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"Gesellschaftliche Bewegung der Sachen" oder
"Verselbständigung verrückter Formen"?

Erkenntniskritische Anmerkungen zu den Beiträgen Ingo Elbes im CEE IEH #128 und #129(1)

Die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes

„Und Freitags wird der Abfall rausgebracht“ – „Mohammed, du Dummkopf, bring meine Mutter zurueck!“ , 25.1k
„Und Freitags wird der Abfall rausgebracht“ – „Mohammed, du Dummkopf, bring meine Mutter zurück!“
„Empfehlung des Propheten: Richtung Westen richtet ein guter Moslem seine Pfuerze“ - „Deshalb sind hier in Mekka-West die Haeuser so billig.“, 12.0k
„Empfehlung des Propheten: Richtung Westen richtet ein guter Moslem seine Pfürze“ – „Deshalb sind hier in Mekka-West die Häuser so billig.“
„Ich glaube, dass ich gerade wieder eine Botschaft von Allah erhalte.“, 31.5k
„Ich glaube, dass ich gerade wieder eine Botschaft von Allah erhalte.“
„Hau ab, du dreckiges Tier“ – „Wie unrein muss ich noch werden?“, 11.5k
„Hau ab, du dreckiges Tier“ – „Wie unrein muss ich noch werden?“
Niederländischer Humor unter dem Titel Spaß mit Mohammed.
Kurze Erklärung und Übersicht über die anderen Karikaturen im Editorial
Diskussionen über die grundlegenden Marxschen Kategorien, über ihren ontologischen Status, ihren theoretischen Gehalt und ihre praktische Relevanz sind eine Sache für sich. Dem Schwierigkeitsgrad nach setzten sie eine arbeitsteilige Gesellschaft voraus, sind kaum zu führen, wenn man sich nebenbei noch mit der eigenen Reproduktion beschäftigen muss. Andererseits ist ihr gesellschaftlicher Gebrauchswert – gelinde gesagt – nicht ganz unumstritten, so dass der dafür reservierte akademische Bereich kaum länger offen steht. So führen die avancierteren Diskussionen um Marx ein selbstreferentielles Dasein am Rande der Öffentlichkeit und ihre Vertreter sind verstrickt in Debatten, die auch der interessierende Außenstehende erst nach jahrelangem Studium nur ansatzweise versteht. Der Schwierigkeit und Bedeutung des zu untersuchenden Sujets – es geht schlichtweg um alles – als auch der eigentümlichen Verschränkung von linker Struktur und wissenschaftlichem Anspruch ist es geschuldet, dass selbst Debatten innerhalb der marxologischen Szenerie kaum mit dem Ziel eines gegenseitigen Verstehens, sondern eher mit dem Gehabe von Platzhirschen geführt werden. Die Beteiligten erscheinen auf Grund ihrer Ohnmacht als Getriebene der Wahrheit, in deren Besitz sie sich glauben. Das Dilemma, in dem sich jeder befindet, der sich an der Diskussion beteiligt oder beteiligen möchte, ist nicht allein ein Hausgemachtes. Der verzweifelte und trotz dieser Verzweiflung zu verteidigende Anspruch, die Bewegungsgesetze dieser Gesellschaft erkannt zu haben, lässt kaum ein anderes Verhalten zu. Doch selbst wenn sich die gesellschaftlichen Bedingungen noch einmal ändern sollten, sei es, dass eine Marxrenaissance zur Mode des Wissenschaftsmarktes wird, sei es, dass eine tiefe gesellschaftliche Krise nach Gesellschaftskritik verlangt – die Erfahrung linker Bewegungen und Diskurse zeigt auch dann, dass eine Wende zum Besseren kaum zu erwarten ist. Alle kapitalismuskritischen Debatten der 70er Jahre führten – gemessen an der gesellschaftlichen Wirksamkeit – maximal in Regierungsämter oder ins Feuilleton der FAZ. Wer denkt, dass es einmal anders kommen könnte, ist naiv – im besten wie im schlechtesten Sinne des Wortes.
Sinnvoll, zur Gelassenheit aufzurufen, ist es angesichts des gesellschaftlichen Zustandes nicht, wobei hinzugefügt werden muss, dass die „Produktion der Panik“ seit jeher Lieblinsinstrument linker Praxis war. Das gemeinsame Band wird über die Angst vor dem noch Schlimmeren geknüpft, wobei dies nicht in Frage stellt, dass eine reale Bedrohung durch das Noch-Schlimmere besteht.

Auf den ersten Blick erscheint die 2004 unter dem Titel: Kritische Theorie und Kritik der Politischen Ökonomie(2) veröffentliche Kritik von Dieter Wolf an dem Aufsatz von Helmut Reichelt Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Überlegungen zum Problem der Geltung in der dialektischen Darstellungsmethode im >>Kapital<<(3) als Paradebeispiel marxologischer Debatten in Zeiten ihrer gesellschaftlichen Irrelevanz. Wolf schafft es tatsächlich, auf etwa hundert Seiten eine leidenschaftliche Kritik an einem halb so langen Aufsatz zu entfalten, an dem von Reichelt aufgeworfenen Problem, dass dieser in kaum zu übersehender Deutlichkeit formuliert, aber völlig vorbeizureden. Dennoch lässt sich aus der Auseinandersetzung ein Mehrwert an Erkenntnis gewinnen. Wolf verteidigt Marx gegen die Kritik Reichelts und weist dessen Interpretationen zurück. Er hat damit insoweit recht, als dass die von Reichelt vorgenommene Bestimmung des Werts als „Abstraktionsprodukt der Austauschenden“ (Geltung: 147) nicht von Marx gedeckt ist. Der von Wolf vertretene strukturalistische Zugang zum Kapital erweist sich im Interpretationenvergleich als der schlüssigere – auch wenn bei Marx Passagen existieren, die Reichelts Geltungstheorie stützen.(4) Marx argumentiert im Kapital auf der Höhe der „gesellschaftlichen Bewegung der Sachen“ und nicht als Geltungstheoretiker. Diese philologische Kritik tangiert jedoch m.E. nicht die von Reichelt in Anschluss an Adorno aufgeworfene Frage nach der Verselbständigung menschlicher Handlungen zu einem Verblendungszusammenhang. Wolfs strukturalistischer Blick verbietet es ihm, diese Frage auch nur zu stellen, ihm entgeht damit die Relevanz der Überlegungen Reichelts. Für ihn ist die „gesellschaftliche Bewegung der Sachen“ a priori gesetzt. Dies soll im folgenden herausgearbeitet werden.

Zur Verteidigung des Ausgangspunktes von Reichelts Geltungstheorie

Reichelts „Geltungstheorie“ ist thesenhaft und programmatisch. Sie tritt jedoch mit einem sehr weitgehenden theoretischen Anspruch auf und mit einer dezidierten Marxkritik. Mehr aber noch als der Angriff auf das libidinös besetzte Objekt, den Kirchenvater, wie Adorno ihn gelegentlich nannte, kratzt Wolf wohl Reichelts Behauptung, die bei Marx ausfindig gemachten Probleme gelöst und einer – soweit es der Gegenstand eben zulässt – konsistenten Theorie zugeführt zu haben.

Grundsätzlicher Anspruch Reichelts ist es, den Zusammenhang zwischen den Handlungen der Einzelnen und der Gesellschaft insoweit begrifflich zu fassen, dass
  1. eine Rekonstruktion der Verselbständigungsprozesse über die einzelnen Tauschhandlungen gelingt. Die Vergegenständlichung der Handlungen zu automatisch prozessierenden Formen ist im Marxschen Kapital vorausgesetzt. Marx geht dort von einem existierenden Gesamtzusammenhang und damit von für den Einzelnen imperativisch wirkenden Formen aus – er expliziert diese und führt sie auf jenen eigentümlichen „Wert“ zurück, der gesellschaftsbestimmend ist und Gesellschaft konstituiert, als Transzendentales jedoch niemals als solcher vorgefunden, sondern nur aus seinen Erscheinungsformen deduziert werden kann und durch seine Erscheinungsformen als existent angenommen werden muss. Reichelt versucht die Urgeschichte des sich zum Bewegungsgrund der Gesellschaft aufspreizenden objektiven Wertes zu schreiben – nicht im Sinne einer positiven Geschichtsschreibung, sondern als Geschichte der Genesis der Verkehrungsformen, die die (Tausch-) Handlungen hervorbringen. Der Versuch dieser Geschichtsschreibung von Formen und Verkehrungen der Formen zu Fetischen ist legitim und notwendig, will man nicht die gesellschaftliche Struktur als eine setzen, die in ihrer Genesis nicht mehr hinterfragbar ist. Genau dies aber ist der Ausgangspunkt Wolfs, der die „gesellschaftliche Bewegung der Sachen“ als Erstes setzt und deshalb nicht mehr dahinter zurückgehen kann.
  2. es möglich wird, den ontologischen Status der gesellschaftsbestimmenden und Gesellschaft konstituierenden Formen des Werts (Tauschwert, Geld, Kapital) aufzuklären. Weiter gefasst zielt diese Frage auf den Begriff des Gesellschaftlichen überhaupt, auf jene Vergegenständlichungen, die von Menschen hervorgebracht, aber nicht von ihnen kontrolliert werden. Reichelt vertritt dabei die These, dass die gesellschaftlichen Formen real existierende Abstraktionen seien. Anschluss an Marx suchend, fasst er sie als „objektive Gedankenformen“, die in Differenz bspw. zu Gebrauchsgegenständen als geltende und daher seiende und nicht als unmittelbar seiende zu begreifen wären. Die Relevanz dieses Problems deutet folgende Frage Reichelts an: „Was ist das aber für ein Objekt, das sich verselbständigt, sich verkehrt, sich – obwohl ein Entsprungenes – zu einem Ersten aufspreizt, zu einem systemischen Moloch ausbreitet und die lebendigen Individuen, die es doch in ihrer Lebenswelt hervorbringen, zu mitgeschleppten Anhängseln herabsetzt?“ (Geltung: 144)
Reichelt Zentralproblem ist es, „dieses Gesetz der Verselbständigung, das eine Bewegung nachvollzieht, die sich durch die bewussten Handlungen der Individuen hindurch vollzieht, und doch zugleich der bewussten Einsicht entzieht“ (Geltung: 143/144) zu explizieren. Es geht ihm also darum, wie sich der ursprünglich partikulare Handlungszusammenhang des Austauschs von Überflussprodukten zu einem allgemeinen aufspreizen kann, der über seine Handlungsform – den Austausch – die materiellen Reproduktionsprozesse der Gattung bestimmt. Die Verselbständigung der einzelnen Tauschakte zu einem System von Tauschakten muss – so Reichelts Ausgangspunkt – in den einzelnen zuerst zufälligen Tauschakten angelegt sein. Die „rationale Rekonstruktion des Verhängnisses“ kann dabei nur gelingen, wenn man die durch die Tauschhandlungen sich konstituierende Form der Austauschbarkeit betrachtet, die ein logisches und zeitliches Prior vor ihrem Inhalt besitzt. Die Form der Austauschbarkeit eignet sich im Moment der gesellschaftlichen Hegemonialwerdung des Tausches die abstrakte Arbeit als Wertsubstanz an und schafft sie damit in gewisser Weise überhaupt erst.
Dieser genealogische – wobei die Betonung hier auf logisch liegt – Zugang zum Wertproblem bedarf einer wichtigen Explikation. Reichelt betrachtet die einzelnen Tauschakte nämlich nicht als opake Handlungen, sondern hinsichtlich der Gedankenbewegungen, die die Handelnden bei der Antizipation des Austauschs vornehmen – genauer: vornehmen müssen. Dies hat mehrere Gründe:
Reichelt rekurriert zum einen auf bestimmten Überlegungen Adornos und Hegels. Nach Hegel ist das Geld der „materielle, existierende Begriff, die Form der Einheit, oder die Möglichkeit aller Dinge des Bedürfnisses.“(5) In Adornos Worten: „Den Vorwurf des Idealismus hat jener nicht zu fürchten, der Begriffliches der gesellschaftlichen Realität zurechnet. Gemeint ist nicht ... die konstitutive Begrifflichkeit des erkennenden Subjekts als eine in der Sache selbst waltende ... Der Tauschakt impliziert die Reduktion der gegeneinander zu tauschenden Güter auf ein ihnen Äquivalentes, Abstraktes, keineswegs nach herkömmlicher Rede, Materielles.“(6) Dieses Äquivalente fasst Adorno als „vermittelnde Begrifflichkeit“, den Tauschwert gegenüber dem Gebrauchswert als „bloß Gedachtes“.(7) Der Versuch, Gesellschaftliches als Begriffliches eigener Art, nämlich als objektiv Begriffliches zu fassen, steht damit in Abgrenzung gegen die Konstitution natürlicher Gegenstände, die nicht allein durch die Handlungen (oder Konstitutionsleistungen) der Individuen hervorgebracht sind, sondern immer auf einen Zusammenhang verweisen, der schon vor den Menschen da war – die Natur. Bei der Konstitution von Gesellschaftlichkeit, von Geld und Kapital, ist offensichtlich keine direkte Anlehnung an die natürlichen Eigenschaften der Dinge vorhanden, sie sind in diesem Sinne rein menschlich. Warum aber „objektiv begrifflich“? Objektiv (oder real abstrakt) sind sie in dem Sinne, dass sie eine Wirkmächtigkeit entfalten, die denen natürlicher Eigenschaften nicht nachsteht. Als Unternehmer unprofitabel zu wirtschaften, ist ähnlich schädlich wie permanent – ihre Dichte missachtend – gegen Bäume zu laufen. Vielleicht ist der Spielraum etwas größer, es steht jedem frei, ohne Geld auszukommen zu versuchen, aber schließlich kann man kann auch mit Bäumen sprechen. Der Moment des Begrifflichen oder der Abstraktion verweist auf die Konstitutionsleistung der Subjekte(8) bei der Produktion des Gesellschaftlichen. Sie hat für Reichelt bewusste und unbewusste Aspekte.

Reichelts Rekurs auf die Gedankenbewegungen hat zugleich eine antistrukturalistische Pointe. Nicht ohne Grund versucht Wolf Reichelt an dieser Stelle mit dem Vorwurf des Psychologismus auszuhebeln. „Die >>Geltungstheorie<< scheitert schon an folgendem, allgemein gültigen Sachverhalt: Es ist unmöglich, dass ein gesellschaftlich Allgemeines von allgemeiner gesellschaftlicher Gültigkeit, worauf sich einheitlich alle Menschen beziehen, dadurch zustande kommen kann, dass die einzelnen Menschen unabhängig voneinander ... es bereits in Gedanken im Kopf vorweggenommen haben.“ (Kritik: 84)(9) Es mag sein, dass Reichelt den Aspekt der Gedankenbewegung zu stark betont und den der Handlung, die den gesellschaftlichen Kontakt erst real vollzieht, zu wenig. Dass jedoch die Tauschhandlung mit einer Antizipation der Wertform im Geiste einhergehen muss, ist eigentlich nicht zu bestreiten. Schlicht und einfach: Ich mache mir Gedanken darüber, was ich für mein Produkt bekomme. Damit setzte ich ein anderes Produkt meinem gleich; eine Gedankenbewegung, die sich dann im Austausch zu realisieren hat. Jede Handlung lässt sich in ihren einzelnen Aspekten – seien sie bewusst bzw. unbewusst, geistige oder körperliche – analysieren. Es ist kein Psychologismus oder Subjektivismus zu betonen, dass die bewussten und unbewussten Aspekte sich „im Kopfe“ abspielen.(10) Sieht man von der Frage nach der Bedeutung der Konstitutionsleistung der Individuen ab, reduziert sich die ganze Kritik Wolfs an der Bedeutung der Gedankenbewegungen auf den Unterschied, dass Reichelt die Gedankenbewegungen als unbewusste innerhalb und Wolf die auch bei ihm als unbewusst bezeichnete Struktur außerhalb des Kopfes angesiedelt sehen will. Diese Struktur kann dann aber nur noch im Nirgendwo platziert werden. Erklärt ist mit beiden Formulierungen erst einmal gar nichts, lediglich zwei Bildchen gemalt. Im Unterschied zu Wolf ist sich Reichelt der Problematik dieses Bildermalens aber bewusst, indem er den Vorrang des Denkens vor dem Vorstellen betont (vgl. Geltung 157).
Wolf hat mit seiner alleinigen Konzentration auf die „gesellschaftliche Bewegungen der Sachen“ eine ganze Reihe von Folgeproblemen: Wie entsteht diese Struktur?(11) Ist sie einfach da?(12) Wie kann die Struktur imperativisch wirken, wenn sie unabhängig von den Menschen ist? Wie ist Struktur als Struktur zu fassen? Als Struktur ist sie nicht gegenständlich, materialisiert sich allerdings in Gegenständen. Als handlungsbestimmend tritt sie mir in anderen Personen entgegen (den Anderen tritt sie in mir entgegen). Sie völlig von den Personen zu lösen – wie Wolf dies intendiert – bedeutet m.E. in einen Dualismus von Struktur und Handlung zu verfallen, dessen Berechtigung ausgewiesen werden müsste. Dies tut Wolf jedoch nicht. Es liegt somit nahe, einen wolfschen Strukturenhimmel anzunehmen, dessen Schatten an unserer Höhlenwand lichtern.(13)

Neben der, sich aus der Konzentration auf die Gedankenbewegungen der Austauschenden ergebenden, Möglichkeit, die Konstitution der Verselbständigungen und Verkehrungen in den Blick zu bekommen, und der damit im Zusammenhang stehenden antistrukturalistischen Position, ist Reichelt bemüht, Marx als Kronzeugen seiner Geltungstheorie in Anspruch zu nehmen. Dies missglückt – zumindest was die Eindeutigkeit angeht, mit der Reichelt folgende These aufstellt –, d.h. an dieser Stelle hat die Kritik Wolfs als philologische ihre Berechtigung. Reichelt schreibt: „Erst das Kapital enthält explizite Hinweise, was man sich unter Kategorien zu denken hat, und dass sie in Verbindung mit dem Wert als einer von den Austauschenden selbst vollzogenen Abstraktion zu entwickeln sind. Kategorien werden dort in aller wünschenswerten Deutlichkeit als >>objektive Gedankenformen<< bezeichnet, als >>subjektiv-objektiv<< charakterisiert und der Wert als Abstraktionsprodukt, das >>im Kopf existiert<<: >>Äquivalent bedeutet hier nur Größengleiches, nachdem beide Dinge vorher in unserem Kopf stillschweigend auf die Abstraktion Wert reduziert worden sind.<<“ (Geltung: 145/146)(14) Ingo Elbe weist zurecht darauf hin, dass das letzte Zitat im Marxschen Kontext nicht auf einer „von den Austauschenden selbst vollzogenen Abstraktion“ Bezug nimmt, sondern auf die „Erfassung des Werts durch das wissenschaftliche Bewusstsein“.(15)
Man muss aber beachten, dass Marx an solchen und ähnlichen Stellen – bspw. der polemischen Rede vom „Gedankending“ (MEGA II/5: 30) – sich gegen die Vorstellung des Werts als bewusste Abstraktion wendet. Der Wert kann lediglich im Verhältnis von Gebrauchswert und Tauschwert erscheinen und nicht als „Gedankending“ in den alltäglichen Handlungsvollzügen wahrgenommen werden. Marx äußert sich im Kapital nicht zur Konstitution der gesellschaftlichen Formen.(16) Auch das Fetischkapitel behandelt hauptsächlich, wie sich die Verdoppelung des Werts in Tauschwert und Gebrauchswert auf die Handelnden auswirkt, dass der von ihnen hervorgebrachte gesellschaftliche Zusammenhang nicht als solcher erscheint. Er erscheint als und ist damit ein Verhältnis von Sachen. Man kann von zwei methodischen Bewegungen sprechen, die es erlauben, sich dem Zusammenhang von Gesellschaft und Handlung im Hinblick auf den Wert zu nähern. Marx und mit ihm Wolf gehen den Weg von den gesellschaftlichen Formen zu den Handlungen der Einzelnen.(17) Reichelts Ziel ist es jedoch, die Entstehungsgeschichte des Gesellschaftlichen selbst in den Blick zu bekommen. Folgendes Zitat aus dem Fetischkapitels zeigt, dass Marx die Rede von unbewussten Gedankenbewegungen so absurd nicht erschien, wie Wolf anzunehmen scheint: „Um ihre Produkte auf einander als Waaren zu beziehn, sind die Menschen gezwungen, ihre verschiednen Arbeiten abstrakt menschlicher Arbeit gleichzusetzen. Sie wissen das nicht, aber sie thun es, indem sie das materielle Ding auf die Abstraktion Werth reduciren. Es ist dieß eine naturwüchsige und daher bewußtlos instinktive Operation ihres Hirns, die aus der besondren Weise ihrer materiellen Produktion und den Verhältnissen, worin diese Produktion sie versetzt, nothwendig herauswächst. Erst ist ihr Verhältniß praktisch da. Zweitens aber, weil sie Menschen sind, ist ihr Verhältniß als Verhältniß für sie da. Die Art, wie es für sie da ist, oder sich in ihrem Hirn reflektiert, entspringt aus der Natur des Verhältnisses selbst. Später suchen sie durch die Wissenschaft hinter das Geheimniß ihres eigenen gesellschaftlichen Produkts zu kommen, denn die Bestimmung eines Dinges als Werth ist ihr Produkt, so gut wie die Sprache.“ (MEGA II/5: 46)(18) Die Menschen reduzieren unbewusst „im Kopf“ ein Ding auf die Abstraktion Wert und zwar nicht erst in der (wissenschaftlichen) Reflektion auf das gesellschaftliche Verhältnis, sondern bereits in der Handlung, die das Verhältnis je aktualisiert.(19)

Abschließend sei noch – in einigen Sätzen – etwas zu den Überlegungen Reichelts hinsichtlich des Marxschen Arbeitsbegriff angedeutet.(20) Reichelt fragt: „Aber wie transformiert sich diese abstrakt-menschliche Arbeit [die Wertsubstanz], die [von Marx] als >>Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand u.s.w.<< bestimmt wird, in diese Abstraktion des Wertes? Wie kann diese Verausgabung die Form des Wertes annehmen?“ (Geltung: 146) Auch diese Frage ist höchst berechtigt, setzt Marx doch im Kapital die abstrakte Arbeit als Wertsubstanz bereits immer voraus. Sie ist innerhalb seines Konzeptes nicht begründet. Wiederum erkennt Wolf dieses im Marxschen Text existierende Problem nicht. Er kritisiert Reichelts wiederum nur philologisch und arbeitet heraus, dass die Bestimmung der abstrakt-menschlichen Arbeit als „Verausgabung von menschlichem Hirn, Muskel, Nerv, Hand u.s.w.“ nicht zentral sei für den Marxschen Gedankengang. Sie müsse vielmehr als dominierende gesellschaftliche Form begriffen werden. (vgl. Kritik: 74ff) Dieser Hinweis tangiert jedoch die Fragestellung nicht, wie die Arbeit zur dominierenden gesellschaftlichen Form und wie sie Inhalt der Wertform werden konnte. Wiederum setzt Wolf die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft als gegeben, die Frage nach der Genesis bleibt außen vor.

Martin Eichler

Fußnoten

(1) Da Ingo Elbe seine Kritik an Helmut Reichelt allein durch Argumente Dieter Wolfs formuliert, beziehe ich mich im Folgenden auch vorwiegend auf diesen. Dabei beschränke ich mich an dieser Stelle auf die Verteidigung der Intention Reichelts und gehe auf die Durchführung nicht näher ein -– um den Rahmen des Heftes nicht völlig zu sprengen und die für dieses Vorhaben notwendig werdende Einbeziehung weiterer philologischer Explikationen zu Marxschen Überlegungen möglichst zu vermeiden.
(2) Dieter Wolf: Kritische Theorie und Kritik der Politischen Ökonomie, in: Dieter Wolf, Heinz Paragennings: Zur Konfusion des Wertbegriffs. Beiträge zur >>Kapital<<-Diskussion, Argument 2004, S. 9-190. Im Folgenden zitiert als Kritik.
(3) Helmut Reichelt: Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie. Überlegungen zum Problem der Geltung in der dialektischen Darstellungsmethode im >>Kapital<<, in: Iring Fetscher, Alfred Schmidt (Hg.): Emanzipation als Versöhnung. Zu Adornos Kritik der >>Warentausch<<-Gesellschaft und Perspektiven der Transformation, Frankfurt am Main 2002, S. 142-189. Im Folgenden zitiert als Geltung.
(4) Wobei damit nicht gesagt sein soll, dass Marx Strukturalist wäre (vgl. Fußnote 19).
(5) G.W.F. Hegel: Jenaer Realphilosophie. Ausarbeitungen zur Geistesphilosophie von 1803/04 in: G.W.F.Hegel: Frühe politische Systeme, Berlin 1974, S. 334
(6) Theodor W. Adorno: Soziologie und empirische Forschung, in: Gesammelte Schriften 8, Frankfurt am Main 1972, S. 209
(7) ebd.
(8) Es sei an dieser Stelle dahingestellt, ob man den Wert wirklich als ein Begriffliches fassen muss oder ob es adäquatere Beschreibung für ihn gibt. „Begrifflich“ verweist immer schon auf Verstandenes oder Durchdrungenes, aber darum, dass betonen Adorno und Reichelt immer wieder, handelt es sich beim „objektiv Begrifflichen“ nicht.
(9) Vgl. auch Elbe: CEE IEH 128. Das ganze Dilemma dieses Punktes der Kritik Wolfs liegt bereits darin, dass er objektive Gedankenbewegungen nur im Sinne einer bewussten Übereinkunft denken kann (vgl. bspw. Kritik 33).
(10) Es sei denn, man betreibt Erkenntnistheorie und will darauf hinweisen, der Begriff des Kopfes wäre eine räumliche Kategorie, Gedanken jedoch passten in keine räumliches Koordinatensystem, sondern gehören zu einem Sprachspiel sui generis. Dies mag richtig sein, ist aber für das ganze Problem um das es hier geht, erst einmal ohne Belang.
(11) Wolf kann hier nur zu Tautologien greifen: „Die Sachen werden in ihrem gesellschaftlichen Verhältnis zu solchen Sachen, die eine gesellschaftliche Bedeutung erhalten.“ (Kritik: 52)
(12) Als Strukturalist weist sich Wolf bspw. in folgendem Zitat aus: „Den Menschen sind immer schon Strukturen der ökonomischen gesellschaftlichen Wirklichkeit, in der sie leben, vorgegeben, die stets von dem verschieden sind, was sie von dieser Struktur wissen.“ (Kritik: 25) Auch Ingo Elbe argumentiert strukturalistisch, wenn er von einem „in ihre Handlungen [der Warenbesitzer] immer schon eingelassenen Formzusammenhang gesellschaftlicher Sachen“ spricht (Elbe CEE IEH 129: 37), wobei er zumindest von einen „Konstitutionsakt“ und einer „praktischer Hervorbringung“ des allgemeinen Äquivalents ausgeht.
(13) Formulierungen wie diese lassen kaum einen anderen Schluss zu: „Im Unterschied zum wissenschaftlichen Betrachter, der im Rahmen seiner Analyse den Wertcharakter der einzelnen Ware gedanklich im Kopf reproduziert, wird der Wertcharakter in dem gesellschaftlichen Verhältnis der Waren unabhängig von dem, was im Kopf der Warenbesitzer oder eines wissenschaftlichen Beobachters geschieht, hergestellt.“ (Kritik: 32, meine Hervorhebung) Die Menschen sind hier nur als Marionetten dargestellt, die völlig ohnmächtig einem sie Beherrschenden gegenüberstehen. Die Frage nach der Konstitution des Beherrschenden selbst stellt Wolf nicht.
(14) Das abschließende Zitate ist zu finden in MEGA II/5: 632.
(15) CEE IEH 128.
(16) Reichelt nimmt dies an. „Im Gegensatz zur neukantianischen Charakterisierung der Wertgeltung als ein immer schon im Bewusstsein stationiertes Anerkennungheischendes bezieht sich der Marxsche Geltungsbegriff ausschließlich auf den Vorgang der konstituierenden Wert-Setzung, auf die Konstituierung der Form, die als solche nicht ins Bewusstsein tritt, nicht wahrgenommen werden kann.“ (Geltung: 157) Auf die Konstituierung der Form in Reichelts Sinne bezieht sich der Marxsche Geltungsbegriff im Kapital nicht. Die Wertformanalyse ist subjektlos oder die Subjekte sind die Waren. Diese gelten füreinander und sind dadurch.
(17) Bei Wolf ist dieser Weg des Abstiegs vom Abstrakten zum Konkreten wie folgt expliziert: „Vom logisch-systematischen Standpunkt aus sind die voll entwickelten Verhältnisse vorausgesetzt, in denen die entwickelten Formen immer schon als entstandene unterstellt sind. Das Werden des Geldes ist unsichtbar in die Warenzirkulation eingeschlossen. ... Um dieses Werden zu erfassen, muss innerhalb der Warenzirkulation eine Abstraktion vorgenommen werden, ohne sie als historisch entstandenes Verhältnis zu verlassen. Innerhalb des gesellschaftlichen Prozesses müssen die in ihm entstandenen entwickelten Formen – per Abstraktionskraft – aus den nicht sichtbaren einfachen Formen erklärt werden.“ (Kritik: 92)
(18) Marx’ Text handelt auch hier nicht über die Konstitution des Wertes. Er ist wie immer im Kapital vorausgesetzt. Dies betont auch Reichelt (vgl. Geltung: 156).
(19) Dass es sich beim ersten Kapitel (insbesondere bei der Wertformanalyse) eher um die Analyse eines real existierenden Allgemeinen handelt, die Marx in der Warensprache beschreibt, als um die Beschreibung einer Struktur, zeigt auch folgendes Zitat aus dem Anhang der Erstauflage: „Diese Verkehrung, wodurch das Sinnlich-Konkrete nur als Erscheinungsform des Abstrakt-Allgemeinen, nicht das Abstrakt-Allgemeine umgekehrt als Eigenschaft des Konkreten gilt, charakterisiert den Werthausdruck. Sie macht zugleich sein Verständniss schwierig. Sage ich: Römisches Recht und deutsches Recht sind beide Rechte, so ist das selbstverständlich. Sage ich dagegen: Das Recht, dieses Abstraktum, verwirklicht sich im römischen Recht und im deutschen Recht, diesen konkreten Rechten, so wird der Zusammenhang mystisch.“ (MEGA II/5: 634) Wie groß die Schwierigkeiten des Strukturbegriffs in der Wolfschen Darstellung bereits selber sind, können folgende Überlegungen verdeutlichen: Ingo Elbe weist in seinem Wolfaufsatz immer wieder auf die Bedeutung der verschiedenen Abstraktionsstufen für eine Interpretation des Marxschen Kapitals hin (vgl. CEE IEH 129). Dieses Moment der Wolfschen Überlegungen ist auch durchaus anzuerkennen. Problematisch wird die ganze Angelegenheit jedoch, wenn man versucht, das Abstraktionstheorem mit Wolfs Strukturalismus zu vermitteln. Zum einen spricht Wolf immer wieder davon, dass die Beziehung der Waren in der Wertformanalyse für Marx allein eine „theoretisch gedachte“ (MEW 13, 29, zitiert nach Kritik: 52) sei, zum anderen betont er ihre Bedeutung als Struktur. Die Abstraktionsstufen sind damit zugleich Strukturstufen, die als Struktur – und zwar auf jeder Stufe – das Handeln der Individuen bestimmen. Was eine theoretisch gedachte Beziehung von Waren sein soll, die gleichzeitig die Handlungen der Menschen determiniert, bleibt uneinsichtig.
(20) Tatsächlich nur angedeutet. Die Problematik des Marxschen Arbeitsbegriffes wird inzwischen von vielen gesehen. Eine der ersten und bestechensten Kritiken ist die von Cornelius Castoriadis (Wert, Gleichheit, Gerechtigkeit, Politik. Von Marx zu Aristoteles und von Aristoteles zu uns; in: Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt am Main 1981). Die Kritik von Castoriadis ist allerdings vernichtend und geht weit über die Intention Reichelts hinaus, der die abstrakte Arbeit als Wertsubstanz innerhalb des Marxschen Kontextes retten möchte.

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last modified: 28.3.2007