home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[67][<<][>>]

Das eigentliche Problem
Die Naziaufmärsche am ersten Mai.
Eine allgemeinere Betrachtung in vier Komplexen.
, 0.0k
Der erste Mai und die Schaumsprache deutscher Medien
Erster Mai im Jahre 2000. Es ist Mittag und ein wunderschöner, fast schon heisser Maientag. Im nahe Leipzig gelegenen Grimma, der Kreisstadt des landschaftlich attraktiven Muldentalkreises, sind die Straßen menschenleer. Überall stehen Polizeifahrzeuge. Ein Troß martialischer Gestalten bahnt sich seinen Weg und versucht immer mal wieder, kollektiv im zackigen Gleichschritt zu marschieren. Manche kahlköpfig, manche sehen einfach stinknormal aus. Vereinzelt sind auch Frauen unter ihnen. Einige der überwiegend jungen Leute tragen Tansparente, auf denen zum Beispiel „Arbeitsplätze zuerst für Deutsche“ gefordert werden. Andere sind merklich angetrunken. In etwa sechshundert zählen sie alle zusammen. Mittels eines mitgeführten Lautsprecherwagens wird die idyllische Ruhe gestört. Über ihren Köpfen reiht sich ein Plakat an das andere. Angebracht wurden sie an Laternenmästen von engagierten Grimmaer Bürgern. Darauf ist zu lesen: „Die Welt ist bunt – nicht schwarz-weiss!“ Ganz am Rand laufen vereinzelt gelangweilte Polizisten, die wahrscheinlich darüber sinnieren, warum sie hier bei dieser Wärme in so einer schweren Uniformkluft umherlaufen müssen. Alles in allem bietet sich ein friedliches Bild voller Widersprüche: bedrohlich auf der einen und fast schon komisch auf der anderen Seite.
In der Nähe des Grimmaer Bahnhofs ein anderes Bild. Ein bunter Haufen, in dem die Farbe schwarz überwiegt, demonstriert „entschieden gegen Nazis“. Die meisten der rund vierhundert sind blutjung. Die Polizei ist dem Zug immer dicht auf den Fersen. Sie ziehen gegen „Nazis“ durch die Strassen und skandieren Sprüche gegen die anwesende Polizei. Angestachelt werden sie immer wieder aufs neue über Lautsprecher. Die meisten von ihnen stammen aus Leipzig. Genauer gesagt aus Connewitz, dem Stadtteil der Autonomen, Alternativen und Punks ...
... Und so weiter und so fort – bla, bla, bla.
Liebe Leserin, lieber Leser. Haben Sie es gemerkt? Das Obere ist frei erfunden. Aber es könnte hierzulande jedem x-beliebigen Medium entnommen worden sein. Achten Sie mal darauf. Kennen Sie diese Sprache?
Nun, es handelt sich hier um den standardisierten Reportagen-Duktus, den ehrenwerte Leute wie Egon Erwin Kisch einst gegen die bürgerliche Hofberichterstattung in Stellung brachten und der heute von Spiegel bis Spex, von Zeit bis Jungle World als Farce fortbesteht. Er ist quasi codierte Gildensprache des Journalismus – schmalzig, kitschig, parteiergreifend und nichtssagend. Es lohnt allemal, sich diesen Sprachduktus näher anzuschauen und seine Tendenzen und suggestiven Lesarten zu reflektieren. Man lernt dann nämlich, dass das Leben auch ohne linke Medien weiter gehen kann, was wiederum linke Medien vor falschen Kompromissen bewahren könnte. Jene Medien muss es dann nämlich nicht auf Gedeih und Verderb geben, und trotzdem kann man zu einer linken Meinung und Position kommen.
So. Und jetzt noch ein fiktives Beispiel zur Veranschaulichung. Vorweg: Sie werden die nachfolgende Szene nirgends in deutschen Massenmedien dargestellt finden, obwohl der Duktus derselbe, die Intention hier aber nicht die des deutschen Journalisten ist:
Unweit des Zuges nationaler Glückseligkeit steht ein alter klappriger Mann um die 80. Einsam und verlassen steht er da. Mit einer Hand umklammert er den Lenker seines Fahrrades. Das Fahrrad jedoch scheint eher ihn auf den Beinen zu halten. Angesichts des Aufzuges zittert er am ganzen Körper. Mit der anderen hält er krampfhaft eine Trillerpfeife im Mund und entlockt ihr kurze, immer wieder verstummmende Laute des Protests, die kaum bis zum Zug der Demonstranten gelangen. Wohl aber bis zur begleitenden Polizei. Offensichtlich hat der arme Mann nicht mehr genügend Puste. Zwei der Polizisten, erfreut über die Abwechslung, amüsiert das. „Der lebt doch eigentlich gar nicht mehr“, sagt der eine zum anderen...(1)

artikel, 6.5k
„Autonome Antifa-Politik kehrt sich gegen sich selbst“ – Muldentalzeitung vom 29. April 2000
Der erste Mai und die Tage danach – Teil 1
Die ernüchternden Fakten nach dem ersten Mai sind keine neuen: Nazis können mehr oder weniger ungestört aufmarschieren. Rund 3 500 an der Zahl taten dies bundesweit an verschiedenen Orten. Offensichtlich wurde dabei wieder einmal das Ost-West-Gefälle: Waren es im Osten fast aussschliesslich die autonomen Antifas, die, mehr oder weniger auf sich alleingestellt, den Nazis entgegentraten, waren es im Westen quantitativ relativ breite Bündnisse, die sich auf die Straße begaben. Sicherlich läßt sich bei letzteren über deren Effizienz und auch Motivation streiten, aber Fakt ist und bleibt, dass in den Weststädten immerhin ein von breiten Kreisen getragenes Anti-Nazi-Klima herrscht, das die Entscheidung über die Lufthoheit in allen Fällen schon im Vorfeld zu Ungunsten der Nazis ausgehen läßt. Die Gründe dafür sind mittlerweile so oft genannt worden, dass man sie kaum noch auf der Computertastatur klimpern möchte. Sie reichen bekanntlich von der deutscheren DDR nebst ihrer Bevölkerung über die kollektive Scheisserei (Pfeifer) bis zu einem pervertierten Demokratieverständnis inklusive Atifaschismustrauma.
Es wird insbesondere im Osten immer offensichtlicher, dass diejenigen, die den Nazis nicht die Straße überlassen wollen, in der Öffentlichkeit nicht etwa nur mit den Nazis gleichgesetzt werden, sondern sie als das eigentliche Problem gelten. Diese sich immer mehr zur Normalität verfestigende Situation muss man erst einmal begreifen – und setzen lassen.
Es gibt eine gewisse Wechselwirkung zwischen dem tatsächlich gestiegenen Problembewußtsein bei – sagen wir – klassischen antifaschistischen Organisationen und Institutionen wie den Gewerkschaften, den Kirchen, den Grünen und besonders der PDS – von anderen wollen wir gar nicht erst reden – und der zunehmenden Anfeindung, der sich autonome und linksradikale Antifas ausgesetzt sehen. Es ist bei aller Betrachtung unerlässlich, immer darauf zu insistieren, dass, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, ausschliesslich autonome bzw. linksradikale Antifa-Gruppen die Situation und die Nazidominanz landauf landab problematisiert haben. Und niemand sonst. Die Abfolge gleicht sich tätsächlich allerorten: Antifa-Gruppen müssen powern ohne Ende, bis mal ein antifaschisisches Zucken von anderen zu verspüren ist. Der Grund dafür ist letztlich so simpel wie richtig: Antifaschismus ist in Deutschland nicht das Feld, wo man Blumentöpfe (Andre Brie, PDS) von der Bevölkerungsmehrheit überreicht bekommt, sondern im Zweifelsfall an den Kopf geschmissen! Es liegt in der Logik von tatsächlichen oder von Möchtegern-Massen-Organisationen und ihrer Funktionäre, dass man sich somit auf dem Feld von Antifa keine Freunde machen kann: wer seine Pfründe langzeit-sichern will, muss dem Volke folgerichtig aufs Maul schauen und kann somit auf Dauer keine Maulschellen austeilen. Es wissen inzwischen alle – von Bundestagspräsident Thierse bis Sachsen-PDS-Chef Porsch: die Nazis kommen aus der Mitte der Gesellschaft und finden dort auch ihren Rückhalt. Und weil sie es wissen, zerbrechen sie sich den Kopf darüber, denn mit der „Mitte“ ist ja ihre Wählerschaft, ihr Klientel gemeint. Es müssen also Hilfskrücken her, um sich etwas zurechtlügen zu können. Dazu muss man erst einmal die über die Klinge springen lassen, die einem eh nur lästig sind – die autonomen Antifa-Gruppen nämlich. Bei denen ist ohnehin Hopfen und Malz verloren und ihre gesellschaftliche Stigmatisierung und Isolation prädestiniert sie geradezu dafür. Klaro, für alle ist es nicht einfach, redet man zu viel mit diesen autonomen Antifaschisten oder läßt sich gar in Kooperationen mit denen verstricken, bröckeln die Feindbilder, die ja gerade her müssen und sich verfestigen sollen. Ist man erst einmal derlei gestählt, schreitet man dann zur Tat wie die PDS-Chefin des Muldentalkreises, Kerstin Köditz.

Wie eine Stadt und ihre Bevölkerung der Vernichtung entkam
Als bekannt wurde, dass in Grimma die Nazis am ersten Mai marschieren wollen, störte das in Grimma ernstlich ca. zehn Leute. Die aktivsten drei bis vier von ihnen analysierten dann die Situation und kamen zu dem Schluss, dass ja nur Extremisten von Links und Rechts auf die Straßen gehen würden, aber keine aufrechten und anständigen Bürger. Also rauchten die Köpfe. Da mittlerweile sowieso ganz Grimma ganz genau wußte, dass es am ersten Mai nicht nur ihrem gesamten Hab und Gut ans Leder, sondern auch der gesamten Grimmaer Bevölkerung an die Gesundheit gehen würde, überlegte man lange hin und her. Sollte man die gesamte Bevölkerung evakuieren? Aber wer sichert dann Hab und Gut? Die Polizei etwa? Die ist doch viel zu schwach gegen diese Extremisten. Und was ist, wenn die sich darüberhinaus gar nicht die Köpfe eindreschen und gemeinsame Sache gegen Grimma machen? Fragen über Fragen. Es war zum verzweifeln. Auf einer Bürgerversammlung einigte man sich dann auf folgende geheime Strategie: Alle bleiben aus Protest doch zu Hause und leisten gegebenfalls erbitterten Widerstand. Öffentlich wird verbreitet, dass alle, die gegen Extremisten sind, bunte Tücher aus ihren Häusern hängen. Damit würde man die kriminelle Energie sozusagen kanalisieren. Der Trick dabei: bunte Tücher wird es nur an drei Häusern geben und nur an solchen, die auch unbewohnt und völlig leer sind.
Als die PDS-Chefin des Muldentalkreises von dieser genialen Taktik Wind bekam, war sie völlig von den roten Socken: Endlich sei es soweit, posaunte sie überall heraus, Widerstand sei also machbar! Und überaupt, was man immer so erzählt, Schweigen heißt im allgemeinen nicht etwa Zustimmung, sondern schärfster Protest. Wer das immer noch nicht kapiere, habe in Gimma gundsätzlich nichts verloren. Auf solcherlei „Demotourismus“ könne man gut und gerne verzichten.
Und es blieb ruhig in Grimma. Der entschlossene Widerstand einer ganzen Stadt vereitelte ihren Untergang.

artikel, 2.2k
„Antifaschismus ist in Deutschland nicht das Feld, wo man Blumentöpfe überreicht bekommt, sondern im Zweifelsfall an den Kopf geschmissen“ – Muldentalzeitung vom 29. April 2000
Der erste Mai und die Tage danach – Teil 2
Wie soll es nun weitergehen? Offensichtlich kehrt sich autonome Antifa-Politik im Osten dann gegen sich selbst, wenn diejenigen sich profilieren wollen oder müssen, die durch Antifa-Gruppen als Bündnispartner erst hochgepäppelt wurden. Spätestens dann geraten autonome zu Gegnern der „wahren“ und „wirklichen“ Antifaschisten, die in aller Regel vor Ort Wurzeln geschlagen haben, nicht „von aussen“ einfach so daherkommen und auch keine „selbsternannten“ Antifaschisten sind, sondern solche, die es ausschliesslich kraft ihres Amtes wurden.
Es wird in nächster Zeit unter Antifa-Gruppen darüber zu diskutieren sein, unter welchen Umständen eine Niederlage vorprogrammiert ist und nicht abzuwenden. Grimma am ersten Mai war ein solcher Präzendenzfall, der über die Niederlage hinaus eher Schaden angerichtet hat als genützt. Nach Grimma waren alle frustiert. Das heißt wiederum, dass solcherlei Frustrationen, wenn sie sich weiter häufen, geradewegs zu einer Situation für die Antifa-Szene führen, die kaum noch über Mobilierungskraft verfügt.
Sicherlich können Antifa-Gruppen nicht besser sein, als es ihre gesellschaftliche Stigmatisierung zuläßt. Daraus jedoch müssen realistische Konsequenzen gezogen werden. Wenn den Nazis das Feld überlassen werden muß, liegt das schon seit geraumer Zeit weniger an der Antifa-Szene selbst, sondern an den gesellschaftlichen Realitäten.
Eine meines Erachtens punktgenaue ernüchternde These zum Ende: Es ist mittlerweile in Deutschland einfacher und erfolgreicher, eine Nazi-Demonstration durchzuführen als eine Antifa-Demo. Das meine ich nicht hinsichtlich des Faktes einer Demo, sondern hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirkung, die erzielt wird.(2)
Ralf

(1) Diese Darstellung beruht auf der Schilderung eines Augenzeugen, der die Szene in Grimma am ersten Mai beobachtete.
(2) Eine vergleichende Analyse der Antifa-Szene findet sich in CEE IEH #65



home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[67][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007