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Die Dialektik von
Geschichte und Struktur

Alfred Schmidt, Geschichte und Struktur. Fragen einer marxistischen Historik, München (Hanser) 1971, 21972, 31977 und Frankfurt am Main/Berlin/Wien (Ullstein) 1978.

Alfred Schmidt, Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte, in: ders. (Hg.), Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1969, S. 194-265.


In diesen Tagen feiert einer der originären Schüler der Frankfurter Kritischen Theorie seinen 75. Geburtstag. Alfred Schmidt, Student und späterer Mitarbeiter von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, gehört seit mehr als drei Jahrzehnten zu den Chronisten einer Philosophie, die den Ruf einer eigenständigen Schulbildung genießt. Als Übersetzer zahlreicher Schriften u.a. von Herbert Marcuse und Henri Lefèbvre, als Nachlassverwalter und Mitherausgeber der Gesammelten Schriften von Max Horkheimer hat sich Schmidt um die Philosophie als kritische Theorie der Gesellschaft verdient gemacht. Dabei stand neben der Erschließung philosophischer Quellen auch das Bemühen um einen Begriff materialistischer Praxis im Vordergrund. Seine Beiträge zu einem kritischen Materialismus sind nicht nur durch das Studium seiner akademischen Lehrer, sondern auch durch die Schriften von Marx und Freud inspiriert. Insbesondere bei der Aneignung der Marxschen Theorie und deren Interpretation darf man Schmidt wohl zu den denjenigen zählen, die eine Weiterentwicklung kritischer Theorie möglich gemacht haben.

Das ist Grund genug, erneut auf zwei seiner früheren Arbeiten zurückzuschauen, die sich auf dem Terrain der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie bewegen. Jene Schriften zum Verhältnis von Geschichte und Struktur legen Zeugnis ab von einer Diskussion, die am besten unter dem Stichwort einer „neuen Marx-Lektüre“ zusammengefasst werden kann und die in den 60er Jahren im Frankfurter SDS und im Umkreis des Instituts für Sozialforschung geführt wurde.(1) Im Vordergrund stand dabei nicht nur ein angemessenes Verständnis der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, die nunmehr unter Rückgriff auf Vorarbeiten zum Kapital rekonstruiert werden sollte(2), sondern auch eine Kritik am Strukturmarxismus der Althusser-Schule. Diese hauptsächlich von Alfred Schmidt geführte Auseinandersetzung findet sich zum einen in dem schmalen Band mit dem Titel Geschichte und Struktur, zum anderen in dem bereits 1969 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte.
Im Kern dieser Auseinandersetzung steht der Begriff der Geschichte, den die Althusserianer von dem der Struktur abtrennen und letztlich, wie Schmidt darlegt, zum Verschwinden bringen. Althussers Interesse galt in diesem Zusammenhang der „originären Problematik“ des Marxschen Kapital, der Methode der Darstellung des inneren Zusammenhangs der Kategorien der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Dabei sollte eine strukturanalytische Betrachtung allen „historizistischen“ Ballast abwerfen, um ganz dem Formzusammenhang des Kapital gerecht zu werden.(3) So berechtigt die strukturalistische Interpretation darin gegen die marxistische Orthodoxie und deren Kanonisierung einer Einheit von Logischem und Historischem auftrete, so ungenügend sei andererseits deren Reduktion des Marxschen Geschichtsbegriffs. Wie Alfred Schmidt in dem Aufsatz von 1969 feststellt, offenbare dies einen „fundamentalen Mangel aller Spielarten moderner Ontologie, ihre völlige Geschichtsfremdheit“ (Angriff, 197). Jener „Anti-Historizismus“ sei darüber hinaus mit einem „Anti-Humanismus“ verbunden, der Subjektivität nur noch von vorgeordneten Strukturen diktiert begreifen könne: „Waren die Existentialisten bei den starren Befindlichkeiten >>des Menschen schlechthin<< stehen geblieben, hatten sie sich mit einer abstrakten Subjektivität begnügt, so verfallen die radikalen Vertreter des Strukturalismus ins entgegengesetzte Extrem: sie lösen alle Subjektivität auf in über- und intersubjektive >>Strukturen<<.“ (ebd.) Exemplarisch zeige sich dies in de
Zeitungsauschnitt, 28.2k

Siehe zu den Bildern auch das Editorial.
Saussures „strukturaler Linguistik“, die ein grammatikalisches System im Gehirn vermutet, das jedem Sprechen vorgeordnet sei, in Lévi Strauss’ „strukturaler Anthropologie“ mit deren Grundthese von invarianten archaischen Bewusstseinsinhalten und letztlich auch in der Ideologienlehre Althussers, worin Ideologie als invariante Struktur verstanden wird, die unumgänglich im Subjekt ihren Niederschlag findet. Letzteres – so stellt Schmidt heraus – sei unvereinbar mit dem Marxschen Ideologiebegriff, der immer auch die praktische Revolutionierung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses samt seiner Bewusstseinsinhalte intendiere.
Während Schmidt in dem früheren Aufsatz zur Strukturalismuskritik aufzuzeigen versucht, dass mit der linguistischen Wende und ihrem sprachphilosophisch und ethnologischen Niederschlag ein „neuer Apriorismus“ oder eine „moderne Ontologie“ entstanden ist, die in der Lacanschen Psychoanalyse genauso zu finden sei wie in Foucaults Rede vom Verschwinden des Subjekts, nimmt er in Geschichte und Struktur das Marxsche Geschichtsverständnis zum Ausgangspunkt für eine Interpretation der Methode der Kritik der politischen Ökonomie.
Ausgehend von der Fragestellung, ob man es bei der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie – wie von der Althusser-Schule behauptet – mit einer „Theorie des gesellschaftlichen Transformationsprozesses gesellschaftlicher Strukturen“ zu tun hat, die einen „methodologischen Vorrang der Synchronie (Struktur) gegenüber der Diachronie (Geschichte)“ (15) behauptet, diskutiert Schmidt das „Verhältnis des Logischen zum Historischen“, das seit jeher Gegenstand marxistischer Debatten über das Kapital war. Anders aber als Althusser, der die Subjekte zugunsten des Vorrangs der objektiv gesellschaftlichen Strukturen zu bloßen „Funktionsträgern“ oder „Vollzugsorganen“ degradiert, versucht Schmidt mit Hegel das Prozesshafte, das die Konstitution des gesellschaftlichen Systems in einen historischen Kontext einbettet, festzuhalten. „Solcher Rekurs auf Hegel“, so schreibt er, sei „insofern unerläßlich, als er gestattet, sich dem Zirkel einer geschichtslosen Struktur, die erkennbar, und einer strukturlosen Geschichte, die unerkennbar ist, zu entziehen.“ (35). Mit dieser Verteidigung des Hegelschen Erbes in Marx (16) findet sich Schmidt zum einen in der von Althusser angestoßenen Diskussion einer Trennung von Logik und Geschichte, zum anderen inmitten der Marxschen Texte, die ein durchaus ambivalentes Geschichtsverständnis aufweisen.(4) Dabei vertritt Schmidt die These, dass Marx insbesondere in den vielzitierten Vor- und Nachworten oft hinter dem zurückbleibt, was er andernorts am Textmaterial zu leisten im Stande ist (105). Mit der Vorgabe, dass die Kritik der politischen Ökonomie sich nicht – wie noch einige Formulierungen bei Engels und erst recht spätere marxistische Verflachungen nahe legen – in der Form einer historischen Darstellung erschöpft, sondern im Gegenteil die innere Struktur einer „historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise“ (Marx) erfassen soll, entwickelt Schmidt das Verständnis einer „negative(n) Einheit von Kategorialem (Logischem) und Historischem“ (135), das sich von der oben erwähnten marxistisch verkürzten Variante dahingehend unterscheidet, dass es die Selbständigkeit des Historischen auch in der Einheit der logischen Formgenese festhält. So fallen Logik und Geschichte der kapitalistischen Totalität einerseits nicht unterschiedslos zusammen, wie in der von Engels angestoßenen Vorstellung der logischen Methode Marx’ als einer historischen, die nur von „störenden Zufälligkeiten“ bereinigt sei. Andererseits wird der Gegensatz von Logik und Geschichte auch nicht einfach – wie bei Althusser und seinen Schülern – zugunsten einer ahistorischen Strukturinterpretation ausgelöscht.
Anhand der überaus fragmentarischen Erklärungen von Marx aus der „Einleitung“ [Zur Kritik der politischen Ökonomie] extrapoliert Schmidt die „negative Einheit“ von Struktur und Geschichte: Die Methode „vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen“, also die begriffliche Aneignung der Kategorien (Wert, Ware, Geld usw.), sei mit Marx „keineswegs (...) der Entstehungsprozeß des Konkreten selbst“. Mit anderen Worten: Die genetische Darstellung der konkreten Totalität, d.h. des kategorialen Zusammenhangs, kann nicht mit der des realen Geschichtsverlaufs zusammenfallen. Schmidt spricht daher von „Nicht-Identität von Erkenntnis und realer Genesis des Erkannten“ (51), worin sich der von Adorno stammende Gedanke einer „negativen Totalität“ andeutet, den Schmidt hier auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie anwendet. Obwohl immanente Darstellung der Kategorien und empirische Geschichte auseinander treten, bleiben sie wechselseitig aufeinander bezogen, durchdringen einander (56/57).
Diese Einheit des Unterschiedenen, dies wechselseitige Aufeinander-Verwiesensein von Struktur und Geschichte, bereitet jedoch einige methodische Probleme, die bereits Marx vor Augen standen und die er nicht zur Zufriedenheit hat lösen können. So lässt sich die Geldform als reale Form des gesellschaftlichen Verkehrs nur schlüssig durch historische Tatsachen, also z.B. die Einführung von edlen Metallen wie Gold und Silber für den Tauschprozess, begründen. Ebenso musste und muss der Staat qua Rechtsform die Form der Waren- und Geldzirkulation garantieren, indem er die Subjekte als Rechtssubjekte und damit als Wareneigentümer setzt und deren wechselseitige Anerkennung als solche garantiert. Vor allem die Durchsetzung solcher Rechtsverhältnisse lässt sich nicht immanent aus der Logik des Kapitals begründen. Es bedurfte eines äußeren Zwangs, der Gewalt der „absoluten Monarchie“, wie Marx im Kapitel über die „ursprüngliche Akkumulation“ ausführt, um die Verwertungsbedingungen des industriellen Kapitals herzustellen. Allein diese Beispiele zeigen, dass die logische Darstellung – wie Marx andernorts bemerkt – an ihre Grenzen stößt und dass deshalb ein „Hereintreten“ der Historie in die Darstellung der Struktur des Gesellschaftsganzen unablässig ist.
Diese von Marx selbst benannten Grenzen dialektischer Darstellung greift auch Alfred Schmidt auf. Zum Beispiel zeige sich die Inkommensurabilität von Logik und Geschichte an dem Punkt, wo Marx erörtere „wie Geld sich in Kapital verwandelt“. Er sei dabei genötigt, „einzusehen, daß >>die dialektische Form der Darstellung nur richtig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt<<, das heißt die Einbruchsstellen lebendiger Geschichte ins naturhaft erstarrte System.“ (66). Marx sei sich aber über diese „Einbruchsstellen“ des Historischen nicht ganz im Klaren, was ihn zu Problemen in der Darstellungskonzeption führe. Exemplarisch nennt Schmidt den sogenannten „Übergang ins Kapital“ im Rohentwurf (1857/58) und im Urtext (1858), bei dem Marx zwischen einer logisch-begrifflichen und einer historischen Erklärungsweise schwanke und sich letztlich dafür entscheide, dass sich „der >>allgemeine Begriff<< des Kapitals rein deduktiv aus der >>einfachen Zirkulation ergibt<<, weil diese bei bürgerlicher Produktionsweise >>selbst nur als Voraussetzung des Kapitals und es voraussetzend existiert<< (ebd.). Zwar reflektiere Marx hierin – so Schmidt – , dass die „einfache Zirkulation“ als wirkliche und „notwendige Form“ der Zirkulation des Kapitals vorausgehen müsse, was aber „die Gesetzmäßigkeit dieses Übergangs der Zirkulation ins Kapital betrifft, so bereitet sie insofern beträchtliche Schwierigkeiten, als Marx ihren geschichtlichen Charakter nicht etwa historiographisch, sondern logisch darstellt“ (67). Der Begriff der „einfachen Zirkulation“ bezeichne demnach – ganz wie im späteren Kapital – nur noch eine „abstrakte Sphäre“, die lediglich die Bewegungsformen des industriellen Kapitals, nicht aber seine historische Genese darlege.(5)
Adorno hat jenes Problem – freilich in anderem Zusammenhang – ebenfalls gesehen. In seiner Einleitung zum „Positivismusstreit“ formuliert er, dass Gesellschaft als „das Verselbständigte“ „nicht länger verstehbar“ sei, sondern nur „das Gesetz von Verselbständigung“. Mit anderen Worten: das Resultat – eine Gesellschaft, die den Individuen heute als eine wesenhafte und unüberwindbare Struktur gegenübertritt (als Totalität) – ist selber nicht schlüssig darstellbar, allenfalls sein Werden. Darin ist ausgedrückt, dass die Bestimmung einer Gesellschaftsformation nur unter Rekurs auf ihre historischen Entstehungsbedingungen möglich ist – und nicht in einem bloßen Strukturzusammenhang aufgeht. Das hat Alfred Schmidt mit Marx gegen den Strukturmarxismus deutlich gemacht. Der lebendige Gegensatz von Struktur und Geschichte ist nicht wegzudisputieren. In „negativer Einheit“ sind beide Elemente aufeinander bezogen: „Die Dialektik im Werk des reifen Marx läßt sich als negative Einheit von strukturaler und historischer Methode kennzeichnen.“ (136). Allerdings, so betont Schmidt , dürfe man sich bei dieser „hegelianischen Formel“ nicht beruhigen, sondern müsse insbesondere den Aspekt der „Negativität jener Einheit“ hervorheben, ganz im Sinne negativer Dialektik. Deshalb sei es die Aufgabe marxistischer Theoretiker, „die strukturalistische Negation der Geschichte bestimmt zu negieren“ (137).
Eine solche Anwendung der Philosophie Adornos auf die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie(6) ist ein Stück originärer Kritischer Theorie. Alfred Schmidts Buch zu Geschichte und Struktur war damit Anfang der 70er Jahre Ausdruck einer Schulbildung, die den Anspruch hatte Marxismus und Philosophie zusammenzudenken.

Roman

Fußnoten

(1) Siehe den von Walter Euchner und Alfred Schmidt herausgegebenen Sammelband Kritik der politischen Ökonomie heute. 100 Jahre „Kapital“, Frankfurt am Main 1968 und darin besonders das Referat von Alfred Schmidt Zum Erkenntnisbegriff der Kritik der politischen Ökonomie
(2) Den Anfang machten damals Hans-Georg Backhaus mit dem Aufsatz Zur Dialektik der Wertform und Helmut Reichelt mit seiner Dissertationsschrift Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Kritisch zum Begriff der Rekonstruktion äußert sich später Backhaus im 3. Teil seiner Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie
(3) Einen neueren strukturalistischen Zugang zum Kapital hat zuletzt Martin Eichler in Dieter Wolfs struktursemantischem Rekonstruktionsansatz der Marxschen Werttheorie entdeckt und dagegen Helmut Reichelts Ausgangspunkte einer Geltungstheorie des Werts verteidigt (CEE IEH #130, hierzu umfassend: die Kontroverse zwischen Ingo Elbe und Martin Eichler in CEE IEH #128-131).
(4) Zum Marxschen Geschichtsbegriff: Geschichtsphilosophie oder das Begreifen der Historizität, Band 1 der Schriften der Marx-Gesellschaft
(5) Helmut Reichelt hat zuletzt mehrfach unter dem Stichwort „Doppelbedeutung der einfachen Zirkulation“ auf jenes Problem verwiesen, wonach Marx im Rohentwurf im Gegensatz zum Kapital versuche, den Begriff des Kapitals aus historischen Voraussetzungen zu entwickeln. Dazu u.a. das Vorwort zur Neuauflage (2001) von Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx
sowie der Aufsatz Die Marxsche Kritik ökonomischer Kategorien. Überlegungen zum Problem der Geltung in der dialektischen Darstellungsmethode im „Kapital“
(6) Auch Gerhard Scheit hält in Suicide Attack. Zur Kritik der politischen Gewalt daran fest, die „Negative Dialektik“ Adornos auf die Marxsche Werttheorie anzuwenden. Nur so lasse sich die „Dissoziation von Logischem und Historischem “ erkenntniskritisch reflektieren. Da die Marxsche Methode sich dem Dilemma von logischer Form und geschichtlichem Inhalt gegenübersieht, gehe es darum, nicht an einer der beiden Optionen sein Genügen zu finden.

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last modified: 28.3.2007