Natur und Leib im Widerstand.
Zweiter Teil der Verschriftlichung des gleichnamigen Vortrags von
mausebär (Teil 1 erschien im CEE IEH #151)
3. Verbindung der Leibperspektive mit dem Wissen um die naturfeindliche
Gesellschaft: das reaktionäre Minimum
Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast
ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.
Es geht ums Ganze Kommunismus, schalalalalaaa, sekundieren die
aufgekratzten kritisch-theoretischen Besserwisser dem melancholischen Bertolt
Brecht. Ich nun möchte nicht fragen, sondern feststellen: Wirklich, ich
lebe in finsteren Zeiten, in denen ein Gespräch über das falsche
Ganze ein Schweigen über jede einzelne Teilzerstörung
einschließt.
Die dramatischsten von ihnen vollziehen sich in menschlicher und
nicht-menschlicher Natur. Ein emphatischer Bezug auf Natur jenseits von
Esoterik könnte praktisch klar machen, dass noch nicht alles verloren ist,
auch wenn dies einige Stufen unterhalb der beliebten fundamental-kategorialen
Gesellschaftskritik angesiedelt wäre. Eine Wiederentdeckung von Natur als
Einübung in eine bestimmte Weise mit Stoffen umzugehen und auf die eigene
Sinnlichkeit Acht zu geben, kann dazu beitragen, den ausschließlich
instrumentellen Umgang mit Körpern (und dem eigenen Leib) im Kapitalismus
zu delegitimieren. Eine im wohlverstandenen Sinne
reaktionäre Grundhaltung (also kein Bekenntnis zu reaktionärer
Politik, ewigen Werten, einer Partei oder irgendwelchen antiliberalen
Überzeugungen) soll dabei helfen.
Denn die Leibperspektive zu stärken heißt wesentlich: Rücksicht
nehmen auf Gefahrenbewusstsein, Verlust- und Risikoangst (durchaus im Sinne von
Walter Benjamin: Geschichte als Gefahrenkonstellation [...] die [...]
abzuwenden ist [Benjamin 1984: 149] und auch Jens Friebe: die Chance
... mal als Gefahr begreifen). Wenn der Fortschrittler sagt: Versuchen wir's
doch mit der grünen Gentechnik, wir dürfen Chancen nicht vergeben,
verweist der Reaktionär im Bündnis mit dem Konservativen darauf, dass
es bis jetzt keine Versicherung gegen die Risiken genmanipulierter Pflanzen
gibt (siehe:
www.mein-nein.de/cms.asp?AE=0&IDN=74&Plugin=&H=178&T=0
und auch www.heise.de/tp/r4/artikel/16/16244/1.html) und verlangt,
die sich darin ausdrückende Ablehnung ernst zu nehmen. Er will nicht in
vorauseilendem Gehorsam alle beschwichtigenden Berechnungen der Industrie
abnicken, warum ein ganz bestimmtes Risiko um des Fortschritts willen nun doch
zu tragen ist. Nebenbei: Schlägt jemand die Besteuerung der
internationalen Finanztransaktionen und die Umleitung der Gelder ins
Gesundheitssystem vor, dann wird ihm gesagt, er verstünde nicht, was
Kapitalismus ist. Macht sich aber jemand über die Auffassung lustig, die
Einführung der Gentechnik werde zu einer Reduzierung der
Ungleichheit auf der ganzen Welt führen, wie die
UNESCO-Bioethik-Deklaration (Fassung 1995, zit. bei Böhme 1997: 207,
Fußnoten 129/130) verspricht, wird ihm von denselben Leuten gesagt, er
sei ein zynischer Fortschrittsfeind, der keine Medikamentenforschung mehr
zulassen will. (Auf diese Art Gesellschaftskritik kann ich gut verzichten und
würde ihr gegenüber jede bürgerliche Demokratie vorziehen.)
Die Leibperspektive einzunehmen heißt, sich des Bewahrens, der
Behutsamkeit zu befleißigen, heißt aber auch, sich lebensweltlich
der fortlaufenden Entfesselung zu verweigern und oft auch, Verzicht zu
üben. Geht nicht, gibt's!. Umgekehrt gibt es eine Welt zu
gewinnen, also viel von dem zu retten, was heillos überholt wirkt und
sogar die Aussicht darauf, lange Vermisstes wieder zu finden.
Als ob es nicht tausende Gründe dafür gäbe, nicht in der Zeit
Behauptetes wiederherzustellen. Der Wunsch, die Folgen schrecklicher Ereignisse
rückgängig zu machen, ist reaktionär eher noch als
für den Konservativen gilt für den Reaktionär, dass in ihm
etwas von der leidenschaftlichen Qual des Jungen in Peter Shrubbs
Erzählung [ist], der ein Verzeichnis aller Menschen niederlegen will, die
jemals gelebt haben, damit ihr Andenken nicht verloren gehe (Kaltenbrunner
1972: 53f). Nur immer lustig Blut und heitren Sinn, futsch ist futsch und
hin ist hin, meint das Studentenlied Adorno jedenfalls ist dagegen und
nimmt die Partei der Reaktion: die Sehnsucht (des Materialismus, Anm. von
mausebär) wäre die Auferstehung des Fleisches (Adorno 1975: 207).
Liebeskummer ist reaktionär und das Andenken an die Shoa-Opfer auch. Der
konsequente Fortschrittler muss über Auschwitz sagen: Vorbei ist
vorbei, wir sind längst auf dem Weg zu neuen Ufern. Doch Yad Vashem ist
kein Projekt des Fortschritts. In einem Artikel zum 70. Geburtstag von Oswald
Spengler wird dieser vom Autor Theodor W. Adorno mit den Worten zitiert:
Wir haben in wenigen Jahren gelernt, Ereignisse kaum noch zu beachten,
die vor dem Kriege die Welt hätten erstarren lassen und fährt dann
fort: Unterdessen gilt bereits einer, der an Auschwitz erinnert, für
langweilig. Keiner gibt mehr etwas fürs Vergangene
(www.ceeol.com/aspx/getdocument.aspx?logid=5&id=C1AEA760-BA7B-45F9-A37E-288F83EEEB7D).
Das Bewusstsein dafür wach zu halten, dass wie Hannah Arendt sagt,
es nicht hätte geschehen dürfen, ist reaktionär. Es ist
ja geschehen und wer sich zu sehr ans Vergangene klammert, ist
rückwärtsgewandt und hat nicht begriffen, dass das Leben weitergeht.
Doch für denjenigen, der die Zeit zurück haben will, die Zeit, in der
die europäischen Juden lebten und man Auschwitz nicht denken musste, kann
Reaktionär kein Schimpfwort sein.
Und auch der bewahrende Bezug auf äußere Natur Ökologie
hat immer einen reaktionären Kern: Ökologie will nicht den
Erhalt des gegenwärtigen Niveaus, sondern sie will die Einrichtung einer
schönen Erde unter klugem Rückgriff auf Vergangenes, sie will das
Wohlbefinden des Menschen (vgl. Kaltenbrunner 1972: 46) und hat keine Angst
davor, dass viele großartige Errungenschaften der Technik wieder
demontiert, viele eingefleischte Haltungen wieder abtrainiert werden
müssen.
Ich möchte an zwei Beispielen oder Modellen vorführen, zu welchen
Folgerungen das reaktionäre Minimum verhilft:
Die erste Benutzungsordnung der Anna-Amalia-Bibliothek zu Weimar, erlassen von
Johann Wolfgang von Goethe. Dort heißt es: Das Ausleihen und
Einnehmen der Bücher geschieht nur zwey Morgen in der Woche, Mittwoch und
Sonnabends. Was binnen dieser Zeit nicht expedirt werden kann, geduldet sich
bis zum nächsten Ausgebetag (abgedruckt in: Die WELT, 24.10.07).
Der Duktus ist in der heutigen Zeit unvorstellbar: Eine serviceorientierte
Einrichtung schreibt von: geschieht nur, was nicht expedirt werden
kann und geduldet. Einschränkung der Leistung, ruhige
Mäßigung und Rücksicht auf sachliche und sinnliche Grenzen
(u.a. der Mitarbeiter was nicht expedirt werden kann, kann eben nicht
expedirt werden und fertig). Diese Entschleunigung ist ein gutes Modell
dafür, was es heißt, Sand ins Getriebe der schönen Maschine zu
schütten. Alles verlangsamte Verhalten, alle Tapsigkeiten, nicht
ergriffenen Möglichkeiten, jedes Verweilen, Stehen bleiben und Schauen,
jeder Umweg verlangt Rechtfertigung. Die Schönheit von Umwegen wird in
einer Zeit sich selbst tragender Hektik nicht mehr verstanden, empfindet es
doch nahezu niemand mehr als Zwang, dass man sich dieser Hektik
anschließen muss, will man nicht permanentes Hupen hinter sich hören
oder von Mountainbikern und anderen Extremsportlern über den Haufen
gefahren werden. Im genannten Beispiel wird klar, dass eine
Arbeitsatmosphäre herrscht, in der von keinem der Angestellten verlangt
wird, über sich hinauszuwachsen, kreativ und sonstwas zu sein.
Bücher expediren können hier auch die nicht ganz
Mitgekommenen, diejenigen, die nicht begriffen haben, was die Stunde geschlagen
hat und deshalb an dem, was sie schon immer so gemacht haben, festhalten. Hier
ist in Ansätzen also schon einmal verwirklicht gewesen, was als Kriterium
gegen die hurtigen Möglichmacher erst wieder neu zu etablieren wäre:
das sich-(Wohl-)Befinden in Umgebungen klare Regeln verhindern
Kreativitäts- und Flexibilitätswahn, hier gibt es kein
mal-sehen-wie-wir-das-hinkriegen, kein Monika, kannst Du heute mal ne
Stunde länger bleiben?.
Ein Negativbeispiel, bei dem die Leibperspektive gegen den Fortschritt verloren
hat das Handy. Hieß es früher in Kreisen, die sich auf ihr
Unkommerziell-Sein sehr viel zugute hielten, noch bei jedem Handyklingeln:
Puh, der ist wichtig, hat heute jedes der ehemaligen Schmuddelkinder
selbst ein Handy. (Nebenbei: Genau diese Leute maßen sich das Recht an,
andere Leute zum Nicht-Wegsehen, zum permanenten Eingreifen und
widerständigen Leben zu nötigen, wo doch klar ist, dass sie sich
niemals irgend etwas, das möglich ist, verweigert haben, dass sie also
auch in Zukunft jeden, aber auch jeden neuen Technikunsinn der Industrie nach
kurzer Eingewöhnungszeit mitmachen werden.) Leute, die eine Erfindung ohne
jeglichen Nutzen wie das Handy begeistert begrüßen, sind in der
alternativen Propagandakompanie zu allem fähig, zu allem verwendbar
kritisch sind sie gewiss nicht. Ohne jeden Nutzen? Aber man kann sich
doch viel spontaner verabreden, als früher?!
Irrtum! Man muss! Verabredungen, auf die man sich u.U. sehr gefreut hat, auf
die man längere Zeit hin gelebt hat, können kurz vorher zugunsten von
irgend etwas anderem meist Arbeit abgesagt werden (Das wissen
auch Arbeitgeber). Aber man kann in Notfällen doch viel schneller
Hilfe holen?! Irrtum! Man muss! Denn diejenigen, die diese Notfälle u.U.
herbei führen (Gewalttäter), aber auch die, die u.U. helfen sollen,
koordinieren sich ja ebenfalls blitzschnell und können entweder alle
Gegenmaßnahmen schnell vereiteln oder ganz schnell zu viel dringlicherer
Hilfe gerufen werden. Aber es ist doch viel bequemer, unterwegs sein zu
können, während man sich abspricht und nicht zu Hause auf Anrufe
warten zu müssen. Irrtum! Man kann nicht unterwegs sein, man muss! Weil
ja sämtliche handybesitzenden Freunde ihre Termine so dicht gelegt haben,
dass einem gar nichts anderes übrig bleibt, als deren Koordination auf dem
Weg vom einen zum anderen Termin zu erledigen. Wenn aber alle Leute eins
haben, ist man ohne Handy aufgeschmissen richtig. Nur trifft das eben
auch auf die Atombombe zu. Auch die entfaltet ja ihren sehr speziellen
Gebrauchswert erst dann, wenn ein Gleichgewicht des Schreckens herrscht.
Aber technikfeindliches Verweigern hilft doch nicht gegen das falsche
Ganze Ich antworte mit Adorno: Daß jedem bekannt sei, was
über ihn ergeht [...] scheint von der Besinnung darüber zu befreien,
was es ist. Das Phänomen wird zur hinzunehmenden, gleichsam
unabänderlichen Gegebenheit, deren hartnäckige Existenz allein schon
ihr Recht beweise (Adorno 1968: 31).
Kurz gesagt: Das einzige Ergebnis der Einführung des Mobiltelefons ist
eine weitere Entsinnlichung des Alltags durch seine rasante Beschleunigung und
durch das Schwinden der Bedeutung leiblicher Anwesenheit. Sonst hat sich nichts
geändert. Alles wird einfach viel schneller gelebt. Doch Menschen, die die
Vereinheitlichung und Entsinnlichung im Kapitalismus beklagen, müsste es
um Qualität statt Quantität, sogar: um irreduzible Qualität
gehen. Ein Modell: 27deg.C ist nicht dreimal so warm wie 9deg.C, aber auch
nicht eine dreifache 9deg.C-Kälte. 27deg.C sind im menschlichen Leben des
Fühlens (also nicht in der Deutung als Teilchenbewegung) ein bestimmter
Eindruck von Wärme samt dem Komplex Entkleiden, Badengehen,
Eiskaufen usw., ebenso wie 9deg.C ein bestimmter Eindruck von Kälte samt
dem Komplex beim Fahrradfahren Handschuhe tragen, nicht mehr
kurzärmlig laufen usw. ist. Es geht nicht darum, das falsche des
falschen Lebens als gar nicht so schlimm auszugeben (und so zu tun, als
ließe sich mit ein bisschen mehr sinnlichem Bewusstsein die Gesellschaft
umkrempeln), es geht darum, das Richtige durch stetiges Hinwirken auf seine
gesellschaftliche Verwirklichung, wenigstens im Bewusstsein der Menschen am
Leben zu erhalten, also im täglichen Leben eben die Irreduzibilität
von Qualitäten zu betonen (z.B.: Überstunden sind eben nicht das
gleiche wie mehr Geld). Auch hier wieder der Vorschlag für eine
Übung: Man kann versuchen, Irreduzibilität im Umgang mit Pflanzen zu
erfahren z.B. am Phänomen Stachel. Hier ließen sich
unterschiedliche Grade von Stachligkeit herausbekommen, Komponenten von
Stachligkeit zusammentragen, Ausprobieren, wie sich Stacheln an
unterschiedlichen Körperteilen anfühlen und welche Leibempfindungen
man dabei hat.
Lernen kann man Qualitäten am besten am Zwecklosen (wer mir hier den
Richard Wagner vorwerfen will, kann das gern tun); das funktionslose Ornament
(das ja nach Adolf Loos Verbrechen sein soll), ist Anregung der Sinne, Aufruf,
Erfahrungen zu machen und rechtfertigt sich nicht mit weitergehendem Nutzen
fürs Kapital, ganz im Gegensatz zum Funktionalismus von Stahl und Glas.
Die nicht säenden Vögel und die Lilien auf dem Feld sind zwecklos in
sich sind in ihrem Leben darauf angewiesen, vom Menschen emphatisch
wahrgenommen zu werden (dazu auch Jünger 1953: 84). Max Weber schon
registriert die hässliche Schlichtheit der Alltagsgegenstände, was
würde er zu den heutigen Betonklötzen sagen und zu den bis auf eine
hundsteure Musikanlage, aus der ja doch bloß Techno kommt,
leergeräumten Wohnungen?
Nebenbei: Der Reaktionär weiß meist recht genau, auf welche
Qualitäten Stichwort: Werte es ihm ankommt, während so
etwas wie die Linke jeden Inhalt schon einmal vertreten hat, für oder
gegen Tiere, für oder gegen die Mitwirkung der Bevölkerung im Kampf,
für oder gegen Atomkraft, Parteien, Geschlechterdekonstruktion,
Klassenkampf, Antinationalismus, Aufklärung, Deutschland, Israel oder
sonstwas. Nur eins blieb konstant die Bösen nannte man immer
Nazis, Männer, Deutsche.
3.1 Natur bewusst erfahren: Schonung und Leibsein als Aufgabe (Gernot
Böhme)
Wir hatten gesehen: Natur erfahren wir als äußere belebte und
unbelebte und als innere, als unseren Leib.
Um mit dem Leib zu beginnen: Nicht das autonome, leiblose Subjekt, sondern der
souveräne, seiner Leiblichkeit voll bewusste Mensch (G. Böhme auf der
A dorno-Konferenz; hier nachzuhören:
www.uni-frankfurt.de/fb/fb04/forschung/gruschka_adorno/boehme.html),
derjenige, der Natur in sich bewahrt und doch nicht nur im Modus der Regression
sich befindet, ist lohnendes Ziel einer richtigen Lebensführung. (Zumal ja
Luhmann im Hintergrund sowieso niemand weiß, was so ein
Subjekt ist: Zu fragen wäre: Wie heißt es? Wo wohnt es? Gib mir
seine Adresse, damit ich es nach dem befragen kann, was es denkt!) Die
Natur ist unser Feind und Barry Commoners Die Natur weiß es am
besten sind zwei Seiten einer zurückzuweisenden Medaille. Die Natur kann
nicht unser Feind sein, denn wir sind Natur und sie kann es nicht am besten
wissen, denn dies heißt, Einsichten über den Leib, unsere Natur zu
ignorieren und bspw. eine Krebsschmerzenbehandlung mit Opiaten mit der
Begründung zu verweigern, dass es der Natur auf den Schmerz jetzt gerade
ankomme. Souverän ist beides nicht. Wir müssen weder alles
schicksalhaft hinnehmen, noch alles, was in dieser Umgebung potenziell
möglich ist, entfesseln. Unsouverän ist der besinnungslose Vollzug
jeder Art.
Unterm Kapital aber wird alles, was möglich ist, auch gemacht. Stichwort:
gender trouble. Das gegebene Geschlecht wird nicht mit eigener
Individualität durchwirkt es muss als künstlich dargestellt
werden, damit es immer wieder (anders) gemacht werden kann. Das ist genau das
Denken, das die kreativsten Köpfe einer x-beliebigen Innovativabteilung,
einer x-beliebigen Produktentwicklungsgruppe in einem x-beliebigen Unternehmen
wunderbar draufhaben. Keinen Stillstand eintreten lassen, fantasievoll umbauen,
Grenzen überschreiten, bis zum nächsten Produkt, zur nächsten
Party.
In diesem Zusammenhang ein kurzer Ausflug in den Streit um Aufklärung und
westliche Werte. Die damalige Nebelkerzenwerferei der Werkkritik hat der der
linken Bellizisten in nichts nachgestanden und die Kraft der Polemik hat zu
unnötigen Parteinahmen gezwungen. Ich plädiere dafür, einfach
klar zu sagen, was man retten und was man verwerfen möchte, fragen
wir einfach danach, worum es in der Sache geht, um mit Papst Benedikt zu
sprechen. Man braucht überhaupt nicht in einen moralischen Ton zu
verfallen, um festzustellen, dass Aufklärung beinharte Zurichtung und
Leibfeindschaft bedeutet, es reicht, die Perlen der philosophischen
Aufklärung zu untersuchen. Wedel (2003: 26) hat am Beispiel Kant
vorgeführt, mit welcher Zwanghaftigkeit das Selbst das ja immer
auch Leib ist als erkennendes Subjekt platziert und somit dafür
gesorgt wird, dass jede Art Leiberfahrung von der Vernunft, weil nicht nach
Gesetzen funktionierend, abgewiesen wird. Doch ebenso klar ist, dass die
Überwindung von Unmündigkeit, die Hochschätzung von
Individualität und das Infragestellen religiöser Tradition für
das menschliche Leben nützlich sein können. Falsch ist, das eine
gegen das andere aufzurechnen. Unmündigkeit wird nicht deshalb weniger
schlimm, weil die bisherige Mündigkeit sich immer nur auf das
männlich-weiße westliche Subjekt (Ausdruck von Robert Kurz) bezog.
Wir können sachlich feststellen: Wenn der Mensch sich als Vernunftwesen
versteht, muss seine Natur (sein Leib) zurückstehen, ja mehr noch: sie
muss an ihm als Bestialität bekämpft werden (Böhme 1989: 32).
Aufklärung als Betonung des Gemachten gegen das Gegebene (bspw.: Kraft der
Vernunft gegen Tradition) impliziert den Zwang zum Zugriff, zum Gestalten,
nicht Bestehenlassen. Angesichts der Ökokrise ein fatales Reaktionsmuster
besteht heute die Notwendigkeit doch darin, die meisten Vorgänge
des Tages schlicht zu unterlassen, den Bestand der noch naturnahen Dinge zu
sichern. Jetzt schon, in der falschen Gesellschaft, kann man versuchen, im
Sinne der wahren zu handeln, einer Gesellschaft, die der Entfaltung
überdrüssig (wird) und [...] aus Freiheit Möglichkeiten
ungenützt [lässt], anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne
einzustürmen. (Adorno 1994: 207). Der Leib, das, was ich in betroffener
Selbstgegebenheit bin (Böhme 2003: 44, 80), ist m.E. der stärkste
Ausdruck von Individuellem überhaupt. Seine Herabwürdigung zugunsten
der Vernunft, bedeutet eine schlecht idealistische
Herabwürdigung der sonst so hochgehaltenen Individualität. Ganz davon
abgesehen, dass diejenigen, die sich auf ihren Individualismus so viel zugute
halten, meist nur Die Gedanken sind frei meinen, was sie durchaus mit
allen deutschen Spießbürgern verbindet. Im alltäglichen Leben
machen sie höchst selten Gebrauch vom möglichen Individualismus. Wer
sich das äußere Erscheinungsbild, die Essgewohnheiten,
Arbeitsstellen, Ausdrucksweise, Lektüre, Partnerwahl und
Musikgeschmäcker unserer Individualismusfreunde (woher sie auch kommen)
ansieht, kann mit Fug und Recht von Gleichschaltung sprechen. Nicht nur
Punkflyer und Aufrufe zur Antifa-Demo sehen immer, immer gleich aus. Bis hin
zur Peinlichkeit des Adornoschen nachgestellten Reflexivums und der Ausstattung
alternativer Orte herrscht das linke Einheitsprinzip. Jede Ortsgruppe der
Jungen Union ist individualistischer. (Kommt man darauf übrigens zu
sprechen, wird man wie immer abgespeist mit dem Satz Es gibt kein
richtiges Leben im Falschen. Kurz gesagt: Wir werden uns weiter so verhalten,
wie es in unserer Szene gerade en vogue ist, aber auf Nachfrage sind wir
jederzeit: Für den Kommunismus! Das sind so Momente, in denen ich
plötzlich gar nicht mehr so sehr für den Kommunismus bin.)
Zur äußeren Natur:
Nachträgliche Umweltsanierung durch ökologisch engagierte Fachleute
und Laien ist zu praktizieren und gleichzeitig das problematische daran
herauszuarbeiten; zu zeigen, dass in der Gesellschaft des Kapitals alle
Verbesserungen sofort wieder in den Dienst des rastlosen Fortschritts gestellt
werden: entweder verschaffen die sinkenden Folgekosten für den normalen
Warenstrom ein gutes, ökologisches Gewissen oder aber ein zunehmender
Warenstrom wird mit gleichbleibenden ökologischen Folgekosten
gerechtfertigt. Wenn die schwer reflektierte Linke inkl. der Wertkritik mahnend
den Zeigefinger hebt: Kein Verzichtsdenken!, dann müsste ihr genau
dieser angeführte Gedankengang um die Ohren gehauen werden. Mit dem Gerede
über Möglichkeiten, über das gegenwärtige Niveau, das zu
halten sei bzw. auf dem die gegenwärtige Gesellschaft aufzuheben sei, kann
man eben nur die Herrschaft oder das Monopol (Adorno und
Horkheimer erweisen sich so in der Dialektik der Aufklärung als
die Urväter der verkürzten Kapitalismuskritik), die die
großartigen Möglichkeiten falsch nutzen, anklagen (Hier ist es wie
oben mit der Aufklärung: Verzicht wird nicht dadurch dumm, dass
Ökofaschisten ihn predigen und Wertkritiker ihn ablehnen und er wird
nicht dadurch zum Allheilmittel, weil kluge, engagierte Ökologen ihn als
solches ansehen). Wer nicht begreift, daß der Lebensstandard um ein
beträchtliches absänke, wenn die soziale Produktion auf die weltweite
Befriedigung individueller Bedürfnisse (gerichtet? mausebär)
würde und dass viele [...] auf raffinierte Bequemlichkeiten
verzichten (müssten), wenn alle ein menschenwürdiges Dasein
führen sollen (Marcuse 1979: 132) (Stichwort: Fleischkonsum und begrenzte
landwirtschaftliche Anbaufläche), der nimmt nun mal die Partei der
Gesellschaft weiterer Raserei mit schnelleren Autos (aber umweltfreundlich!),
neuer, sinnloser Verpackungen (aber energiesparend, bzw. unter Nutzung
nachhaltiger Energiequellen hergestellt!), heftigerer
Beschallungsmöglichkeiten (im Wissen, dass wir ja die Möglichkeit
besseren Dämmschutzes haben), weiterer Alltagsbeschleunigung (doch es gibt
ja die Möglichkeit des Wellnesswochenendes).
Stichwort Biosprit: Am laufenden Mobilitätswahnsinn ändert sich
nichts, es wird einfach Nahrung verfeuert. Wer hier Natur nicht emphatisch
anschaut, findet daran nichts Kritikwürdiges. Was unterscheidet
schon das Fördern von Erdöl von der Rapsernte? Ist doch
sowieso alles mensch engemacht, hier. Es gibt keine unberührte, erste
Natur mehr, meint der linke Fortschrittler aus dem Marxlesekreis. Und
weite gelbe Felder sind doch ganz hübsch, oder?! Was kümmert uns die
Monokultur Es gibt kein richtiges Leben im Falschen. Man
muss eben immer mal was Neues ausprobieren und schließlich hat doch der
Fortschritt in der Vergangenheit immer zur Ersparnis von Anstrengung
geführt; sollen wir denn wieder so schuften müssen, wie früher?
Ich lasse den Chefpiloten des neuen Superflugzeugs A 380, Robert Ting
antworten:
Man muss geschickter sein und effizienter, aber es wird nicht leichter.
Denn die fortschrittlichere Technologie schafft immer neue Spielereien, immer
neue Herausforderungen. Am Ende tut man also keinesfalls weniger!
(www.swr.de/nachrichten/-/id=396/nid=396/did=2708940/vavfnu/)
Vor 54 Jahren war das Beispiel von Friedrich Georg Jünger die
Bergwerksarbeit, die mit dem Pressluftbohrer nicht einfacher als die mit Hand
und Schaufel ist. Im Gegenteil es kommen Belastungen auf den Arbeiter
zu. Es wird heißer, lauter, man muss in immer tieferen Tiefen arbeiten
(Jünger 1953: 16). Arbeitsverdichtung und erhöhte Anforderungen an
Konzentration haben das eintönige Werkeln abgelöst. Heute ist eine
erhöhte Identifikation mit der Arbeit schon zur Gefahrenvermeidung
hinzugekommen, Dienst nach Vorschrift wird von niemandem mehr als
erstrebenswert angesehen, geschweige denn von Arbeitgebern nachgefragt
(Vorreiter dieser Entwicklung auch hier: Hierarchiefeindliche, herrschaftsfreie
Softwarebastler, locker angezogen, ohne jeglichen Formzwang. Mit Sicherheit
keine Konservativen).
Es ist wichtig, Naturzerstörung aufzuzeigen, zu dokumentieren und die
Unwiederbringlichkeit von Zerstörtem zu zeigen, ja überhaupt erst ein
Gefühl für Unwiederbringlichkeit zu schaffen. Das geht aber auch nur,
wenn man Leib auf eine bewusste Weise ist. Beispiel Atomkraft jenseits
von unterschiedlichen politischen Bewertungen von Kernkraftwerken kann man
feststellen: Wo radioaktiver Abfall lagert, können menschliche Körper
jahrtausendelang nicht mehr hin, diese Gegenden sind für das
Sich-Spüren menschlicher Leiber genauso relevant wie die Venus. Emphase,
dieses ich will da aber hinkönnen ist m.E. noch wichtiger als jede
Auflistung welche Organschäden in welchem Abstand mit welcher
Einwirkungszeit eintreten können.
Ein weiterer Punkt: Elmar Altvater hat vielfach darauf hingewiesen, dass die
erneuerbaren Energien ein den Kapitalismus transzendierendes Potenzial
besitzen.
1. Die Sonnenenergie ist eine Strömungsenergie, weder auszudehnen, noch zu
drosseln, 2. Sie hat eine klar definierte Grenze außerhalb eines alles
regelnden, selbstreferenziellen Prinzips, erzwingt somit 3. eine Abkehr von
Verbrennungsproduktion und -konsum die Einstrahlungsmenge ist
kontinuierlich 200 W pro qm (Ebeling in Altvater 1991 und s.a.
www.energiekrise.de/oel/artikel/paradigmawechsel.html). Damit hat die
Kritik an der Wachstumsideologie ein handfestes Fundament (s.a. Altvater 2005:
223 f). 4. Erneuerbare Energien sind langsamer und kaum ortsunabhängig
einsetzbar (gehen also von vornherein nicht mit dem Beschleunigungszwang und
der propagandistischen Tendenz [Marx] des Kapitals konform). Umgekehrt
impliziert die permanente Expansion des Produktionsapparats, dass Energie als
Vorrat vorhanden sein muss (und das gerade ist bei fossilen Energieträgern
gegeben [s.a. Altvater 2005: 86f], nicht nur als kontinuierliche Strahlung
gleichbleibender Intensität (s.o.: 200 W).
3.2 Was ist das richtige Leben im Falschen?
Kurz gesagt: Das stetige, lust- und mühevolle Streben danach, wieder auch
Natur sein zu können. Etwas länger: Ist Natur die automatisch
daseiende Widerstandsbastion gegen die Kapitalherrschaft, so ist
Naturstärkung einschließlich des Einnehmens der Leibperspektive, das
richtige Leben.
Dass es kein richtiges Leben im Falschen gebe, muss natürlich eine Theorie
behaupten, die immer nur aufs erlösende, den Bann brechende Wort wartet
und das Spüren, das Tun von vornherein nicht in den Blick bekommt. Wer
stolz darauf ist, kein Menschenbild zu besitzen, kann sich um Leiber nicht
kümmern und denkt die Erleichterung des menschlichen Lebens nahezu
zwanghaft als Versöhnung (von allem möglichen).
Es gilt, den Menschen als Naturwesen zu nehmen, das er ist und Natur nicht als
ganz Anderes zu idealisieren (das geht nur, wenn man schon davon ausgeht, man
sei reines Vernunftwesen) und sei es in bester umweltschützerischer
Absicht (etwa: Die Natur vorm Raubtier Mensch schützen). Das Andere
entweder blindlings zu lieben oder zu hassen in seiner Andersheit setzt beides
die Verleugnung dieses angeblich Anderen in sich voraus. Von diesem Standpunkt
wäre auch die Zurichtung von Natur als Tummelplatz utopischer
Sehnsüchte zurückzuweisen, die ja nur ein Mensch hegen kann, der
nicht anerkennen will, dass er qua Leib durch und durch Natur ist
(Böhme 1989: 45, 62). So hat der bürgerliche Städter die Natur
als unschuldiges Material für verquaste Projektionen entdeckt und hasst
sie gleichzeitig, weil sie der Zivilisation im Weg rumsteht (ebd.: 60).
Ausdruck dieses Heraussetzens von Natur aus sich selbst ist bspw. der rein
konservierende Naturschutz, statt der Schaffung und behutsamen Pflege einer
sozial (auf menschliches Befinden bezogenen) abgegrenzten Landschaft
vielleicht im Sinne eines ökologischen Gefüges von Böhme/Schramm
(vgl. dazu Böhme 1989: 42, 54, 73). Ein Beispiel aus DDR-Zeiten: Nach
Intervention von Naturschützern und Einzelpersonen wurden in Leipzig rund
um den Bienitz mehrere Gebiete geschützt, damals verstanden als: sich
selbst überlassen. Das hieß dort v.a.: die Auenwiesen wurden nicht
gemäht - und verödeten somit. Allerweltsbüsche und Birken
siedelten sich an. Nur eine regelmäßige, wenn auch späte Mahd
gewährleistet die Vielfalt einer Wiese. Man hatte nicht verstanden, dass
Naturschutz heute nicht die Restauration irgendeines angenommenen Urzustandes
sein kann, das wäre ja wohl Urwald. Naturschutz muss menschliche
Prägung einbeziehen, was überhaupt kein Problem ist der Mensch
ist ja selbst Natur. Man braucht folglich Kriterien dafür, welche
Naturnutzung für Mensch und außermenschliche Natur selbst
zuträglich ist.
Es geht, mit Gernot Böhme (1989: 45f) gesprochen, darum, nicht bei
Beurteilung zu verharren, sondern um volle sinnliche Erfahrung von Natur (dass
sich eine zweckgerichtete Nutzung damit durchaus vertragen kann, hatten wir
oben beim Sammeln schon gesehen); es geht darum, sein eigenes leibliches
Befinden (Befinden, nicht Empfinden, das passive Einwirkenlassen) zu erkunden,
statt von Experten Messwerte registrieren und beurteilen zu lassen oder sich
permanent Ergebnisse neuester Studien an den Kopf zu hauen. So wie sich der
Antisemit gierig über jüdische Verschwörerkreise beliest,
recherchieren die autofahrenden Fortschrittler aller Fraktionen, samt den
linken Freunden des kleineren Übels erbittert über die Nutzlosigkeit,
ja gar ökologische Schädlichkeit des Mülltrennens und nehmen
noch jede Verlautbarung irgendeines FDP-Ortsvereins für bare Münze.
Nie haben sie sich über die eigene Müllmenge und ihre Reduzierung
Gedanken gemacht (zu diesem Thema reicht, wie oft, der Satz: Es gibt kein
richtiges Leben im falschen.) zum Unsinn des Grünen Punktes aber
kennen sie alle mindestens eine Studie.
Ich benötige keine biologischen Spezialkenntnisse, um den Verlust an
Biodiversität zu beklagen und vor dem Klimawandel Angst zu haben, denn ich
befinde mich ebenso wie der Naturwissenschaftler entweder wohl oder unwohl in
einer Umgebung (Böhme 1989: 49, 93), ich vermisse zum Beispiel Pflanzen,
die ich früher gesehen habe. Solange wir nicht die Wirkungen aller Aspekte
der natürlichen Vielfalt kennen (und das wird nie der Fall sein),
müssen wir davon ausgehen, dass noch die Beseitigung des unscheinbarsten
Elements in ihr Risiken für die Menschheit birgt. Eine Entscheidung, ob
die Dramatik des anthropogen verursachten Klimawandels richtig dargestellt
wurde, lässt sich nur mit dem Tod des letzten Menschen definitiv
klären (das ist wie mit der finalen Krise) das heißt
also, wir müssen jetzt, unter Unsicherheit, nur gestützt auf unsere
Angst und unser Befinden handeln. Und die sagen uns: Altpapiersammeln ist nicht
schädlich; besser als Wälder abzuholzen ist es, benutztes Papier zur
Herstellung von Papier zu verwenden, deswegen sollte man das weiter tun. Auch
wenn dies selbstverständlich durch Verzicht an anderem Ort zu
ergänzen ist und mit dem billigen Abfeiern des Kommunismus
schalalalalaaa so gar nichts zu tun hat.
Literatur:
Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie, Rowohlt, Reinbek, 1968
Adorno, Theodor W.: Fortschritt, in: Stichworte - Kritische Modelle 2, 5.
Aufl., Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1980
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten
Leben, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1994
Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, stw, Frankfurt am Main, 1975
Adorno, Theodor W.: Zur Logik der Sozialwissenschaften, in: Gesammelte
Schriften Bd. 8. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1998
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