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„Es ist, was es ist“ –
ein Griff ins Klo



Suchbild: Deutschlandfahne im Testbild, 22.5k

Die neue Single der Berliner Retro-Elektropunker MIA, „Was es ist“, und die dazugehörige Initiative ANGEFANGEN stehen für eine neue neue deutsche Welle, die jedoch nicht wie einst HUBERT KAH und andere Anfang der 80er nur der gesungenen Sprache wegen deutsch definiert wurden, sondern hier „deutsch“ auch deutsch zu meinen scheint, und mit neuen Werten versucht wird, eine coole nationale Identität zu kreieren. Selbst die gut gemeinten Stichwörter wie Toleranz, Liebe und Respekt, um die es laut ProtagonistINNen gehen soll, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei um eine hippe und poppige Variante der Leitkulturdebatte handelt, die darüber hinaus noch in altbekannter Manier, ähnlich eines Herrn Walser, genauso bewusst den Bruch mit der Geschichte sucht, um endlich wieder unverkrampft „deutsch“ sein zu dürfen.


Mit Naivität lässt sich manch Fehltritt oft erklären und gar entschuldigen. Wenn der Schritt ins Falsche jedoch so bewusst und entschieden auf seine Berechtigung beharrt, trotz der offensichtlichen Peinlichkeiten, so bedarf es wie im vorliegenden Fall einer mehr als entschiedenen Erwiderung, mit der Hoffnung, letztendlich doch ein Wachrütteln anzustoßen.
Es geht wie gesagt um MIA, deren Label und Künstlerkollektiv R-O-T (respect or tolerate) und die eng damit verbundene Initiative ANGEFANGEN, die sich auf der gleichnamigen Internetseite in schwarz rot goldenen Farben wie folgt zu erklären versucht: „Seit einem Jahr wächst der Druck. Deutschland? Unsere Werte? Menschen, die Liebe, die Orientierungslosigkeit?“(1) Es soll um „eine Definition der Werte“ gehen, „die unser Gesellschaftsleben verbessern.“ Klingt alles erstmal recht engagiert und nett beabsichtigt, weil wohl in den Augen der Macher schon ganz schön Scheiße läuft auf dieser Welt (na so was aber auch).
Problematisch dabei, weil dadurch nicht mehr nur als realitätsfremdes Gerede abzutun, wird aber der in Stellung gebrachte explizit „deutsche“ Kontext, der ihre Definition von Werten den Rahmen bietet, auch wenn es sich dabei angeblich nur um den überschaubaren Aktionsradius drehen soll.
Der Irakkrieg und die „ANTI“-Haltung Deutschlands soll nach Angaben der Gestalter für die Initiative den Ausschlag gegeben haben, die blauäugig und wirklich überzeugt der Meinung ist, dass „wir“ als Deutsche nun endlich mal der Welt gezeigt hätten, wer wirklich „stolz“ auf sein Land sein könne, da „wir“ Seite an Seite mit der Moral gegen einen Krieg einstanden: MIA-Produzent Nhoah sagt: „85 Prozent der Deutschen waren gegen den Irak-Krieg.“ Er freut sich dabei und erzählt, dass er damals in Buenos Aires war und ihm wildfremde Menschen zu seinem Deutschsein gratulierten: „Ich war dort zum ersten Mal froh, Deutscher zu sein.“
Dass ein derartiger Startschuss sich als Anlass für eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Gegebenheiten, wie es ANGEFANGEN und MIA vorgeben, von selbst diskreditiert, liegt auf der Hand. Es werden angestrebte Kriterien wie Weltoffenheit und Toleranz zwanghaft auf ein kategorisches Deutschland herunter gebrochen und zeugen damit von einem typisch deutschen Charakter, der um die Entkrampfung der eigenen Identität buhlt: „Durch diese Neubelegung der Farben soll eben auch das Verhältnis zur eigenen Identität entkrampft werden.“MIA enttäuschen, anstatt zu provozieren. Besungene Zustimmung und Einstehen für ein „neues deutsches Land“ wird als Mut gedeutet, als Mut, endlich mal wieder zu sagen, woher man kommt: „Fragt man mich jetzt, woher ich komme, tu’ ich mir nicht mehr selber Leid.“ Dass hier von Seiten des Pop offen das Schloss vor den Riegel der Aufarbeitung der deutschen Geschichte gefordert wird, ist wahrlich eine neue Qualität der vorherrschenden Stimmung einer Berliner Republik, die mittlerweile nicht oft genug betonen kann, dass endlich mal Schluss sein müsste: „Uns fehlt immer noch das geklärte Verhältnis zu unserer Vergangenheit.“ Was sonst nur von verschrobenen alten Köpfen bekannt war, tönt jetzt plötzlich aus ganz neuen Richtungen. Was sich bei MIA als Klärung gewünscht wird, möchte nicht wirklich hinterfragt werden, so verkommen ihre „frische Spuren im weißen Sand“ zu Spuren einer neuen deutschen Generation, die selbstbewusst und „kritisch“ einer neuen Zukunft entgegen schreitet. „Eigentlich muss das Ziel sein, (...) eine neue Gesellschaft zu schaffen, in der Gewalt nicht mehr vorkommt.“ Wow – Statements im Pop, die vor Aussagekräftigkeit noch so strotzen: welcome back.
Nochmal zusammengefasst: Mittels Popkultur als Musik und Kunst soll also bei MIA und ANGEFANGEN unter betontermaßen gutmenschlichen Vorzeichen und Schlagwörtern versucht werden, eine neue konzeptionelle Wertediskussion anzustoßen, um sich dadurch unverkrampft einer neuen nationalen Identität zu nähern. Über eine Katalogisierung von abstrakten Begriffen wie „Hoffnung, Respekt, Liebe, Toleranz und Mut“ kommt das Projekt nicht hinaus. Das einzig Konkrete, was bei Mia und der Initiative bleibt, ist Deutschland. Denn davon scheinen die Berliner Friedenstäubchen eine durchaus zukunftsträchtige Vorstellung zu haben. Der Anfang sei ja bereits gemacht wurden: „Denn es gibt viele, die ähnlich denken – aber noch nicht darüber sprechen.“ Dem Zitat sei abschließend zu erwidern, dass es auch besser dabei bleiben sollte. Soll hier mittels jenes Berliner Künstlermiefs nicht der deutsche Teufel an die Wand gemalt werden, kann jedoch nicht oft genug betont werden, dass derart naive gutgläubigen Ausfälle eine wahrlich zeitgemäße Variante von Deutschtümelei bedeuten, die auf vielerlei Zustimmung im sich national emanzipierenden rot-grünen Deutschland stößt.
Der Kampagne ANGEFANGEN sei deshalb hier abschließend eine Initiative gegenüber gestellt. Ich nenne sie AUFHÖREN und möchte sie in Stellung bringen gegen jegliche inhaltlichen Ausfälle in Kunst und Kultur. Oder besser gesagt: Musiker bleibt bei euern Liedern, wie die Tischler bei ihren Tischen.

Jeremy

(1) alle Zitate von der Homepage www.angefangen.de, aus blond – magazine 10/03 aus einem Beitrag über MIA und aus dem Lied „Was es ist“ von MIA



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last modified: 28.3.2007