Natur und Geschlecht als Grenzbegriffe
Fragt man nach dem Verhältnis von kapitalistischer Vergesellschaftung und
Patriarchat, stößt man unweigerlich auf die Notwendigkeit, sich mit
Natur und deren gesellschaftlichem Wesen kritisch theoretisch zu befassen.
Dabei stehen sich der Definition nach zwei Gegensätze oder zwei
Gesellschaftsformen scheinbar verschiedener Epochen gegenüber: die
kapitalistische Gesellschaft löste die Abhängigkeiten der
persönlichen Herrschafts- und Knechtschaftsverhälntisse des
Feudalismus ab und setzte an deren Stelle eine subjektlose Herrschaft
(Robert Kurz). Als freie und gleiche stehen sich nun alle
Gesellschaftsmitglieder gegenüber. Aber schon in der Epoche der
Aufklärung war es ein philosophisches und politisches Problem, das Juden,
Frauen, Arbeiter und Nicht-Weiße nicht gleich waren, nicht den Status
freier Bürger bekamen. Das mußte begründet werden; in den
wissenschaftlichen Legitimationen von Ungleichheit finden wir einen Rekurs auf
Natur. Das Patriarchat dagegen steht für die Herrschaft von Männern
über Frauen, steht für persönliche
Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Wie gehen
subjektlose und direkte patriarchale Herrschaft in einer Gesellschaftsformation
zusammen? Das patriarchale Geschlechterverhältnis stützt und
ermöglicht strukturell die kapitalistische Produktion. Eine
materialistische Kritik des Geschlechterverhältnisses richtet sich auf
Geschlecht als Strukturkategorie der sachlichen Gesellschaft.
Ebenso wie die Ausgrenzung von Juden und Schwarzen wird das
hierarchische Geschlechterverhältnis über Verweise auf eine
vermeintliche Natur des Menschen legitimiert. Ihrer Natur nach sei die Gattung
Mensch in zwei einander gegensätzliche und sich ergänzende
Menschenarten gespalten, in Mann und Frau. Teilweise wurden Frauen auch
gänzlich aus der Menschheit ausgeschlossen. Und obwohl sich
Geschlechterbilder und Lebensrealitäten von Frauen in den verschiedenen
Epochen stark unterscheiden, ist eine Kontinuität des Patriarchats
festzustellen. Woran liegt das? Verweist das auf eine Natur des Menschen oder
auf eine noch unüberwundene Naturverfallenheit? Ist dieses Geschlecht
Natur, die es gesellschaftlich zu überwinden gilt? Beispielsweise indem
die Gebärfähigkeit gesellschaftlich-technisch vom Frauenkörper
abgetrennt, und die Frau damit von ihrer Gebundenheit an die Gattung
erlöst werde? Oder sollte nicht zunächst die Frage gestellt werden,
was eine Frau ist? Sind Menschen, die nicht gebären können oder
wollen auch Frauen? Ja. Weil Geschlecht sich eben auch gesellschaftlich/
kulturell konstituiert. Wir werden also nicht als Frauen geboren, sondern zu
welchen gemacht (Simone de Beauvoir). Das wirft die Frage auf, was wir
wären, würden wir nicht gemacht Menschen, Individuen? Aber
diese Frage nur am Rande. Mir geht es nicht darum, die natürlichen und
gesellschaftlichen Anteile des Geschlechts überhistorisch auf der Ebene
einer Anthropologie zu bestimmen. Ich denke, daß eine solche Bestimmung
immer im historisch bestimmten Kontext vorgenommen werden muß und selbst
dann nicht abschließend geleistet werden kann, da Wissen über Natur
an sich, als Maßstab, fehlt. Nie erlebt der Mensch eine Natur, wie
sie an sich, ohne ihn, ohne seine Eingriffe ist, nie kann er sie
wahrnehmen, ohne auf seine spezifisch kulturell konstituierte Wahrnehmung zu
reflektieren. Hier gibt es zwei zu unterscheidende Ebenen (Verhältnis von
Natur/Kultur und das Verhältnis von Natur/Gesellschaft) einerseits
wird Natur immer vom Menschen überformt und umgewandelt, die so
entstehende Kultur bleibt, obwohl sie als dichotomer Gegenteil von Natur
imaginiert wird, immer an Natur gebunden. Es geht um die Kultivierung des
Bodens, um Industrie und Erziehung eben um Zivilisierung von Natur,
einschließlich der Inneren. Kultur ist sozusagen eine anthropologische
Konstante, der Mensch ist nur ein Mensch, wenn er sich von Natur durch
Bewußtsein unterscheidet. Gibt es Menschen, so gibt es in
unterschiedlichsten Ausformungen so etwas wie Kultur, bzw. wenn es das nicht
gibt, ist der Mensch noch nicht Mensch, sondern noch Teil der unbewußten
Natur. Andererseits gibt es den spezifisch kapitalistischen Aspekt; der
Gegensatz von Natur und Gesellschaft ist in meinen Augen einzig der
kapitalisitischen Moderne zugehörig. Entscheidend ist der Selbstzweck, den
Gesellschaft bekommt, wenn sie sich als durch und durch künstliche
Welt (Alfred Sohn-Rethel) etabliert und als frei von natürlichen
Bindungen imaginiert. Hier entsteht unabhängig von der Natur ein
eigenständiges, ihr gegenüberstehendes Reich (zur Dialektik von Natur
und Gesellschaft weiter unten mehr). Meine Bestimmungen von Natur möchte
ich immer in diesem Rahmen verstanden wissen. Aussagen über eine Natur
schlechthin kann ich nicht geben.
Natur als Grenzbegriff
Natur sowie Geschlecht und die binäre Geschlechterdifferenz changieren
zwischen Natur und Gesellschaft. Was bedeutet das? Natur ist nicht Natur und
damit gegeben, gesetzt und vor allem konstant. Natur ist veränderlich.
Aber ideologisch gilt sie als das statische Moment im Gegensatz zur
dynamischen, d. h. veränderlichen Gesellschaft. Natur als
Grenzbegriff bewegt sich zwischen den Polen Statik und Dynamik,
Gesellschaft und Natur. Sie ist sowohl als etwas mit eigener
Gesetzmäßigkeit, als auch als sozial vermitteltes zu verstehen. Aus
dem Spannungsfeld Natur, das damit eröffnet wird, ergeben sich drei
Fragen: (1) Worin liegt der spezifische Charakter von Natur, wenn davon
auszugehen ist, dass eine unvermittelte, ursprüngliche, an sich seiende
Natur nie Realität sondern immer eine reine Gedankenabstraktion ist? (2)
Damit zusammenhängend die Frage, ob Naturgesetzmäßigkeiten
Gesellschaft mitgestalten. In der Allgemeinheit, in der diese Fragen gestellt
sind, fällt es nicht schwer, sie mit Ja zu beantworten, alles andere
wäre unsinnige Abstraktion. Das Bedürfnis nach Nahrung, Wärme
usw. sind Naturkomponenten, die menschliches, d. h. gemeinschaftliches
Zusammenleben mitbestimmen, aber schon so Allgemeinmenschliches erfährt
gesellschaftliche Ausprägung. Wie sieht es dann erst mit der
Gebärfähigkeit und dem damit assoziierten Geschlechtscharakter aus?
Und (3) wie konstituieren gesellschaftliche Verhältnisse mit einer auf
Wert ausgerichteten Produktion Natur? Auf jeden Fall, darauf soll
Grenzbegriff hindeuten, ist Natur kein reines Produkt der
Gesellschaft respektive des Diskurses.
Kants philosophische Untersuchungen der Möglichkeiten von
Erkenntnis haben den Feminismus in seinem Streben, das zur Legitimation
des Bestehenden herangezogene Geschlecht zu destruieren, stark geprägt.
Bei Kant ist Natur immer schon das, was durch die Schematisierung des
menschlichen Verstandes hindurch gelaufen ist. So verortet er das
Ursache-Wirkung-Prinzip, als eine Kategorie a priori (also vor der
Wahrnehmung gegeben). Er unterscheidet Ding an sich und die Welt der
Erscheinungen. Natur ist also nie ein Ding an sich. Aber ein Ding an
sich ist ein Abstraktum, das wir zu denken genötigt sind.
Geschlecht als Grenzbegriff
Im Falle des Geschlechts leuchtet schon eher ein, es als Grenzbegriff zu
fassen, denn es ist schon lange Thema, daß eine gesellschaftliche
Funktion erfüllt wird, wenn Frauen ganz individuell die Gattung Mensch
reproduzieren. Die Gebärfähigkeit bindet die Frau in die
Gattung Mensch ein, stärker als den Mann zumindest scheint
das so. Ich glaube, hier wurde schon deutlich, warum ich Natur und Geschlecht
als Schwellenbegriffe begreife. Sie sprechen beide schon immer das
Verhältnis von Gesellschaft und Natur an. Sie bewegen sich zwischen beiden
Elementen, lassen kein an sich, kein eigentliches erkennen. Jede
Position, die diese Vermittlung übergeht, ignoriert ihren Gegenstand,
vergeht sich an ihm. Wenn Natur wie auch Geschlecht als reine
unveränderliche Konstanten begriffen werden, sind sie bloße
Gedankenabstraktion, die identitätslogisch mit ihrem Gegenstand umgehen.
Werden Begriff und Gegenstand Geschlecht identitätslogisch in eins
gesetzt, droht die Ideologie Sexismus. Gerade im theoretischen oder
wissenschaftlichen Zugang zu Natur ist man dazu angehalten, die zurichtende
Kraft der Begriffe präsent zu halten. Denn:
Die Begriffe, die wir gebrauchen, haben alle ein Moment des Veranstalteten ...
des auf die Sache Draufgelegten. Sie dienen im wesentlichen der
Naturbeherrschung, sie werden in der Regel ... nach dem wissenschaftlichen
Verfahren durch Definition gewonnen ... ohne dass dabei Rücksicht auf das,
worauf sie gehen, entscheidend wäre. Sie werden als Spielmarken hantiert,
dass sie verwendbar sind für in einem allerweitesten Sinn
technische Zwecke; aber nicht in dem Sinn, dass das, was sie meinen, in ihnen
schlechterdings zur Sprache kommt.(1)
Adorno will hier verdeutlichen, dass unsere Begriffe über die
unumgängliche Abstraktion vom bezeichnenten Gegenstand hinaus, das
Bezeichnete in funktionale, normierte, massenhafte Reproduzierbarkeit
kürzen. Es geht um Schematisierung, um Vergleichbarmachen, nicht um
mimetisches Erfassen der Sache. Das Resultat (im Gegensatz vielleicht zur
Intention, die auch die Versöhnung sowie den Aspekt menschlicher
Bedürfnissbefriedigung anspricht) der Begriffsbildung ist nicht
Versöhnung mit und Verständnis von Natur, sondern deren Unterjochung
zum Zweck der Verwertbarkeit. Abgesehen davon, dass auch ein mimetischer Umgang
mit Natur immer schon einen vermittelten Zugriff auf sie bedeutete, also auch
hier nicht das Wirkliche der Natur zum Vorschein käme, sind unsere
Begriffe alles andere als dazu angetan, Natur auf nicht instrumentelle Weise zu
verstehen.
Der Begriff Geschlecht ist schon für sich eine solche Typenbildung, mit
der gesellschaftlichen Funktion, die patriarchale Ordnung der Gesellschaft zu
erhalten, ohne den eine Wertvergesellschaftung, die auf Absehen von der Natur
und Naturbeherrschung ruht, nicht realisierbar wäre. Damit ist auch schon
angesprochen, was Geschlecht nicht ist: eine Bezeichnung für eine rein
subjektive Angelegenheit. Ich begreife Geschlecht als eine Kategorie im Sinne
Marxens. Die Marxsche Kategorie existiert sowohl im Subjekt, als auch
gleichzeitig außerhalb, als Objektivität in diesem Sinne
spricht er von objektiven Gedankenformen. Denken, das notwendig gedacht werden
muß (auf die gesellschaftliche Funktion der Strukturkategorie Geschlecht
werde ich weiter unten genauer eingehen). Die Kategorie Geschlecht impliziert
die Vorstellung von natürlicher Zweigeschlechtlichkeit, impliziert die
Vorstellung einer geteilten Gattung Mensch, die erst zusammen zu einem Ganzen
wird, weil die Zwei sich komplementär ergänzen. Gegenüber stehen
sich Kultur, Aktivität, Geist und Autonomie auf der einen Seite, Natur,
Gebundenheit, Passivität und Emotionalität auf der anderen. Weil im
Geschlechterverhältnis mit seiner Komplementärkonstruktion eines
inferioren Naturwesens Frau und eines Geistwesens Mann die herrschende
Naturunterdrückung fehlbearbeitet wird, ist genau dort nach der
Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kultur zu
suchen.
Da das, was am Geschlecht Naturkomponente ist, schon vermittelt mit
Gesellschaftlichem ist, ist eine umfassende Bestimmung der natürlichen
Anteile nicht möglich. Das ist auch der Grund dafür, weshalb
Geschlecht heute primär vom Pol der Gesellschaft aus bestimmt oder
vielmehr eingegrenzt werden sollte. Dabei ist die Stellung der Natur in der
Gesellschaft, in der wir Geschlecht zu bestimmen versuchen, anzusprechen, sowie
Geschlecht als Strukturkategorie in seiner Funktion der Stabilisierung sowohl
von Gesellschaft, als auch vom Subjekt, und als Abschiebe- und Aufbewahrungsort
des spezifischen, modernen Naturverhältnisses im Kapitalismus zu
betrachten.
Eine Neubestimmung von Geschlecht
Im Folgenden werde ich eine Neubestimmung von Geschlecht in Auseinandersetzung
mit dem von der feministischen Philosophin Andrea Maihofer hierfür
vorgeschlagenen Rahmen vornehmen:
- Die idealistische Trennung von Natur und Kultur, Körper und
Geist ist als historisch entstandene zu begreifen. Ich gehe mit Maihofer mit,
bezüglich der Annahme der Gewordenheit sowohl des aktuellen hierarchischen
Geschlechterverhältnisses und den damit verbundenen
Geschlechteridentitäten und zuschreibungen, als auch des diametralen
Gegensatzes von Geist und Natur, Materie und Bewußtsein. Zwar lassen sich
ähnliche Gedanken zum Beispiel schon bei Aristoteles finden:
gesellschaftsstrukturierende Wirkung erhalten sie erst durch den speziellen
instrumentellen Naturumgang, welcher der Wertvergesellschaftung zugrunde liegt,
den sie zugleich auch bewirkt. Fragt man in diesem Kontext nach Bruch oder
Kontinuität in der Geschichte, liegt das Augenmerk auf dem spezifisch
Neuen des Naturverhältnisses, das einer kapitalistischen Produktionsweise
zu Grunde liegt. Aber ich sehe es (anschließend an Carmen Gransee) so,
dass das, was bei Maihofer Wirkung (die Trennung von Natur und Kultur) eher die
Ursache (das komplementäre naturalisierte Geschlechterverhältnis)
darstellt: Die
Beharrlichkeit der binären Geschlechterkonzeptualisierung mit
all ihren hierarchisierenden und naturalisierenden Implikaten [verweist]
auf die Natur-Kultur-Dichotomie... In ihr zeigen sich Trennungen, die mit der
Natur- wie Selbstbeherrschung verbunden sind: Die Leugnung der
Naturgebunden[heit] und -verfallenheit der menschlichen Existenz kommt im Topos
der modernen Naturbeherrschung ebenso zum Tragen wie die Verobjektivierung der
Natur zum abstrakten Ding in der Naturtheorie. Die Abspaltung von
Leibgebundenheit und verlockender Sinnlichkeit erweist sich als Voraussetzung
für die Vorstellung eines sich autonom dünkenden
Geistes.(2)
- Maihofer betont als zweites, daß jede Bestimmung von Geschlecht
sich immer in der Dichotomie von Natur/Kultur bewegt und bewegen muß.
Daher gälte es präsent zu halten:
Alle Versuche, die Dichotomie zwischen Natur und Kultur zu
überwinden, bleiben ... notwendig prekär. Sie sind ständig der
Gefahr ausgesetzt, auf die eine oder andere Seite der Dichotomie, umzukippen
...(3)
Was bedeutet es, wenn man die Natur und Kultur als Dichotomie zum Bezugsrahmen
von Geschlechterbestimmungen wählt? Bedeutet es, man kann keine
Vermittlung denken? Kann keine vermittelte Natur denken? Dichotomie existiert
nur ideologisch daher ist Maihofer vorzuwerfen, dass sie diese
Ideologie der unvermittelten Zweiteilung von Natur und Kultur (mit Althusser)
für bare Münze nimmt und nicht ideologiekritisch durchschaut und noch
dazu für unüberwindbar erklärt. Dichotomien sind ein Ganzes, das
zwei unversöhnliche Gegensätze vereint (z.B. ungerade und gerade
zahlen), was das eine ist, kann das andere nicht sein. Dichtomien sind schon in
der klassischen dialektischen Philosophie überwunden worden, aber
Maihofers philosophischer Bezug, also Althusser, Foucault (und sämtlicher
Poststrukturalismus) fallen dahinter zurück, die mögen Kants
Kopernikanische Wende (mit Heidegger als gemeinsamem Vorbild) nicht.
Verflüssigt man die Dichotomie dialektisch, gelangt man zu Gransees
Verständnis von Natur/Geschlecht als Grenzbegriffe. Vielleicht kann man
der Maihofer genau das vorwerfen, also das sie Dichotomien erst in die Welt und
dann für unlösbar erkärt, während sie doch bereits kritisch
vermittelt worden sind, bei Hegel, Marx und in der kritischen Theorie.
Demgegenüber ist das Verhältnis von Natur und Gesellschaft ein
dialektisches, weil es gerade in einer Totalität, wie sie die Gesellschaft
heute ja ist, kein an sich der Natur, keine unvermittelte, von menschlichem
Zugriff unberührte Natur mehr existiert. Und Gesellschaft selbst ist kein
rein menschliches, erstens, weil sie eine natürliche Grundlage hat und
braucht, zweitens weil sie sich selber wie Natur (zweiter Natur)
verhält.
Ist tatsächlich die Bestimmung von Geschlecht im Kontext des
Mensch-Natur-Verhältnisses angestrebt, ist die Vermittlung beider Pole zu
leisten, ohne einen in den anderen aufzulösen, wie es im radikalsten
Dekonstruktivismus passiert. Der faßt körperliches Geschlecht als
bloßes Resultat der Geschlechteridentität auf. Obwohl im
Alltagsdenken zwangsläufig Dichotomien gedacht und praktiziert werden,
gibt es die Option der Theorie oder Kritik Marx hat es beispielsweise in
seiner Analyse und Kritik der Ware vorgemacht. Vielleicht hat Maihofer, die
Schwierigkeit eine Überwindung der Dichotomie zu denken, weil sie für
sie ein Diskursprodukt ist und nicht Moment der Aufspaltung der Gesellschaft in
Konkretes und Abstraktes, Gebrauchswert und Wert, konkrete, bestimmte Arbeit
und gesellschaftliche, allgemein-menschliche Arbeit. Eine materialistische
Kritik des Geschlechterverhältnisses fragt danach, was diese Aufspaltungen
mit der Geschlechterproblematik zu tun haben.
Das heißt dennoch, der Spagat bleibt einer, jede Festlegung (so
unbefriedigend das auch ist) wird den Gegenstand Geschlecht wieder nur
identitätslogisch fassen können. Das heißt natürlich
ebenso nicht, man könne über Geschlecht nichts aussagen: Und das ist
die These der Arbeit von Maihofer, Geschlecht ist eine Existenzweise, ist eine
materielle Realität, die immer im historischen Kontext zu erfassen ist.
Überhistorische Aussagen, die über den jeweiligen Organisationsgrad
der Gesellschaft, oder des menschlichen Zusammenlebens in dem Geschlecht
erfahren und gelebt wurde, hinaus geht, sollte man besser lassen, weil
Geschlecht dann nicht in seiner gesellschaftlichen Vermittlung begriffen
sondern auf eine vermeintlich natürliche Konstante reduziert wird.
- Für Maihofer bleibt es eine offene Frage, in wie weit und wie
aber nicht ob Natur Gesellschaft mit ihren
Eigengesetzmäßigkeiten beeinflußt und bestimmt. Sie
schließt eine gesellschaftskonstituierende Wirkung von Natur, auch von
natürlichem Geschlecht, nicht aus. Nur: Ausgehend vom heutigen
Erkenntnisstand unter naturwissenschaftskritischem Gesichtspunkt, ist diese
nicht zu bestimmen. Dem schließe ich mich an. Heute ist mit Adorno ein
Veto gegen jegliche Anthropologie zu erheben. Maihofer dazu:
... die gesellschafts- und kulturkonstituierende Bedeutung von Natur
[ist] nicht endgültig zu klären ... Ich schließe also die
Möglichkeit einer gesellschafts- und kulturkonstituierenden Bedeutung
körperlicher Praxen (wie beispielsweise die des Gebärens,
weiblicher oder männlicher sexueller Praktiken
usw.) nicht aus ... ich möchte diese Fragen offen lassen ... spricht nicht
die Tatsache, dass eine derart grundlegende Problematisierung des
natürlichen Geschlechtskörpers gerade jetzt innerhalb der
feministischen Theorie stattfindet, gleichermaßen sowohl für
dessen gesellschaftskonstituierende Bedeutung wie gegen
sie? Geschieht diese Problematisierung doch genau in dem historischen
Augenblick, in dem die künftige Irrelevanz der Gebärfähigkeit
der Frau für die Reproduktion zumindest als Möglichkeit aufscheint,
in dem Augenblick also, in dem diese natürliche Eigenschaft
des weiblichen Körpers möglicherweise gesellschaftlich bedeutungslos
wird. Ein Zufall? Oder weist das nicht vielmehr darauf hin, daß die
natürliche Gebärfähigkeit der Frau innerhalb
bestimmter Gesellschaftsverhältnisse immense Relevanz hatte, sie in
anderen unter Umständen aber völlig verliert?(4)
Mit anderen Worten: Sicher hat die Reproduktion der Sippe, des Stammes usw.
eine große Bedeutung inne gehabt, aber sie muß nicht immer in der
Geschlechteridentität der Frau verankert gewesen sein. Überhaupt ist
dieses Identitätskonzept zu historisieren. Wird die natürliche Basis
der Gesellschaft fixiert, passiert es schnell, daß
Körperempfindungen vergangener Epochen und Gesellschaften vor dem
Hintergrund heute üblicher Geschlechtererfahrungen interpretiert werden
ohne daß dieser Hintergrund als gesellschaftlich geprägter
deutlich wird.
Gesellschaft oder früher: Gemeinschaften sind ein
Zusammenhang von Menschen, die, mehr oder weniger bewußt,
gemeinschaftlich ihre Reproduktion organisieren. Im Kapitalismus erfolgt diese
Organisation verselbständigt, losgelöst vom Wollen und Tun der
Gesellschaftsteilnehmer. Dennoch: Gesellschaft bleibt die Organisation des
Stoffwechsels mit der Natur nur mit dem Paradox, das sich dies derzeit,
gerade unter Absehung vom Stoffwechsel mit der Natur, äußerst
destruktiv vollzieht. Der Mensch selber ist Natur; Natur mit Bewußtsein
begabt. Schon deshalb beeinflußt die menschliche Natur Gesellschaft. Das
ist fast banal. Die Problematik im Kapitalismus ist, dass zum einen die
natürliche Basis verschleiert/verdeckt wird, zum anderen, dass von ihr
real abstrahiert wird, da der offensichtliche Zweck der Produktion Wert bzw.
Profit ist, nicht die materielle Reproduktion der Individuen.
- Maihofer spricht sich dafür aus, Geschlecht und
Geschlechterdifferenz primär gesellschaftlich zu fassen. Dabei klärt
sie nicht, was für sie Gesellschaft darstellt (aber ihre Grundlage ist
Foucault). Die Überspitzung, nie und in keiner denkbaren
Gesellschaftskonzeption Aussagen über Geschlecht an sich zu wagen,
also jenseits von gesellschaftlicher Vermittlung, ist ihrer Meinung nach zu
vermeiden. Dabei möchte sie diese erkenntniskritische Vorsicht nicht
ontologisch verstanden wissen. Ich hingegen gehe davon aus, dass Natur immer
gesellschaftliche Natur für das soziale Wesen Mensch ist, und darum
tatsächlich in keiner denkbaren Gesellschaftskonzeption Aussagen über
Geschlecht an sich, also jenseits von gesellschaftlicher Vermittlung
etwas über Geschlecht gesagt werden kann. Wenn es eine Naturkonstante
gibt, dann die, dass der Mensch erst im Zusammenleben mit anderen Menschen zum
Mensch wird.
- Über Maihofers Rahmen für die Neubestimmung von Geschlecht
hinausgehend, möchte ich noch hinzufügen: Will man Geschlecht
primär von der Gesellschaft aus eingrenzen, ist diese Gesellschaft,
speziell deren Umgang und Verhältnis zur Natur und die Funktion von
Geschlecht näher zu bestimmen. Dazu braucht es die Analyse und Kritik der
Gesellschaft aus Sicht der kritischen Theorie sowie des Feminismus.
Micha Böhme
Im nächsten Heft erscheint der zweite Teil: Gesellschaft und Natur,
Gesellschaft als zweite Natur, die Naturalisierung gesellschaftlicher
Verhältnisse
Anmerkungen
(1) Theodor W. Adorno, Ontologie und Dialektik, Frankfurt a. M., 1960/61, S. 61f.
(2) Carmen Gransee, Grenz-Bestimmungen, Zum Problem identitätslogischer Konstruktionen von
Natur und Geschlecht, Tübingen 1999, S. 33/34
(3) Andreas Maihofer, Geschlecht als Existenzweise, Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, Frankfurt a. M., 1995, S. 77
(4) A.a.O., S. 77/78
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