Diesmal war es Nizza. In der Tradition von Seattle, Davos
und Prag demonstrierte eine zusammengewürfelte Masse sogenannter
Globalisierungsgegner. Grund für das Wiederholen der Frage, was
Linksradikale die politische Konkursmasse des neoliberalen Kapitalismus
kümmert.(1)
Politik? Kritik?
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Angesichts der regelmäßig stattfindenden
Proteste vergißt die Medienberichterstattung nie, darauf hinzuweisen,
daß es kaum einen gemeinsamen Nenner der sich beteiligenden politischen
Gruppierungen gibt. Sicher, bei einem Spektrum, welches von national gesinnten
Ökobauern über klassenbewußte Arbeiter bis hin zu militanten
Linken reicht, spricht einiges für eine inhaltliche
Unübersichtlichkeit. Und doch ist das hegemoniale Protestbedürfnis
ziemlich leicht zu klassifizieren. Gerade der überwiegende Anteil
französischer Gewerkschafter an den Demonstrationen in Nizza
anläßlich des EU-Gipfels spricht dafür, daß der
Widerstand von den letzten Verteidigern des niedergehenden Sozialstaates
getragen wird. Von der nicht ganz unwichtigen Feststellung abgesehen, daß
auch Linksradikale zu Zeiten des Sozialhilfesegens, toleranter
Regelstudienzeiten und eines ausgedehnten Marktes für soziale Arbeit
unbekümmerter als heute leben konnten, liegt ihnen angesichts solcher
reformistischer Minimalforderungen natürlich sofort Kritik auf der Zunge.
Die ist nicht nur berechtigt, weil hier die Reste des sozialen
Gewissens eine im Wohlfahrtsstaat institutionalisierte Erfindung
der bürgerlichen Gesellschaft, um die Menschen nicht an die kommunistische
Bewegung oder den Realsozialismus zu verlieren das kleinere Übel
zurückhaben wollen. Es kommt oft schlimmer als man denkt. Denn das
Protestbedürfnis sucht sich kontaminierte Rettungsinseln, um im Strom der
ökonomischen und politischen Umstrukturierungen Kritik artikulieren zu
können. Eine diesbezügliche Spurensuche lohnt sich nicht nur bei den
Gewerkschaften, die sich europaweitweit auf dem Rückzug befinden und in
Deutschland schon seit Jahren beim Kapital um ihre Selbstabschaffung betteln,
sondern ergibt besonders dann Substantielles, wenn man sich den intellektuellen
Pendants der sozialen Protestbewegung zuwendet. Deren akademische Existenz
verschafft ihnen etwas mehr Spielraum bei der Positionsfindung, weil sie im
Unterschied zu den Repräsentanten der organisierten Arbeiter- und
Angestelltenschaft nicht ganz dem regressiven Massenbewußtsein
ausgeliefert sind, welches bis auf wenige traditionalistische Strömungen
(z.B. in Frankreich) eigentlich nur noch die mehr oder weniger freiwillige
Ausrichtung an den Marktgesetzen kennt.
Vordenker der Bewegung Pierre Bourdieu
Nicht nur in Frankreich, dort aber besonders, gilt der Soziologieprofessor
Pierre Bourdieu als akademisch anerkannte Gallionsfigur einer Bewegung gegen
den Neoliberalismus. Diese Einschätzung basiert zum einen auf
seinem politischen Engagement. Als herausragendem Vertreter eines
Intellektuellenkolektivs, welches sich mit Aufrufen, Veröffentlichungen
und der Teilnahme an Demonstrationen sowohl für die Etablierung einer
europäischen Sozialrechtscharta als auch für die Rechte
illegalisierter Flüchtlinge stark gemacht hat, läßt sich ihm
gegenüber der Vorwurf, er wäre ein abgeschotteter, nur im
akademischen Elfenbeinturm wirkender Stubenhocker, nur schwer aufrechterhalten.
Zum zweiten beruht Bourdieus Ruf, Anführer einer neuen
außerparlamentarischen Linken zu sein, auf seinen unzähligen
Schriften, in denen er neben Kritik an den sozialen Verwüstungen vorallem
auch kulturelle und symbolische Kapitalverhältnisse thematisiert. Dabei
entwirft er kein Basis/Überbau-Schema, nachdem die ökonomischen
Verhältnisse alle gesellschaftlichen Erscheinungen bestimmen, sondern geht
davon aus, daß soziale, kulturelle und symbolische Phänomene sich
nicht auf die tendenziell ökonomische Dominanz des ökonomischen
Feldes in modernen Gesellschaften abbilden lassen. Ein Versuch also,
Ökonomismus zu überwinden, ohne von der Kritik der politischen
Ökonomie zu lassen. So weit so gut, doch Revolution läßt sich
mit Bourdieu freilich nicht machen. Bei aller richtigen Macht- und
Herrschaftskritik, die über das sonstige Tun der Soziologie, nämlich
gesellschaftliche Realität in Begriffen und Differenzierungen
aufzulösen, weit hinausgeht, entpuppt sich Bourdieu als ein
kulturalistisch argumentierender Verteidiger des europäischen
Sozialstaates, der bekanntlich selbst in seinen besten Zeiten nicht
annähernd die Verheißungen des kommunistischen Schlaraffenlandes
erfüllen konnte.
Für Bourdieu steckt in den europäischen Staaten eine doppelte
Struktur, es existiert eine linke und eine rechte Hand des Staates.
Während erstere für die sozialen Funktionen zuständig ist, also
Bildungswesen, Gesundheitsbereich, sozialer Wohnungsbau, etc.,
repräsentiert die rechte Hand die Technokraten, die jeweiligen
Wirtschaftsministerien und entscheidenden Regierungsstellen. Im Innern der
europäischen Staaten finden sich die Spuren vergangener sozialer
Kämpfe. Bourdieu weist jedoch nicht darauf hin, daß diese
sozialstaatliche Verinnerlichung vor allem mit dem Ziel geschah,
weiterreichende gesellschaftliche Umwälzungen zu verhindern und neben der
Arbeiterbewegung, später dann auch die Neuen Sozialen Bewegungen, in das
System zu integrieren. Dies macht es ihm dann auch leichter, unkritisch zur
Verteidigung der sozialen Funktionen im Staat aufzurufen und somit diesen an
sich zu adeln. Bourdieu kann so weder die Rolles des Staates begreifen, der
tendenziell immer als eine Agentur handelt, welche versucht, die besten
Bedingungen für die einheimische Ökonomie herzustellen und
abzusichern. Sei es, daß sie durch Militär und Polizei und/oder
soziale Zugeständnisse für Ruhe und Ordnung, also ungehinderte
Produktion und Konsumtion sorgt. Noch kann er bei soviel sozialdemokratischen
Staatsfetischismus eine akzeptable Richtung für ein neues
emanzipatorisches Projekt vorgeben. Ganz zu schweigen davon, daß schon
die Analyse, die gegenwärtigen sozialen Veränderungen sind auf einen
innerstaatlichen Kampf zwischen linker und rechter Hand
zurückzuführen, die Frage, die sie zu beantworten vorgibt, offen
läßt. Warum gerät der von vielen
gemäßigten Linken in Ermangelung eines anderen
gemeinsamen gesellschaftlichen Projekts nun als ultima ratio präsentierte
Sozialkompromiß immer mehr in die Defensive? Warum läuft die
Realität des seit Jahren anhaltenden Abbaus sozialer Zugeständnisse
immer schneller Bourdieus Analyse davon, es gäbe sowohl eine soziale also
auch eine ökonomische Struktur im Staat? Und das obwohl Struktur immer so
schön fest klingt?
Schuld hat Amerika
In Ralfs Artikel (siehe Fußnote 1) findet sich die Aussage,
Bourdieu bliebe die Erklärung schuldig, wer für das ganze Elend
verantwortlich wäre. Das stimmt nicht ganz. Wahrscheinlich war Bourdieu
mit seiner Staatstheorie selber nicht ganz zufrieden und hat sich
deshalb, ganz im Sinne der Globalisierung, umfassender nach einem Schuldigen
umgesehen.
In dem recht aktuellen Aufsatz Die Durchsetzung des amerikanischen
Modells und die Folgen präsentiert er, man ahnt es schon, den
amerikanischen Kapitalismus als schlimmsten Bösewicht. Doch
weil Bourdieu, auch wenn er auf leisen Sohlen in die Falle eines
kulturalistisch verkürzten Antikapitalismus tritt, nun mal kein platter
rechter Dummdödel ist, lohnt es sich zu lesen, wie er das meint. Zur
Kennzeichnung des amerikanischen Kapitalismus benennt Bourdieu
Behauptungen, welche die vorherrschende Selbstdarstellung der amerikanischen
Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung seit Jahren prägen:
1. Die kapitalistische Ökonomie ist universell und eigengesetzlich, sie
beruht quasi auf natürlichen Gesellschaftsprinzipien.
2. Der Markt ist gerecht, d.h. das beste Mittel, um in demokratischen
Gesellschaften Produktion und Verteilung effizient und gerecht zu gestalten.
3. Die Globalisierung fordert den Abbau staatlicher Sozialausgaben. Soziale
Rechte und Sicherungen sind generell zu teuer und für eine
gute Gesellschaft untauglich.
Auch Bordieu spricht wie viele andere Linke angesichts solcher Merkmale von
einer neoliberalen Ökonomie. Und schon bei dieser Begriffswahl
könnte man streiten. Zum Beispiel darüber, ob die Vorsilbe
neo wirklich nötig ist, denn die grundlegenden Merkmale des
Liberalismus werden im Neoliberalismus ohne irgendwelche Neuerungen einfach nur
reanimiert: Die Vorstellung, daß der Markt mit unsichtbarer Hand für
Gerechtigkeit sorgt, daß bewußte soziale Gesellschaftlichkeit gegen
ökonomische Naturgesetze verstößt, daß deshalb alle
Interventionen in Markt- und Eigentumsfreiheit zu unterbinden seien und sich
der Staat in diesem Sinne ausschließlich mit der Wahrung der
Geschäftsgrundlagen beschränken muß, ist über 200 Jahre
alt. Noch besser wäre es allerdings, wenn man statt von
Liberalismus gleich vom radikalisierten oder vom
neoliberalen Kapitalismus sprechen würde. Diese Begriffe
signalisieren ein viel umfassenderes Verständnis der seit Jahren
vonstatten gehenden ökonomischen und gesellschaftlichen
Veränderungen, weil sie die in den ökonomischen Verhältnissen
angelegten zwanghaften Entwicklungstendenzen
Profitmaximierung und Kapitalakkumulation als Ursachen für den
Wandel mit einschließen. Läßt sich mit dem Wort
Neoliberalismus zwar ganz gut die Ideologie bezeichnen, welche die
anbiedernde Unterwerfung aller Gesellschaftssphären unter das Regime der
Ökonomie entweder als Logik des Sachzwangs oder als vernunftgeleitete
Politik verschleiert, bleibt dabei doch ein Verständnis möglich,
welches meint, der Kapitalismus wolle eigentlich nur Gutes und werde von
unheilvollen Mächten zu seiner Degeneration gebracht.
Doch zurück zur Argumentation Bourdieus. Folgt man ihr, so muß
deshalb von einem amerikanischen Kapitalismus gesprochen werden,
weil die neoliberale Form der Ökonomie inklusive ihrer ethisch-polit.
Vorannahmen historisch eng mit der Entwicklung der Vereinigten Staaten
einhergeht, d.h. dort prototypisch verkörpert wird.
Auch die Globalisierung ist für Bourdieu demzufolge nicht ein
ökonomisch intendierter Prozeß, der sich nach Meinung nicht
unumstrittener Experten vor allem durch die Internationalisierung des Kapitals
und die Verschärfung der Standortkonkurrenz um die Nutzung eines
Weltmarktes ausdrückt, sondern sie bedeutet bei ihm die Universalisierung
des amerikanischen Modells.
An Gründen, warum sich ausgerechnet in den USA der neoliberale
Kapitalismus so paradigmatisch durchsetzen konnte, benennt der
französische Soziologe kulturelle und politische Besonderheiten der
amerikanischen Gesellschaft. Dazu zählt er die Schwäche des Staates.
So symbolisiere schon der legale private Schußwaffenbesitz ein
eingeschränktes staatliches Gewaltmonopol. Vielmehr noch hat sich aber der
Staat seiner Macht beraubt, als er sich aus der Wirtschaft zurückzog und
die Privatisierung auch im Gesundheits-, Bildungs- und Kultursektor geschehen
ließ. Der Staat verlor damit seine Fähigkeit, Chancen und
Ungleichheiten zurückzudrängen. Den Grund für diesen
reibunglosen Rückzug des amerikanischen Staates sieht Bourdieu in der
traditionell stark verwurzelten Sozialphilosophie der self help.
Eigenverantwortung gilt danach als höchstes Gut, Arbeitslosigkeit oder
wirtschaftliches Scheitern wird erst den Individuen angelastet und nicht der
sozialen Ordnung. Aus dieser Tradition heraus entwickelte sich der Staat zu
einem Dienstleister, der und auch das bemängelt Bourdieu
keinen Gemeinsinn mehr schafft.
Dazu kommen weitere Besonderheiten der politischen Kultur in den USA. Nur hier
finde man diese extreme und weitverbreitete Form des kapitalistischen Geistes,
mit welchem die Mehrung des Besitzes als erste Bürgerpflicht interpretiert
wird und welcher ökonomische Interessen über alles andere stellt.
Zurückzuführen sei dieser Bewußtseinszustand auf die
calvinistische Ethik, die in der genußfeindlichen Aneignung von Waren und
Gütern durch harte Arbeit die Bewährung vor Gott und somit die
Voraussetzung für eine spätere Erlösung im Paradies erfüllt
sieht. Neben den unzähligen Religionsgemeinschaften wird dieser Glaube als
Nationalmythos, als eine Art Zivilreligion immer wieder reproduziert. Dem
entspricht ein stark ausgeprägter Individualismus innerhalb der
US-amerikanischen Gesellschaft. So ist das Menschenbild in den USA von der
Vorstellung eines homo oeconomicus geprägt, der im vollen Bewußtsein
mit allem notwendigen Wissen rationale Entscheidungen trifft, die auf
egoistische Nutzenmaximierung ausgerichtet sind.
Schließlich seien auch die positive Bewertung von Flexibilität,
Dynamik und Risikogesellschaft, welche auf die traditionelle
Unterscheidung zwischen alter und neuer Welt zurückgeht, sowie der
Sozialdarwinismus Besonderheiten der amerikanischen Kultur, die den
neoliberalen Kapitalismus befördern.
Wie anders ist der europäische Kapitalismus?
Vermittlungserfolg: Gegen alles!
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Sicher, Bourdieus Beschreibung läßt sich nicht einfach von der Hand
wischen.
Aber auch wenn in den USA der neoliberale Kapitalismus ökonomisch und
ideologisch am meisten durchgesetzt scheint, bleibt Bourdieus rein
kulturhistorische und ideologie-analytische Klassifizierung der USA, die er in
Abgrenzung zu einer solidarischen Tradition in Europa vornimmt,
nicht nur verkürzt, sondern gleichfalls ungenau. Die Verbreitung der
neoliberalen Ideologie ging im angelsächsischen Raum am schnellsten voran,
keine Frage. Der bedeutendste Vordenker des radikalen Liberalismus, Friedrich
August Hayek begann seine Karierre allerdings nicht nur in Wien und beendete
sie in Freiburg am Breisgau, sondern es fand sich in Kontinentaleuropa auch
eine unüberschaubare Menge von Epigonen, die nicht erst heute die
wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten und die Beratungsstäbe der
Regierungsmannschaften dominieren. Schon die angeblichen Wunder der sozialen
Marktwirtschaft zu Zeiten Ludwig Erhards waren nicht unbeeinflußt von
einer deutschen Variante eines neoliberalen Kapitalismuskonzepts. Ihr
theoretischer Vordenker, Walter Eucken, verlangte begrenzte staatliche
Eingriffe, um die freie Marktkonkurrenz zu sichern (z.B. gegen Monopolbildung).
Der Staat erhielt also in Abweichung von der urliberalen
Nachtwächterfunktion, wonach er sich aus der Ökonomie
völlig rauszuhalten hat, eine aktivere Rolle zugeschrieben. Weil er den
ordnungspolitischen Rahmen absichern sollte, bezeichnete man diesen Ansatz auch
als Ordoliberalismus.
Es macht keinen Sinn, beim Widerstand gegen den Kapitalismus auf die
europäischen Fahnen zu setzen. Nicht nur, daß dabei der generelle
Hintergrund für den Durchbruch des neoliberalen Kapitalismus nicht
thematisiert wird, auch seine ideologische Verankerung in den europäischen
Gesellschaften macht dieses Ansinnen schon vor allgemeiner Identitäts- und
Kapitalismus-Kritik sinnlos. Bourdieu muß sich allerdings bei solch einer
Argumentation um Beifall nicht sorgen. Bei Standortapologeten wird das
europäische Ticket schon lange gegen die Konkurrenzblöcke Amerika und
Asien angebracht. Selbst das Betonen einer sozialen Tradition in Euroland wird
dabei schnell zum Werbeschmankerl für die hiesige, in gesicherten
Verhältnissen produzierende Industrie. Erst recht, wenn man wie Bourdieu
die Geschichte und die Folgen der Klassenkämpfe und sozialen
Auseinandersetzungen in Europa quasi ontologisiert, also als ahistorische und
hier irgendwie existierende Strukturen darstellt.
Vielen deutschen Globalisierungsgegnern dürfte es kaum schwerfallen, an
solch eine Europa-chauvinistische Sichtweise anzuknüpfen, existiert hier
doch schon lange eine viel radikalere Variante antikapitalistischer
Projektion. So wird immer wieder die deutsche Unternehmens-Kultur gegen die
angloamerikanische Kommerzidee verteidigt und somit auch die strukturell
antisemitische Unterscheidung zwischen parasitärem Finanzkapital und
organisch verwurzeltem Produktiv-Kapital reproduziert.
Devise: Globalisierungskritiker stoppen?
Bourdieu soll damit nicht zum Antisemiten gestempelt werden. Auch muß
gesagt werden, daß er sich noch um Welten positiv von den Rudimenten der
deutschen und britischen Sozialdemokratie abhebt, die mit ihren Konzeptionen
Dritter Wege zwischen Neoliberalismus und Sozialismus alten
Marktliberalismus mit autoritären Staatskonzepten koppeln und die Reste
des sozialen Gewissens an einen ominösen Gemeinsinn
delegieren, der bekanntlich vom Faschismus und Nationalsozialismus noch am
Besten hergestellt wurde. Nichtsdestotrotz sind seine Analysen und die
Stoßrichtung seiner politischen Interventionen abzulehnen. Bisher
mußte man Bourdieu als den aufrechten Verteidiger von Zivilgesellschaft,
Keynesianismus(2) und sozialer Demokratie
kritisieren, der mit seinen
Appellen an den angeblich guten Anteil im Staatsungeheuer illusionär auf
die nicht-wirtschaftliche Seite der selben kapitalistischen Medaille setzte und
so mit dem Staat einen originären Gegner der Befreiung zum
Bündnisgenossen erklärte. Nun macht sein antiamerikanischer Touch
eine positive Bezugnahme noch problematischer.
Was von seiner Herrschafts- und Machtkritik der kulturellen und symbolischen
Kapitalverhältnisse noch zu holen ist, wird die Zeit erweisen. Was aber
mit dem Wissen anfangen, daß sich in seiner falschen
Neoliberalismus-Analyse und seinem verklärten sozialen Engagement die
dominante inhaltliche Essenz der Protestbewegung gegen EU, IWF und Weltbank
wiederspiegelt?
In einer vorrevolutionären Situation wäre sowohl der Auftritt
Bourdieus als auch die Ankündigung einer Demonstration von
Globalisierungsgegnern ein Fall für eine linksradikale
Verhinderungsaktion. Bekanntlich lassen die gegenwärtigen
gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse das nicht zu. Es scheint so,
als seien die Proteste á la Bourdieu überhaupt die einzige
Möglichkeit eine wahrnehmbare Kritik an den gesellschaftlichen
Verhältnissen zu äußern. Im Gegensatz zum primär
linksradikalen Event, beispielsweise dem 1. Mai in Berlin, gelingt es den
Medien bei den Globalisierungsprotesten nicht, das Handeln weitgehend als
inhaltsloses Chaotentum zu diskreditieren und so auch unabhängig von der
bescheidenen inhaltlichen Füllung den Erfolg zu minimieren, symbolisch den
radikal anderen Standpunkt, die grundlegende gesellschaftliche Kritik zu
vermitteln. Wenn also die radikale Linke an den Protesten in Zukunft
hoffentlich mit mehr Argumenten und mehr Beteiligung anknüpfen sollte und
dies damit begründet, es ginge ihr um die Wahrnehmbarkeit einer
linksradikalen Position, so darf dies nicht heißen, daß sie
versucht, mit unlauteren Mitteln mehr Anhang und damit Relevanz
vorzutäuschen. Vielmehr geht es darum, innerhalb eines breit
thematisierten gesellschaftlichen Konflikts das eigene Terrain für andere
sichtbar abzustecken, um so ein Mehrwerden nicht
auszuschließen. Natürlich können sich ähnlich dem
konjunkturellen auf und ab des Antifaschismus auch die Rezeptionsbedingungen
des Globalisierungsprotests ändern. Solange aber die Medien seit Seattle
fein unterscheiden zwischen friedlichen Verfechtern einer sozialeren Welt und
gewalttätigen Demonstranten, denen es pauschal darum geht, den weltweiten
Kapitalismus anzugreifen, adeln sie nicht nur die diffuse Haltung vieler
Streetfighter, sondern setzen mehr Positionslichter, ja vermitteln sogar mehr
Inhalt als manche kontextlose revolutionäre Demo.
ulle
Literatur:
Pierre Bourdieu: Die Durchsetzung des amerikanischen Modells und die Folgen,
in: Loccumer Ini. kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (Hg.):
Europa des Kapitals oder Europa der Arbeit?, Hannover 2000.
Fußnoten:
(1) Im Großen und Ganzen, wurde sie schon von Ralfs
Beitrag Protestrenaissance contra Salon-Dasein im CeeIeh, 71/ 2000
gestellt und beantwortet. Was dabei offen blieb, jetzt hier.
(2) Der Staat kurbelt über schuldenfinanzierte Investitionen,
z.B. Straßenbau oder im Staatbesitz befindliche Industriebetriebe, in
Krisenzeiten die Produktion und über den Lohn auch wieder die
Massenkonsumtion an. Durch diese Investitionen soll eine generelle Ankurbelung
der Wirtschaft in Gang gesetz werden, die nicht nur Vollbeschäftigung,
sondern über höhere Steuereinnahmen auch das Abtragen der
Schuldenlast ermöglichen sollte. Das in den 70er Jahren gescheiterte
Konzept läßt sich auf die ökonom. Theorie von John M. Keynes
zurückführen.
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