Beim EU-Gipfel von Nizza hat Deutschland gewonnen
von Ralf
Da lachen selbst die Hühner die Machtverteilung in der EU
nach Nizza (aus FAZ vom 12. Dezember 2000)
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Noch anfang 1997 konnte man durchaus guter Dinge sein,
daß ein von Deutschland beherrschtes Kerneuropa, wie es 1994
die damals noch regierungsmächtigen CDUler Schäuble und Lamers
formulierten, nicht im gewünschten Maße zum Tragen kommt. Der
damalige EU-Gipfel von Dublin galt als herber Rückschlag für die
deutsche Politik und noch beim Folge-Gipfel in Amsterdam vor dreieinhalb Jahren
wurde dieser bestätigt. Mittlerweile wendet sich das Blatt zugunsten der
Deutschen immer mehr. Ein als Kompromiß präsentiertes
demographisches Sicherheitsnetz im Ergebnis des EU-Gipfels von
Nizza anfang Dezember kommt einem Staatsstreich von oben
(FAZ) der vier größten EU-Mitglieder Deutschland, Frankreich,
Italien und Großbritannien gleich. Diese zusätzliche Stärkung
der mächtigsten der EU läuft auf eine versteckte Abkoppelung
Deutschlands (FAZ) hinaus. Jenes Sicherheitsnetz
garantiert nämlich, daß die Deutschen im Bunde mit zwei beliebigen
anderen größeren Mitgliedsstaaten jeden Beschluß gegen
deutsche Interessen verhindern können. Im Gegensatz dazu sind die anderen
der größten auf die Stimmen von mindestens drei anderen Staaten
angewiesen, wenn sie die in Nizza beschlossene 62-Prozent-Hürde nehmen
wollen, die das Ergebnis eines Streits zwischen insbesondere Frankreich und
Deutschland ist. Bei diesem Streit hatte sich Frankreichs Premier Chirac strikt
dagegen gewehrt, daß weite EU-Politikfelder entsprechend der deutschen
Forderung nach dem Mehrheitsprinzip statt des Einstimmigkeitsprinzips
entschieden würden.
Dem stellvertretenden PDS-Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Gehrcke fiel zu den
Beschlüssen von Nizza bezeichnender Weise nur ein, daß das einzig
zukunftsweisende dort doch die Verabschiedung einer 54 Punkte umfassenden
europäischen Grundrechte-Charta der Europäischen Gemeinschaft gewesen
sei, die das zukünftige Kernstück einer möglichen
europäischen Verfassung sein soll. Begriffen hat er damit nicht mal im
Ansatz, daß das Weitreichende von Nizza das Ergebnis der Neuverteilung
von Macht und Geld (FAZ) war. Dabei hätte Gehrcke nur
mal in das eulenartige Antlitz (FAZ) von Joseph Fischer
blicken müssen, um der tiefgehenden Verstimmungen gewahr zu werden, die
der Gipfel offenbarte: Als Chirac und Außenminister Verdrine tief
in der Geschichte der deutsch-französichen Aussöhnung gruben und ein
Prinzip der Gleichberechtigung Frankreichs und Deutschland in den Organen der
Gemeinschaft zu Tage förderten, waren plötzlich die alten Schatten
wieder da. Haben fünfzig Jahre des Händereichens selbst über den
Gräbern von Verdun die Verdächtigungen von einst nicht dauerhaft
bannen können? (FAZ)
Das Armdrücken zwischen Berlin und Paris (Focus) um die
Stimmengewichtung innerhalb der EU hatte im Vorfeld des Gipfels die gemeinsamen
europäischen Interessen beider eher ungemerkt fast
völlig eingefroren. Wir haben viele Kriege gegen Deutschland
geführt, das hat uns Franzosen unzählige Tote gekostet. Adenauer und
de Gaulle haben dies gesehen und einen Pakt unter Gleichen geschlossen,
erboßte sich Chirac angesichts der insbeondere von deutschen Medien immer
wieder kolportierten Verlogenheit der Deutschen, einzig sie seien diejenigen,
bei denen sich der europäische Geist über die nationalen Interessen
gestellt hätte.
Daß sich hingegen nirgends die Ambivalenz einer historischen nationalen
Sonderrolle und die Vertuschung nationaler Machtinteressen so offenbart wie im
Falle Deutschland, treibt die Deutschen in jeglichen Belangen an. Daß
sich Deutschland seit der Wiedervereinigung zum grazilen Gespann der
Osterweiterung der EU verklärt, das sich angeblich nur der Idee eines
gemeinsamen Europas verplichtet fühlt, darüber lachen, außer in
Deutschland, allerorts selbst die Hühner. Denn, nicht die Ent-, sondern
die Ver-Sorgung der gesamten europäischen Geschichtsschreibung mit den
deutschen Verbrechen der Vergangenheit ist das erklärte Ziel deutscher
Politik. So gesehen, klingt Gerhard Schröders Eingeständnis
anläßlich seines clever kurz vor den EU-Gipfel gelegten Besuches in
Polen eher als Drohung denn als Sühne: Diese Verbrechen können
und werden wir nicht verdrängen. Denn nur derjenige, der sich auch den
grausamen Kapiteln der eigenen Vergangenheit stellt, kann die Zukunft
gewinnen.
Deutschland vom Atlantik bis zum Ural!, so fröstelte es
französischen Europaabgeordneten. Daraufhin angesprochen aber wiegelte der
deutsche Außenminister ab: Diesen Ehrgeiz haben wir nicht,
erwiderte Fischer, denn er wüßte nur zu gut, wohin ein solches
Ansinnen führt. Aus diesem konstitutiven Bewußtsein der
sogenannten Berliner Republik entspringt der gefährliche Wahn, Deutschland
wäre eine besonders geläuterterte Nation. Deutschland, Deutschland
über alles als Inbegriff neuer deutscher Verantwortung für die ganze
Welt. Nur so läßt sich erklären, warum Gerhard Schröder
zum Auftakt des Nizza-Gipfels unverschämter Weise die anderen dreist
gemahnte, sie sollten sich ihrer historischen Verantwortung
für die Erweiterung der EU und Einigung Europas ebenso bewußt sein
wie Deutschland.
Als quasi selbst verordnete Kronzeugenregelung gegenüber der Geschichte
ist Deutschland bekanntlich das einzigste Land in der EU, in dem das
Individualrecht statt des kontingenten auf Asyl gilt trotz des
sogenannten Asylkompromisses von 1993. Da Deutschland deshalb das Hauptzielland
aller Flüchtlinge und Asylbewerber innerhalb der EU ist, strebt Berlin
danach, einen Verteilungsschlüssel für alle EU-Staaten
durchzusetzen, der, ganz im Sinne der Drittstaatenregelung und Schengen,
Deutschland weiter die Hand (FAZ) über die Asyl- und
Einwanderungspolitik halten läßt. Da dies in Nizza nicht durchkam,
verhinderte Schröder in Nizza mit Erfolg vorerst eine (...)
Überstimmung (FAZ) in dieser Frage.
In Nizza wurde weiterhin endgültig beschlossen, was schon länger
ausgemachte Sache ist: Europa schafft sich bis zum Jahr 2003 ein
einsatzfähiges Instrument zur militärischen
Krisenintervention sowie politische und militärische
Institutionen zur Vorbereitung, Steuerung und Überwachung eines solchen
Einsatzes. Es gehe dabei um die Schaffung hinreichender
Mobilität, Verlegefähigkeit und Reichweite für Operationen
weit außerhalb des EU-Gebietes. Jenes Gebiet, so veranschlagten die
Planer, umfaße einen Radius von 4000 Kilometern, was insbesondere die
Stationierung in entfernten Krisengebieten einschließt.
Welche politischen Spannungen damit in Zukunft verbunden sein werden,
verdeutlichte der scheidende US-Verteidigungsminister Cohen auf der
jüngsten Herbsttagung der Nato. Dort warnte er angesichts der
europäischen Bestrebungen vor einer Gefährdung des transatlantischen
Militärbündnisses.
Die Nationen sind wieder da, posaunte der Tagesspiegel sein
Fazit des EU-Gipfels hinaus. Nizza stelle einen Wendepunkt dar,
denn der Nationalstaat sei endgültig rehabilitiert. Mit
dem Binnenmarkt, der Währungsunion, der gemeinsamen
Kriseninterventionstruppe hat die EU den Grad an Zusammenarbeit erreicht,
der noch akzeptabel wäre.
Es war Lenin, der seinerseits die zwei historischen Tendenzen in der
nationalen Frage im Kapitalismus aufdeckte: Der Kapitalismus kennt
in seiner Entwicklung zwei historische Tendenzen (...), schrieb er.
Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen
Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung (...). Die zweite
Tendenz: Entwicklung und Vervielfachung der verschiedenartigen Beziehungen
zwischen den Nationen, Niederreißung der nationalen Schranken,
Herausbildung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens
überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw. Beide Tendenzen sind ein
Weltgesetz des Kapitalismus.
Im Gegensatz zu den USA hat die Europäische Zentralbank nach eigenem
Dafürhalten keine Anzeichen für das im EU-Wirtschaftsraum parat, was
die VWLer New Oconomy nennen, und von der niemand nichts genaues weiß.
Diese Neue Ökonomie knüpft sich insbesondere an die technologischen
Neuerungen im Zeitalter der durchgesetzten Mikroelektronik und der damit
einhergehenden Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die damit verbundenen
Wachstumsraten in der Wirtschaft wollen sich in Europa jedoch nicht einstellen.
Trotzdem oder gerade deshalb gilt, was Trampert/Ebermann in ihrem 95er Buch
Die Offenbarung der Propheten Über die Sanierung des
Kapitalismus und die Verwandlung linker Theorie in Esoterik festellten:
Die EU-Politik wird dominiert von einer ökonomischen Blockbildung
gegen die Weltmarktkonkurrenten, einer großräumigen
Marktdurchdringung, der Anpassung der Sozialgesetze nach unten sowie dem
nationalen Anspruch Deutschlands, Führungsmacht zu sein. Dazu gehört
zweierlei: Eine höhere Produktivität, die auch innerhalb des
EU-Blocks konkurrierende Länder niederringt und sich in der Akzeptanz der
DM als Leitwährung ausdrückt, und eine militärische Autonomie
gegenüber den Restriktionen der Nato.
Die Herausbildung transnationaler Finanzmärkte gräbt den nationalen
Notenbanken das Wasser ab, so Robert Kurz, und dies, so erwidert er auf
Trampert/Ebermann, sei das wesentliche Moment der Globalisierung,
die eine Unterscheidung von Weltmarkt und Binnenmarkt (...) sukzessive
hinfällig mache.
Dies, so wiederum Trampert/Ebermann, sei eine Beschwörung der
Globalität, durch die alles gleich werde und damit
würde auch die auf Nationalstaaten beruhende imperialistische
Wirklichkeit beerdigt welche, so läßt sich
konstatieren, immerhin erst vor kurzem einen Angriffskrieg gegen Jugoslawien
vorweisen konnte, über dessen Charakter in den allermeisten linken Milieus
so diskutiert wurde, als hätten die sich, wie Robert Kurz sagt, auf
die Sphäre der puren bürgerlichen Willensverhältnisse
zurückentwickelt.
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