rastafari als das „Eigene“ setzte, das es nunmehr vor allem gegen den US-amerikanischen Imperialismus zu verteidigen galt. Manleys Regierung enttäuschte die Erwartungen, teilweise unter dem Druck des abwandernden Kapitals, teilweise aber auch wegen der nicht abreißenden Gewaltwellen, womit der kurze Flirt der Bevölkerungsmehrheit mit dem Rastafarianismus schon Anfang der 80er wieder endete.
Auf die Rastas wird sich zwar als Teil der Popkultur jederzeit bezogen und zur Orientierung in umstrittenen gesellschaftlichen Fragen werden sie gelegentlich herangezogen, ansonsten handelt es sich jedoch um eine ins Sektenhafte abgeglittene Gemeinschaft, die längst die Masse ihrer Probleme mitverschuldet. Erst in den letzten fünf bis zehn Jahren ist mit dem Aufkommen des „Consciousness“-Reggae die Religion (New Rastafarianism) als vermeintliches Gegenmittel gegen die Gewaltverherrlichung im vorher dominierenden Dancehall wieder wichtiger geworden. Dabei ist zentral, dass sich die Wortführer dieser „Besinnung“ nicht von den Begründungen für Gewalt wie etwa der weiterhin ausdrücklich befürworteten Homophobie distanzieren, sondern das Töten innerhalb der Reggae-Szene auf den Einfluss der amerikanisierten Dancehall und ihr Kokettieren mit Sex und Gewalt zurückführen.(11) Vor diesem Hintergrund gehören Unity und Stop the violence zur Konstitution der Gemeinschaft, ändern aber nichts an den weiterhin gepflegten Abgrenzungen gegen außen.
Das beginnt beim wörtlich aus der Bibel übernommenen Frauenbild. Kollaboration mit Babylon ist unter den Rastas verpönter denn je, wobei sich der Begriff von Babylon ausgeweitet hat. Frauen jedoch, die ohnehin als „unrein“ gelten, können diese Rechtfertigung nicht geltend machen und sind in der Rasta community häufig die Familienernährerinnen.
Die Größe dieser Familien ist jedoch ebenso von biblischem Fortpflanzungsgebot und der Ächtung von Verhütungsmitteln bestimmt(12). Die Rastas haben einigen direkten und indirekten, ideologischen Anteil daran, dass die Bevölkerungszahl Jamaikas weiterhin explodiert, so dass das Wort „Doppelbelastung“ hier seine dramatische Illustration erfährt.
Dennoch sind Frauen weiträumig marginalisiert, müssen sich an strenge Kleidervorschriften halten, sind vom rituellen Ganja-Rauchen ausgeschlossen und werden in bestimmten orthodoxen Gruppen wie den Bobos, denen so populäre Reggaekünstler wie Junior Reid oder Sizzla angehören, für die meiste Zeit in Menstruationshäuser verbannt.
Was hat das alles nun mit Reggae zu tun? Die Verbindung gründet hauptsächlich in dem Umstand, dass Bob Marley 1970 zum Rastafarianismus konvertierte und als einer der bekanntesten Popmusiker überhaupt unablässig Glaubensinhalte verbreitete (z. B. handelt „Exodus“ von der erwähnten repatriation). Auch international ist Reggae heute eines der erfolgreichsten Medien zur Verbreitung religiösen Gedankenguts, wobei die Diskrepanz zwischen der Sinnlichkeit der Tanzmusik und der ganz und gar westlichen Künstlichkeit ihrer Herstellung zum verkündeten Ideal der natürlichen Askese auffällt.
Um Reggae geht es nämlich gar nicht, das ist erklärtermaßen nur der Fliegenfänger für die religiöse Mission. So erklärt etwa der Reggaesänger Sizzla: „Hör noch mal zu. Ich sage dir die Wahrheit! Reggae ist nicht die Musik, um die Schwarzen nach Afrika zu bringen, verstehst du. Reggae ist nicht die Musik. Die Musik ist Nyahbinghi! Damit wir priesterlich unter unseresgleichen wandeln können. Das wird uns nach Hause bringen. Diese Musik steht bereits fest. Man kann sie nicht ändern! Diese Musik ist wie die Bibel. Sie ändern? Alle werden dir sagen, man kann sie nicht ändern! Nyahbinghi bleibt. Es gibt Nyahbinghi-Gesänge und -Refrains, die die Leute nicht kennen. Ich kenne sie. Ich singe sie.
Was den Reggae betrifft, Reggae ist ein Medium, um zu anderen Kontakt aufzunehmen. Manchmal sind unsere Reggaetexte total ignorant, damit sie rüberkommen. Die Leute finden heraus, was dahinter steckt, und dann wissen sie Bescheid. Aber es ist nicht wirklich für sie. Meine Philosophie ist Rastafari.“(13)
Der Afrikanist Volker Barsch erklärt: „Das symbolische Niederbrennen Babylons (‚burning down Babylon‘) ist das zentrale Anliegen der Rastas bei ihren Nyabinghi(14)-Zusammenkünften. Blood and Fire ist eine weitere häufig von den Rastas verwendete Formel: Damit soll ausgedrückt werden, dass das Blut der Unterdrücker (‚downpressors‘) fließen muss, wenn Selassie sie mit seinem kosmischen Feuer verbrennt.“(15)
Sicherlich geht die Annahme fehl, die Rastas selbst würden im Sinne ihrer Vernichtungsphantasien handeln, dennoch erzeugen sie ein ideologisches Muster, das anderen als handlungsleitend gilt. Mit der inflationären Zuschreibung „fire pon“ (etwa: „soll brennen“) wird das für kollektive Gewalttaten so wichtige Markieren des Zielobjekts vorgenommen: „Man sagt es zu allem, was schlecht ist, zu allem, was die Kraft der Natur behindert.“ (Capleton) Wozu ganz ausdrücklich Homosexualität gehört.
Besonders bedenklich muss daher stimmen, wie weit sich diese Vorstellungen einer friedlich und nett daherkommenden Gemeinschaft, die dennoch auf der Vernichtung des Unnatürlichen besteht, vermittels des Reggae in Köpfen verbreitet haben, die dafür als besonders empfänglich gelten müssen: in deutschen nämlich. Hier ist es bekanntermaßen oft genug nicht beim Markieren der Opfer geblieben, hier ist Handeln in höherem Sinne weiterhin angesagt. Dabei kommen der Verbreitung des Rastafarianismus in Deutschland zwei andere Entwicklungen zupass.
Zum einen bietet er solchen, die nach einer Religion suchen, das Christentum aber für uncool und unzeitgemäß halten, eine vermeintlich hippere Alternative, die noch dazu bis auf den Wortlaut identisch ist. Kaum ein heutiger Jugendlicher würde Popsongs mit Texten wie „Wenn du Gott nicht kennst, kennst du die Liebe nicht“ besonders gern haben, bei Gentleman heißt es dann: „If you know not Jah/you know not love“ und wird ein Hit. Zum anderen bietet die Religionsgemeinschaft den unschlagbaren Vorteil, gerade schwankenden Eltern oder Lehrern gegenüber den THC-Konsum mit Glaubensgründen zu verbrämen, wobei sich diese Strategie längst von einer reinen Schutzbehauptung (als die sie völlig klargeht) zu einer Überzeugungstat gewandelt hat. Als ob es noch dasselbe ist, die Tüte nicht fürs Abheben oder die intensivere Sex- oder anderweitige Sinneswahrnehmung zu rauchen, sondern um Jah zu preisen. Das passt jedoch leider ins Bild: Gentleman ist auf dem Höhepunkt der Massenkonversion des New Rastafarianism der Glaubensgemeinschaft beigetreten und richtet seine Äußerungen entsprechend gegen den säkularen und hedonistisch daherkommenden Dancehall.

Gut sein, bis man schwarz wird

Die direkten Folgen sind nun sichtbar: Vom verquasten und selbstgerechten jamaikanischen Ersatzchristentum wird vor allem das mit dem antiimperialistischen Zeitgeist so wunderbar zusammenpassende manichäische Weltbild übernommen, ähnlich wie gegenüber den durch den dichten Nebel wahrgenommenen Bewohnern der arabischen Welt wird auch den Jamaikanern in bezug auf ihr politisches Handeln Generalabsolution erteilt, und gelegentlich ist auch am Rande von Reggaeveranstaltungen auf die Frage nach den Schwulenmordaufrufen in den dargebotenen Texten die Antwort zu hören: „Ein bisschen haben sie ja schon recht, dass die Schwulen irgendwie komisch sind.“ Wohlgemerkt, während es im Stakkato tönt: „Verbrenn den Schwulen!“
Auf einer Typographen-Party in den Outskirts von Weimar wanderte das Set allerdings in Ragga über, wonach ich der Mucke halber gern weiter tanzen wollte, aber die endlosen Ausführungen über ‚Blaze Babylon an blaze di Chi-Chi-Man‘ einfach nicht tragbar fand. Ich glaube gern, dass die meisten Tanzenden und auch die DJs die Texte nicht verstehen oder nicht drauf achten. Der Skandal bestand mehr darin, dass die sicher zehn Leute, die ich nach meinem Abzug von der Tanzfläche auf die Aufrufe zum Schwulenmord hinwies, es allesamt nicht für schlimm hielten. Die Reaktionen bewegten sich von „Die wehren sich halt dagegen, dass ihre Natur von der Zivilisation zerstört wird“ bis „Das darf man nicht wörtlich nehmen“ und auch dreister Rückfrage: „Bist du etwa schwul?“ Zusammenfassung: So sind sie halt, die Neger, und irgendwie haben sie ja auch recht.
Aus der Originalquelle, die auf Jamaica sprudelt, werden nun die dort schon hinreichend unangenehmen Eigenarten als Bestandteile eines schwer entwirrbaren Geflechts aus Mode und Religion bezogen und mit Ernst und Eifer nachempfunden: das Reasoning beispielsweise, das die Willkürlichkeit des Denkens zur Regel erhebt und so eine Glaubenshierarchie der bekifften Rechthaberei erzeugt; ebenso das Gutsein aus schlechtem Gewissen, das die Alternativ- und Friedensbewegung aus dem Christentum gut in die Gegenwart herübergerettet hatte. Deutsche nehmen in Jamaika wie im Nahen Osten ein vermeintlich Authentisches wahr, das doch deshalb so deutsch aussieht, weil es nicht zuletzt deutsch ist. Sie wollen gut sein, bis sie schwarz werden. Doch man möchte ihnen zurufen: Ihr werdet nicht schwarz! Und so wie das Gerede vom Black Holocaust und der Rastafarian Diaspora auf Kosten anderer spezifischer Opfer geht, fahren auch die deutschen Rastas nicht mit ihrem eigenen Ticket: „Lange Zeit habe ich den Begriff Diaspora nicht benutzt, weil er im Wesentlichen in Bezug auf Israel gebraucht wurde. Das war der dominante politische Gebrauch und damit habe ich Probleme wegen des palästinensischen Volkes.“ (Stuart Hall im Interview mit Kuan-Hsing Chen, 1992)
Die Benutzung von Diaspora statt Migration und von Babylon (das Exil unter kultureller Fremdbestimmung) statt Ägypten (Exil in Sklaverei) ist nach den weiteren Ausführungen des Vordenkers der Cultural Studies beabsichtigt und keineswegs Lapsus, selbst wenn ihn die Gleichsetzung schon sprachlich weit rauszutragen scheint: „Moses ist für die schwarze Sklavenreligion wichtiger als Jesus, weil er sein Volk aus Babylon [sic!] herausgeführt hat, aus der Gefangenschaft.“
Den Award für den breiigsten Geist beansprucht aber weiterhin der Echo-Gewinner Mellow Mark alias Mark Schlumberger für sich, der neben seinen anderen antiimperialistischen Einflüssen vom Reggae hauptsächlich die Berechtigung zu unbefugten Äußerungen aller Art gelernt hat: „Bei den ersten Songs, die ich geschrieben habe, habe ich gelernt, dass ich immer noch genauer sagen muss, was ich meine, damit keine Missverständnisse entstehen. Denn diese Politiker, die Politikstudenten und die engagierten Leute sagen sonst ‚Hey, das ist Scheiße‘. Sie sagen ja nicht ‚Wir wissen, was du meinst und das ist auch gut, aber du hast dich mit den Worten nicht so gut ausgedrückt‘. Es gibt kein Wohlwollen von den Kritikern. (...) Stell dich bei der Echo-Verleihung hin und sage: ‚Krieg ist nicht gut.‘ Auch wenn der Satz nicht besonders intelligent klingt in dem Moment, hat er doch im Vergleich zu vielen anderen Künstlern, die dort geredet haben, meilenweit mehr Inhalt gehabt.“(16) Schlumberger unterhält seit 9/11 eine Internetseite namens freedom-of-speech.info und es ist nicht schwer zu erraten, was der Kämpfer gegen „US-am-Arsch-licki-licki“ („Weltweit“) dort Freiheitliches zu sagen hat.
Die debilen Ausflüsse des Reasoning sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich über den Kanal der Massenpopularität des deutschen Renegaten-Reggae eine selbstgerechte Inszenierung breitmacht, die den übelsten Elementen deutscher Ideologie einen poppigen Anstrich zu verleihen vermag. Die Säkularisierungswirkung der Tanzmusik und die Dialektik des individualistischen Partykollektivs droht sich in religiöse und tribale Kifferrunden aufzulösen. Der Skeptizismus der Popkultur wiederum droht hier in verschwörungsgläubigen Ersatzideologien aufzugehen.
Mit Babylon als dem Platzhalter für alles Schlechte, als das es auch in den Soundtracks der NoGlobal-Bewegten immer wieder auftaucht, wird jede Kritik obsolet, ja sogar unerwünscht. Für den Entwurf der Gegenkultur zum vorgestellten Bösen wird eine Eintopfidylle unter dem Motto „Nobody moves, nobody gets hurt“ bzw. in den aktuelleren Worten der Hamburger Mongos: „Alles ist gut, solange ich genügend chille.“
Wenn sich der cleane Reggae vom manifesten Schwulenhass abgrenzt, funktioniert das nur als Ablenkungsmanöver mit gleichzeitiger Selbsttäuschung. Wie auch der konstruierte Wesensunterschied zwischen Dancehall und Roots soll es einen Verdacht ausräumen und so dazu führen, dass das gedankenlose Einvernehmen im Hass auf die babylonische Moderne nicht durch Zweifel gestört wird.
An diesem Babylon gibt es nun eine kommunistische Kritik, die sich gegen den Ausschluss der Mehrheit der Bewohner von den Früchten der Zivilisation richtet, nicht jedoch gegen diese Früchte selbst. Kommunismus ist einst als Überwindung des moralisch-religiösen Sozialismus angetreten und ist möglicherweise in keiner Hinsicht so aktuell geblieben. Es kann nicht um die gleichmäßige Verteilung des Elends durch die Rückkehr in eine übersichtliche Stammeskultur gehen, sondern allein um die Ausweitung der Emanzipation auf alle.

Nachtrag:„Scapegoatism is what we must fight“

Meine Kritik an Reggae bzw. Ragga ist schon teilweise erhört worden: Der gerade am schwersten rotierende Song „One Love“ von Bam Bam Babylon Bajasch richtet sich gegen Religion, live hatten sie letzten Samstag im Supamolly auch Antizyklischstes wie eine Koks-Hymne, Songs gegen Deutschland und Statements zu Homophobie präsentiert, was sie auch optisch konsequent fortführten: die sechs eher kurzhaarigen jungen Männer hatten sich Cinch- und Parallelportkabel über den Kopf gehängt und eine Stoffmütze drübergezogen.

Daniel Kulla

Anmerkungen

(1) Volker Barsch: Rastafari – Von Babylon nach Afrika, Ventil Verlag Mainz 2003, S. 170
(2) Interview mit Matthias Schröder für Subway.de
(3) Ellen Köhlings, Chefredakteurin des deutschen Reggae-Magazins riddim, Funkhaus 15.9.03
(4) Michael Freund in der Einleitung zu „Thomas Müntzer – Revolution als Glaube“, Potsdam 1936, S. 10
(5) Ulrike Sals, Die Biographie der „Hure Babylon“, Tübingen 2004, S. 55
(6) ebenda, S. 37
(7) „...die Engel im Himmel wollten – wie die Israeliten und Israelitinnen – ein Loblied auf Gott anstimmen. Gott untersagte es aber seinen Engeln mit der Begründung, dass der Untergang der Ägypter als seine Geschöpfe kein Grund zum Jubeln sei – jedenfalls nicht für die unbeteiligten Engel. Eine ähnliche Reaktion auf die Vernichtung des gottfeindlichen Heers (19,17-21), oder des Satans mit seinem Propheten (20,7-10) wird in der Offenbarung nicht wiedergegeben.“ Ebenda, S. 74
(8) „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus); denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist; er hat sie gerettet, denn sie ist sein Leib. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, sollen sich Frauen in allem den Männern unterordnen.“
(9) Die Affirmation ist dabei zuallermeist recht gedankenlos. Zum Beispiel wurde der Begriff Äthiopien für das Heilige Land aus dem Griechischen übernommen, wo es das „Land der verbrannten Gesichter“ bezeichnet.
(10) Volker Barsch: Rastafari – Von Babylon nach Afrika, Ventil Verlag Mainz 2003, S. 151
(11) Nicht zuletzt ist im Dancehall-Reggae die sinnliche Komponente der Musik so explizit geworden, dass sie auch Frauen ein – wenngleich streng heterosexuelles – öffentlich körperliches Agieren ermöglichte.
(12) „Brother Miguel: ‚Abortion‘: Don‘t make them tie off your tubes/my sisters/Don‘t make them steralize you/my brothers/Don‘t make them turn you into a cemetary my sisters/Fire for the pill/Don‘t be a seedless tree/That take but do not reproduce/That accept, but do not give/Then you are a parasite“, zit. nach ebenda, S. 133
(13) Interview bei rastafari.de
(14) Um nur ein Beispiel der gedanklichen Verwirrung zu geben, hier die Erklärung des Reggaekünstlers Capleton zum Begriff Nyabinghi: „Der Ausdruck tauchte 1935 in der internationalen Presse auf, als Zeitungen weltweit berichteten, dass Haile Selassie das Haupt des mächtigen afrikanischen Kultes der Krieger von Nyahbinghi war. Tatsächlich: Fünf Jahre bevor die Nachricht sich verbreitete, wurde Seine Kaiserliche Majestät bei einem geheimen Treffen von 82 afrikanischen Delegierten in Moskau zum König von Nyahbinghi gekrönt.“ zit. Nach rastafari.de
(15) Barsch a.a.O., S. 141
(16) Zitate nach bloom.de


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last modified: 28.3.2007