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review corner Buch, 1.8k

»E Pluribus Unum« &
»Novus Ordo Saeclorum«

Voigt, Sebastian: Die Dialektik von Einheit und Differenz. Über Ursprung und Geltung des Pluralismusprinzips in den Vereinigten Staaten von Amerika.
Trafo-Verlag, Berlin 2007

Die Leserin und den Leser des vorliegenden Buches(1) erwartet eine mit vielen Fakten angereicherte Erzählung der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika, die zugleich eine Geschichte von Einwanderern ist, die sich immer wieder mit dem Problem der Dialektik von Einheit und Differenz auseinandersetzen mussten. Grundlegend dafür seien die historische Genese der exzeptionellen Toleranz und die des Pluralismusprinzips, dessen „Entfaltung ideen- und kulturgeschichtlich“ (S. 14)(2) nachgezeichnet wird, unter Einbindung des sozialen Kontexts der demokratischen Ideale, die maßgeblich für die USA sind. Dies wird vom Autor gelungen dargestellt.

Anhand des Ursprungs dieses Prinzips, ausgehend von eingewanderten religiösen Dissidenten aus Europa, wird versucht die Transformation des religiösen Pluralismus hin zu einer politischen Toleranz theoretisch zu fundieren; der praktische Beweis wird anhand vieler einzelbiographischer Beispiele und herausragender historisch-empirischer Ereignisse erbracht. Mit der Geltung des sich immer wieder bewährenden ethnischen Pluralismus wird die immense Bedeutung herausgestellt, sowohl für die in den USA stattfinden Integrationsdebatten (bspw. über den Umgang mit mexikanischen Einwanderern) als auch für die, die in den europäischen Nationen ausgetragen werden. Dieser Leitfaden zieht sich durch das gesamte Buch u.a. auch um einen „Kontrapunkt zum weit verbreiteten Antiamerikanismus zu setzen sowie der Unkenntnis der amerikanischen Besonderheiten in Europa entgegenzuarbeiten“(3) (aus dem Klappentext). Hierfür werden die Voraussetzungen für die geschichtliche Entwicklung der ersten Demokratie der Welt nachgezeichnet sowie die vielen maßgeblichen Einwanderungsbewegungen benannt und differenziert, um dem amerikanischen Pluralismus, der nur durch die Einnahme eines universalistischen und transnationalen Standpunkts (Vgl. S. 20) zu verstehen sei, auf die Spur zu kommen. Mit der ursprünglichen englischen Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents durch europäisch-religiöse Dissidenten, ist der Boden für die nachfolgenden Einwanderergruppen kultiviert und institutionalisiert worden und so erscheine die „Überfahrt in die Neue Welt […] als Erfüllung der biblischen Heilsgeschichte, als Überquerung des Roten Meeres und des Jordan, i.e. als neuer Exodus.“ (S. 22)(4). Sie ließen die Alte Welt, die durch feudale Strukturen, religiöse Verfolgungen und blutige Hetze gegen demokratische Bestrebungen gekennzeichnet war, hinter sich und mussten so nicht die Konflikte austragen, die das Leben und Denken der Menschen in Europa beeinflussten. Vielmehr hätten sie durch einen bestimmten Aspekt des American Exceptionalism ihre Freiheit und Individualität ausleben können, der gleichzeitig einen universalistischen Anspruch hat(5). Das damit zusammenhängende Verhältnis von Theorie und Praxis findet an vielen Stellen im Buch Erwähnung, das sich zugunsten der Praxis in Amerika auflöst. Die Bewohner der englischen Siedlerkolonien (spezifisch unterschieden von den sonstigen Eroberungskolonien(6)) haben ihr Leben von Anfang an selbstbewusster gestalten müssen, da sie sich in zunehmenden Maße vom Mutterland abkapselten. Sie hätten sich nicht mit aristokratischen Verhältnissen herumzuschlagen gehabt, die den Prinzipien der Epoche Aufklärung(7) zuwiderliefen.
In diesem Sinne kommt der Entstehung der USA als praktischer Bezugspunkt einschneidende Bedeutung für das Theorie überladene Europa zu, das sich aufgrund der vorherrschenden Herrschaftsverhältnisse noch gedanklich mit vernünftigeren Vergesellschaftungsweisen auseinandersetzen musste. Es sei in Amerika praktisch ein Pluralismusprinzip(8) in Kraft getreten, das mehrheitlich die religiöse Toleranz gegenüber anderen Konfessionen hervorbrachte, die bisher einzigartig in der Menschheitsgeschichte war und sich in „widersprüchlichen historischen Prozessen“ (S. 24) entwickelte. Die entstehenden Kolonien standen in einer puritanischen und calvinistischen Tradition und waren über ihre kirchlichen Gemeinde- und Sektenwesen basisdemokratisch organisiert, was „den Grundstein für den Föderalismus und für die politische Demokratie Amerikas“ (S. 189) legte, da nicht mehr „die Herkunft oder Tradition der Immigranten, sondern ihre Leistung“ (S. 86) zählte(9). Aus der „Notwendigkeit der Akzeptanz von Differenz und Pluralität entwickelte sich die Tradition des Liberalismus und ein demokratischer Habitus wurde gesellschaftlich verwurzelt.“ (ebd.) Am Beispiel der deutschen Einwanderung und speziell der jüdischen Immigrationswellen im 19. Jahrhundert wird aufgezeigt, wie sich die Wandlung des religiösen Pluralismus zur politischen Toleranz und zu ethnischen Pluralismuskonzeptionen(10) vollzogen hat, was gleichbedeutend sei mit einer Geltung des Pluralismusprinzips. Gerade im Bezug auf die Integrationsdebatten, die ab ovo in der ständig im Wandel begriffenen amerikanischen Gesellschaft geführt wurden und heute noch geführt werden, sei das „wichtigste Moment anhand dessen die Geltung und Weiterentwicklung des Pluralismusprinzips aufgezeigt werden kann, […] die Massenimmigration, die ihren prägenden Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft nie eingebüßt hat. Sie erzeugte die außergewöhnliche Dynamik und die kontinuierliche Wandlung Amerikas.“ (S. 193) Die amerikanischen Besonderheiten treten offen zutage, gerade im Bezug auf die Durchsetzung des laizistischen Nationen- und Staatsverständnisses, das sich grundlegend von dem in Europa unterscheide. In Amerika habe sich die Moderne, wie S. Voigt an vielen Stellen erwähnt, „ohne Last der Geschichte“ (S. 125)(11) entwickeln können, das den eingewanderten Flüchtlingen und Dissidenten im 17. Jahrhundert den Aufbau von Kolonien erleichtert habe. Gerade an der Immigration der Juden wird plausibel gezeigt, wie die „partielle Konvergenz zwischen der aus Europa tradierten jüdischen Lebensweise und den Konstitutionsbedingungen Amerikas“ (S. 124) sich für jene als vorteilhaft erwies. Sie hatten keinerlei staatlichen Antisemitismus zu befürchten und empfanden so Amerika als Neubeginn und Befreiung (Vgl. S. 125). Diese Einwanderungsbewegung stehe somit paradigmatisch „für die gesamte Geschichte der Einwanderung nach Amerika“. (S. 196) Interessant sind an dieser Stelle auch die Ausführungen des Autors über die Probleme, die sich dem schon etablierten amerikanischen (Reform)Judentum stellten als es zu einer neuen Einwanderungswelle von Juden aus Osteuropa kam(12). In der fortlaufenden Nacherzählung des pluralistischen Werdegangs der USA, bedingt durch die unterschiedlichen religiösen Auffassungen der Konfessionen, habe „die von Anfang an bestehende Heterogenität des Sektenwesens notwendigerweise einen anderen Umgang mit Differenz“ impliziert, deren europäischen Protagonisten nicht an einer Reproduktion jener anachronistischen Verhältnisse interessiert und „sich der Zäsur des Neuanfangs bewusst waren.“ (S. 189) Mit der Etablierung eines religiösen Pluralismus, der für die zukünftigen Transformationsbewegungen des Pluralismusprinzips grundlegend gewesen sei, zeigte sich die Bewältigung des Problems der Dialektik von Einheit und Differenz bspw. in der Zusammenführung der dreizehn unterschiedlichen Kolonien, die sich nach dem Sieg im Unabhängigkeitskrieg (1775-1783) gegen England gelöst hatten und sich nun auf gemeinsame Prinzipien haben verständigen müssen, da sie alle durch unterschiedliche Traditionen und Religionen geprägt waren. Seither sei der Wahlspruch der USA (zu finden auf der Vorderseite des Staatssiegels) – „E Pluribus Unum“ „Aus den Vielen Eins“ – maßgeblich für die geschichtliche Entwicklung gewesen. Die „erste antiimperiale Revolution, der erste erfolgreiche Aufstand gegen den Kolonialismus“ (S. 54f.) habe eine Erfahrung des „In-Freiheit-Handelns“ nach sich gezogen, die sich als „Pathos des Neubeginns“ (H. Arendt, zitiert nach S. Voigt, S. 54) begreifen ließe. Mit dem universalistischen Anspruch der Revolution spiegele sich dieses Bewusstsein in der von Virgil geprägten Sentenz (Vgl. S. 55) des Novus Ordo Saeclorum („Neue Folge der Zeitalter“) wieder (Rückseite des Staatssiegels). Die 1776 ausgerufene Virginia Bill of Rights und die Declaration of Independence sind dem Prinzip nach an einem starken Konstitutionalismus orientiert (Vgl. S. 56f.), der seinen ideengeschichtlichen Ursprung im römischen Konstitutionalismus habe und die Teilung der politischen Gewalten fordere und im Unterschied zum europäischen Staats- und Nationenverständnis, die Rechte der Staatsbürger betone, um sie so gegen die Willkür des Staates zu schützen. Unter Bezugnahme auf die historische Genese der Declaration of Independence, die als Grundlage der amerikanischen Identität und des Nationalismus(13) fungiere, wird sie als „die Materialisierung des Novus Ordo Saeclorum [kursiv wie im Original – Anmerk. Chris]“ beschrieben und zugleich als der Versuch dargestellt „das Problem der Dialektik von Einheit und Differenz zu lösen, indem sie den Pluralismus in das politische System inkorporiert“ (S. 67). Hierbei stellt der Autor immer wieder das Verhältnis von Individuum und Staat in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung, das durch viele einzelbiographische Beispiele explizit gemacht wird, denn viele Einwanderergruppen wollten ihre religiösen und politischen Interessen gegenüber dem Staat durchsetzen. Daraus speiste sich ein spezifisch amerikanisches Toleranzdenken. Davon zeugt beispielhaft die deutsche Einwanderung radikaler Revolutionäre im 19. Jahrhundert, die aufgrund der Verfolgung aus „Deutschland“ fliehen mussten, und sich nach und nach von ihrer politischen Radikalität zugunsten des Pluralismusprinzips abwandten(14). Mit der wachsenden Einsicht in die innenpolitisch drängenden Aufgaben maßen die deutschen Einwanderer ihren radikalen Einstellungen nicht mehr so große Bedeutung bei, was schließlich in der Unterstützung der Abolitionistenbewegung und in der Unterstützung der sklavenfreien Nordstaaten bei den kriegerischen Auseinandersetzungen des Sezessionskrieges (1861-1865) – der übrigens vom Autor mitreißend erzählt wird – resultierte.

Anhand der jüdischen Immigrationswellen wird die Integrationsfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft nochmals sehr evident dargestellt. Da sich die Juden aufgrund der Erfahrung der Diaspora, die durch weltweite antisemitische Verfolgung, Vertreibung und Ermordung gekennzeichnet war, gerade weil sie kein schützenden und Recht setzenden Staat hatten, in Amerika zum ersten Mal sicher fühlen konnten und weder ihre Herkunft noch ihre religiöse Zugehörigkeit zählten, sondern der Umstand, dass sie die Prinzipien der Demokratie achteten, konnten sie sich gegen „viele Widerstände“ behaupten und „sich als Juden und als amerikanische Bürger“ (S. 125) integrieren. An dieser Stelle ist S. Voigt zuzustimmen, wenn er keinen durch den amerikanischen Staat getragenen bzw. forcierten Antisemitismus konstatiert und zugleich diese Voraussetzungen für die Juden, die kein einheitliches Herkunftsland hatten, als die weltweit günstigsten herausstellt. Jedoch müsste ergänzt werden, dass gerade Henry Ford es war, der mit der Herausgabe seiner Schrift „Das Internationale Judentum“ und Verbreitung der „Protokolle der Weisen von Zion“ zur Ausbreitung des nicht-staatlichen Antisemitismus beigetragen hat, der im Buch nur als schlichter Protagonist der Amerikanisierungsbewegung angeführt wird. In seinen Fabriken ließ Ford theatralisch den Melting Pot aufführen, um den Arbeitern neben „mehrmonatigen Englischsprachkursen“ amerikanische Werte und Verhaltensweisen zu vermitteln, „was in diesem Kontext vor allem die Übernahme des industriellen (Arbeits-)Ethos meinte“ (S. 173)(15). Es gelingt dem Autor das amerikanische Selbstverständnis der Mehrheit durch demokratische, tolerante, pluralistische und universalistische Züge darzustellen, sowohl was ihren Ursprung anbelangt als auch ihre heutige Geltung. Daran lässt sich hinsichtlich der in den USA stattfindenden Debatten um die Verschärfung der Einwanderungsgesetze (erinnert sei an die Anschläge des 11.9.2001) ohne weiteres anschließen. Auch für die Integrationsdebatten und die konsequente Bewusstwerdung der europäischen Länder als ebensolche Einwanderergesellschaften kann dieses Buch enorm viel beitragen. An einem Beispiel zeigt sich aber deutlich, dass sich politische Einschätzungen mit der Zeit als falsch erweisen. Die in dem Buch durch Kallen geäußerte politische Einschätzung bezüglich der Schweiz, die als Vorbildfunktion für die USA stehe, hat sich als nicht stichhaltig erwiesen. Es wurde eine Grenze überschritten, als im Oktober 2007 von der staatstragenden Schweizer Partei SVP eine hetzerische Kampagne gegen „Ausländer“ organisiert wurde, die einen tiefen Einschnitt in die einwanderungswillige Demokratie darstellt, und so fraglich wird, ob die Schweiz „die am besten funktionierende Demokratie der Welt“ (S. 184) ist. Denn wie es S. Voigt selbst dargestellt hat, „müssen einer toleranten Haltung dann Grenzen gesetzt werden, wenn die Toleranz zur Umterminierung ihrer eigenen Grundlagen beiträgt.“ (S. 200). Abzuwarten bleibt, ob die Schweiz diesen Drahtseilakt (Vgl. ebd.) ebenso flexibel und integrationsfähig bewältigt wie die USA (Vgl. S. 201). An anderen Stellen im Buch kommt meines Erachtens die wesentliche und kritische Infragestellung einiger schon erwähnter Aspekte zu kurz, die sich jedoch hauptsächlich in Widersprüchlichkeiten bewegen und deshalb so schwierig zu verstehen und einer Kritik zu unterziehen sind. Dem Autor ist zugute zu halten, dass er die Geschichte der Nation von Einwanderern durch eine thematische bestimmte Form zu erzählen versteht, die kaum zur Kenntnis genommen wird. Die weltweit vorherrschenden Ressentiments gegenüber außenpolitischen und innenpolitischen Entscheidungen der USA (Interventionen, Verabschiedung von Gesetzen etc.) trägt vielerorts dazu bei, dass sich blind auf die Seite der antiimperialistischen Feinde geschlagen wird, die doch genau das Gegenteil von dem erstreben, was weltweit die besten Lebensbedingungen heutzutage sind: demokratische Verhältnisse(16).

Die vielen historischen Fakten, die theoretischen Fundamente und die daraus resultierenden Interpretationen geben Anlass über das grundlegende Problem der Moderne der „Dialektik von Einheit und Differenz“ (S. 20) kritisch nachzusinnen, so dass das Buch von S. Voigt abschließend nochmals wärmstens empfohlen sei.

Chris

Anmerkungen

(1) Es stellt eine leicht gekürzte Version der (notabene!) Magisterarbeit dar.

(2) Alle Zitate aus dem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, werden mit Klammer und Seitenanzahl angeführt.

(3) Fragwürdig bleibt im Allgemeinen, ob dem virulenten Antiamerikanismus mit dezidiertem Proamerikanismus argumentativ begegnet werden kann, der, obwohl ein wissenschaftlich neutral geschriebenes Buch vorliegt, an einigen Stellen durchscheint. Denn ebenso wie beim Philosemitismus werden die Eigenschaften von Personen (im anderen Fall von den USA) bewahrt, transportiert, belegt und für gut befunden. Es kommt aber letztlich, wie bei jeder Lektüre, auf das Erkenntnisinteresse der Leserschaft an.

(4) Die Paralellisierung zur zionistischen Exodusgeschichte ist von S. Voigt gut nachvollziehbar dargestellt, gerade bei der Betrachtung der Motive der jüdischen Emigration aus dem durch antisemitische Bewegungen und Staaten gekennzeichneten Europa.

(5) Mit der Entwicklung der pluralistischen Verhältnissen in den USA entstand zwar der Individualismus mit dem Frontier-Gedanken (Vgl. etwa S. 72ff.), dieser stellt sich jedoch nur als schöner Schein auf eine bessere Gesellschaft mit all ihren Idealen dar, da er genuin aus einer fetischistischen Verkehrungsform entspringt und dadurch den bürgerlichen Subjekten das verwehrt, was weltweit durchgesetzt werden müsste: Freiheit. So ist dem Autor an anderer Stelle zuzustimmen, wenn er von der immanenten „Aporie des Universalismus“ (S. 76) spricht.

(6) Diese Unterscheidung zu treffen ist sicherlich richtig, nur sollte man eine grundlegende Kritik nicht aus den Augen verlieren, wenn man sich mit Marx die Morgenröte der kapitalistischen Produktionsära ansieht (Vgl. K. Marx: Das Kapital. Erster Band. S. 779) S. Voigt bezeichnet die Sklaverei als Anomalie in der amerikanischen Gesellschaft, die den Idealen des Landes widerstrebt (Vgl. S. 111). Was aber ist in der kapitalistischen Gesellschaft schon „normal“?

(7) Diese Unterscheidung zum dialektischen Prozess der Aufklärung, wie er in der Dialektik der Aufklärung von Adorno/Horkheimer kritisiert wird, muss hinsichtlich der Möglichkeit des barbarischen Umschlagens eingehender betrachtet werden, da zwar die USA als „angewandte Aufklärung“ (Dahrendorf, zitiert nach S. Voigt, S. 125) und „bürgerliche Gesellschaft par exellence“ (Huntington, zitiert nach S. Voigt, ebd.) vor einem Rückfall in Barbarei gesicherter scheinen (wie der Autor im Bezug auf Adorno gleichfalls exemplifiziert), doch mit dem stetigen Fortwähren der gesellschaftlichen Bedingungen, die den Rückfall zeitigten, ist die Möglichkeit leider nicht ausgeschlossen. Die notwendige politische, ökonomische, militärische Unterstützung Israels – als die „Emanzipationsgewalt“ der Juden, als „Notwehrversuch gegen den Nazifaschismus“ und als der „bewaffnete Versuch der Juden, den Kommunismus lebend zu erreichen“ (Initiative Sozialistisches Forum, Der Kommunismus und Israel) – durch die USA als stärksten Partner weltweit ist begrüßenswert, kann sich aber nach wechselnder geostrategischer Interessenlage ändern, was bspw. die militärische Unterstützung Saudi-Arabiens durch die USA zeigte und in Israel viel Unmut hervorgerufen hat. Dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika der Verantwortung gegenüber Israel dennoch bewusst sind, bezeugt der Besuch Bushs in Yad Vashem, der sich für die Nichtbombardierung von Auschwitz im Zweiten Weltkrieg entschuldigte.

(8) Inwiefern es dem Autor überhaupt um eine philosophische Bestimmung dieses Prinzips geht, das sich praktisch durch eine Dialektik von Einheit und Differenz auszeichne, ist meines Erachtens nicht ganz festzustellen, schließlich werden viele wesentliche Probleme nur sehr marginal erwähnt, die nicht durch die Empirie angegangen werden können. Bspw. fällt auf, dass es im Werk selbst verschiedene philosophie-geschichtliche Traditionslinien sind, die den Autor bewogen haben mögen, ein dialektisches Verhältnis zwischen der amerikanischen Gesellschaftsgenese und der Genese der Begriffe von Staat, Liberalismus, Pluralismus etc. herzustellen. Entscheidend für die pluralistische Konzeption, an der sich das Buch der Überschrift nach orientiert und die gegen Ende ausgeführt wird, bleibt meines Erachtens Horace Meyer Kallen, der den Begriff des Cultural Pluralism prägte und so entscheidend auf die Integrationsdebatten in den USA einwirkte. So entspreche die Kallensche Metaphorik der Symphonie (Chef des Orchesters, Kapellmeister, Komponisten) den „Prinzipien der Demokratie, der Freiheit und der Union. Sie markieren den Rahmen innerhalb dessen die Entfaltung der Kulturen vonstatten geht und sie garantieren die soziale Synthesis, die Dialektik von Einheit und Differenz.“ (S. 186)

(9) Dass nur die Leistung zählte, zeigt die durch den asketischen Protestantismus entspringende Unfreiheit des Menschen bezüglich seiner Lebens- und Denkweise und korreliert so mit den Idealen von Freiheit, die im Buch in dieser Hinsicht widerspruchsfrei betont werden. Das protestantische Arbeits- und Leistungsprinzip, ursprünglich durch M. Luther affirmiert, erfuhr historisch verschiedene Ausprägungen: Den Calvinismus, Pietismus, Methodismus und verschiedene aus der Täuferbewegung hervorgegangene Sekten (Vgl. M. Weber: Der „Geist“ des Kapitalismus und die protestantische Ethik. S. 197)

(10) Im Buch werden zwei Pluralismuskonzeptionen genauer ausgeführt. Zum einen die Konzeption von Israel Zangwill des Melting Pot, dessen Grundlage die Aufführung eines Theaterstück ist und „eine der jüdischen Antworten auf die Herausforderungen zu Beginn des 20. Jahrhundert“ (S. 168) darstelle. S. Voigt fasst sie wie folgt zusammen: „Der Aufgabe der ethnischen und kulturellen Traditionen ist ein produktives Moment inhärent oder, um in der Metaphorik des Schmelztiegels zu bleiben: jedes neu hinzutretende Element modifiziert das Endprodukt des Schmelzprozesses.“ (S. 169) Zum anderen die des Cultural Pluralism (Kallen), der die Diskussion um die kulturspezifische Bewahrung der Identitäten bei gleichzeitiger Aufgabe zugunsten der abstrakten Prinzipien von Freiheit, Gleichheit, Toleranz etc. einleitete. Beiden Theorien seien Prinzipien eigen, die aufgrund ihrer Dynamik niemals zum Abschluss kämen, weil die fortschreitende Immigration in Amerika ein unumstößliches Faktum sei (Vgl. S. 9).

(11) Diese spezifische Kennzeichnung wird von ihm selbst relativiert, wenn er die „tragische Geschichte der Native Americans [kursive Hervorhebung wie im Original – Anmerk. Chris] und“ den langen, „bis heute nicht gänzlich ausgefochtene Kampf um Gleichberechtigung der schwarzen Amerikaner“ (S. 13) erwähnt. Die USA seien eben keine perfekte Gesellschaft und habe mit vielen Problemen umzugehen.

(12) Da nicht alle wichtigen Themen dieses Buches behandelt werden können, und es gibt derer viele, sei hier wohl einer der wichtigsten signifikanten Unterschiede der USA zu Europa mit einem Zitat auf den Punkt gebracht: „Dass die Juden die Möglichkeit hatten, in der Neuen Welt ihre jüdische Identität zu bewahren und gleichberechtigte, anerkannte Staatsbürger zu werden, ist die grundlegende Differenz zwischen Amerika und Europa, wo die rechtliche und politische Emanzipation der Juden an die Aufgabe des Judentums gebunden war.“ (S. 126)

(13) Amerikanischer Nationalismus (oder Patriotismus) wird von den europäischen Nationalismen differenziert und unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht signifikant. So ist der Schwur auf die amerikanische Verfassung gleichbedeutend mit der Anerkennung demokratischer Prinzipien, die Ideale wie Freiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung etc. einfordern und so die amerikanische Identität konstituieren. „Ausgangspunkt des amerikanischen Nationalismus ist also nicht das ethnische Kollektiv, sondern die subjektive Entscheidung des Individuums.“ (S. 88) Bleibt die Frage offen, inwiefern sich nach der (einzelmenschlichen) Erfahrung Auschwitz ein Bruch in der Ausprägung der amerikanischen Identität ergibt, der auch das Pluralismusprinzip als solches nicht unberührt lassen kann. Adorno geht auf diese Erfahrung der Nichtidenität ein, die viele der Kritischen Theoretiker im von den deutschen Nazis erzwungenen amerikanischen Exil an Leib und Seele spüren mussten: „Jeder Intellektuelle in der Emigration, ohne alle Ausnahme, ist beschädigt und tut gut daran, es selber zu erkennen, wenn er nicht hinter den dicht geschlossenen Türen seiner Selbstachtung grausam darüber belehrt werden will.[…]Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog. Die Isolierung wird umso schlimmer, je mehr feste und politisch kontrollierte Gruppen sich formieren, mißtrauisch gegen die Zugehörigen, feindselig gegen die abgestempelten anderen.“ (Adorno, Minima Moralia, Schutz, Hilfe und Rat.) Dieser fundamentalen Erfahrung wird der Autor durch die generelle Kennzeichnung der Emigration meines Erachtens nicht gerecht (Vgl. S. 119).

(14) Dass die radikalpolitischen Flüchtlingen aus Deutschland schnell ihre Radikalität über Bord warfen und sich den realpolitischen Geschehen in den Vereinigten Staaten zuwandten, zeugt von der Nivellierungskraft der amerikanischen Gesellschaft gerade im Bezug auf die Aufgabe der kommunistischen Hoffnungen und dem damit verbundenen Ideal, weltweit Revolution machen zu wollen (Vgl. S. 104), so auch in den USA. Dieser opportune Umstand klingt bei dem Autor überaus positiv an, was hinsichtlich der Befreiung der Schwarzen nachvollziehbar bleibt. Doch die Hoffnung auf eine kommunistische Weltrevolution, getragen durch revolutionäre Subjekte, war vor Auschwitz noch nicht enttäuscht und ließ offen, ob sich die Menschheit doch noch emanzipieren könne. Diese Hoffnung ist nach der barbarischen Erfahrung des NS leider enttäuschter denn je, sollte aber nicht zur Resignation veranlassen und zur Schmähung vergangener Hoffnungen beitragen. Insofern vermisst man schmerzlich nach der plausiblen Darstellung der „egalisierenden Tendenz der amerikanischen Gesellschaft“ (S. 97) eine Kritik derselben.

(15) Dass eine Affinität zwischen der antisemitische Vergötzung der produktiven, „schaffenden“ und industriellen Sphäre und der Ablehnung der unproduktiven, „raffenden“ und zirkulären Sphäre als „jüdische Prinzipien“ besteht, zeigte schon M. Postone in seinem Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Warum aber dann unkritisch am Prinzip des E Pluribus Unum im Fordschen Sinne festgehalten wird, entzieht sich meinem Verständnis, da dieser doch Juden definitiv ausschließen wollte und deren Vernichtung (bewusst oder unbewusst) intendierte. Wahrscheinlich ist hier die nivellierende Kraft der USA so groß, dass die Gesellschaft solche Ideologien und deren Träger marginalisiert und gegen sie mit Vehemenz vorgeht, falls sie zu stark werden. Vielleicht findet es deshalb durch S. Voigt nicht einmal Erwähnung.

(16) „Es empfiehlt sich […] Fortschritt am Gröbsten, Massiven zu fassen: dass keiner mehr hungere, keine Folter, kein Auschwitz sei. Nur dann ist die Idee des Fortschritts der Lüge frei. Er ist keiner des Bewusstseins.“ (Adorno, zit. nach Claussen: Adorno. Ein letztes Genie. S. 400)


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last modified: 23.2.2008