Nach einer Veranstaltung zu dem Buch Spektakel Kunst
Gesellschaft im März 2007 im Conne Island hat die Redaktion des
Conne Island Newsflyers sich mit einer Reihe von Fragen an uns gewandt:
1. Wie steht die SI zu dem Theorem des revolutionären Subjekts?
2. Inwiefern spielt hier das Versagen der deutschen Arbeiterklasse im
Nationalsozialismus eine Rolle?
3. Wie verhalten sich die Positionen des klassischen Marxismus-Leninismus zu
denen der SI? Während der Diskussionsveranstaltung hier im CI wurde [von
BBZN] bemängelt, dass wir zu selten vom Proletariat sprächen.
Warum?
4. Zentrale situationistische Begriffe wie beispielsweise Situation
oder Spektakel, die uns recht unklar sind, könnten
geklärt werden.
5. Wie sahen die Aktionsformen der SI aus, wie können die rekuperierten
Varianten von den authentisch-revolutionären (das ist nicht
ironisch gemeint!) geschieden werden und welchen Erfolg konnten/könnten
sie aufweisen?
6. Inwiefern fand die Kritische Theorie Beachtung von der SI (und vice versa);
gab es inhaltliche Überschneidungen, Kontakte o.ä.; gab es
gegenseitige Kritiken?
7. Gibt es heute noch Strömungen, die den Ideen der SI Gehör
verschaffen und inwiefern positionieren sich diese hinsichtlich weltweiter
globaler Konflikte? Wie relevant war und ist die SI?
8. Sehr freuen würden wir uns auch über eine
Lukács-Rehabilitierung, bzw. eine Vorstellung/Einordnung seines
Spätwerks, das ihr in eurem Buch öfters zitiert und von dem ihr sagt,
es sei in Deutschland viel zu wenig rezipiert worden.
Diese Punkte treffen alle ins Zentrum und wir freuen uns, dass der CEE
IEH-Newsflyer uns nicht nur einmalig Raum zur Beantwortung lässt. Dem
Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe entsprechend, werden wir uns diesmal am
Punkt 3 versuchen, wobei auch andere Fragestellungen notwendig mit eingehen
werden.
Biene Baumeister, Zwi Negator
Die Beschäftigung mit der Revolution in Russland 90 Jahre nach ihrem
Ausbruch und 16 Jahre nach dem Untergang des Staates, der aus ihr
hervorgegangen war, ist mehr dem Kampf gegen den Konformismus geschuldet und
dem Eingedenken der Geschlagenen als dem Bedürfnis nach einer
detailreichen Auseinandersetzung mit einzelnen Fehlern. Die
Revolution muss dem Vergessen bzw. dem Beutezug der Sieger entrissen und
zugleich der grausam-gründlichen Kritik unterworfen werden im
Sinne einer Selbstkritik der proletarischen wirklichen Bewegung,
welche den jetzigen Zustand aufhebt (Karl Marx, MEW 3, S. 35). Für
uns ist jetzt der abgetretene real existierende Sozialismus
Geschichte einer säkularen Niederlage anders war es noch für
die Situationistische Internationale in ihrer Zeit (1957
1972), die sich dem linken Konformismus als vermeintlichem Sieger der
Geschichte unter roten Fahnen und dem Marxismus-Leninismus als seiner
Ideologie des Fortschritts der Geschichte(1)
entgegenstellen musste:
Die Kohärenz dieser Gesellschaft kann nicht verstanden werden ohne
eine totale Kritik, die durch das umgekehrte Projekt der befreiten
Kreativität, der Herrschaft aller Menschen über ihre eigene
Geschichte auf sämtlichen Ebenen erhellt wird. Dies ist die in
Taten umgesetzte Forderung aller proletarischen Revolutionen, eine
Forderung, die bisher stets besiegt wurde von den Spezialisten der Macht, die
die Revolutionen übernehmen und sie zu ihrem Privatbesitz machen. Wenn man
heute dieses Projekt und diese Kritik, die untrennbar sind [da jeder
Begriff den anderen erhellt Anmerkung des Verfassers], wiederaufnimmt (
... ), ist es zuerst notwendig, die Niederlage des gesamten revolutionären
Projekts im ersten Drittel unseres Jahrhunderts in ihrem ganzen Ausmaß
und ohne irgendeine tröstende Illusion zu erkennen sowie ebenso seine
offizielle Ersetzung in jeder Region der Welt wie auch in allen Bereichen durch
einen verlogenen Schund, der die alte Ordnung nur verdeckt und ausstattet. Die
Herrschaft des bürokratischen Staatskapitalismus über die Arbeiter
ist das Gegenteil vom Sozialismus: dieser Wahrheit hat der Trotzkismus nie ins
Gesicht blicken wollen. Sozialismus gibt es nur dort, wo die Arbeiter selbst
unmittelbar die gesamte Gesellschaft verwalten; es gibt ihn weder in Russland
noch in China noch anderswo. Die russische und die chinesische Revolution
wurden von innen besiegt. (...) Die kommenden Revolutionen stehen vor der
schweren Aufgabe, sich selbst zu verstehen. Sie müssen ihre eigene
Sprache völlig neu erfinden und sich gegen alle Rekuperationsversuche
verteidigen, die man für sie vorbereitet... Für die neue
revolutionäre Strömung geht es darum, überall, wo sie auftaucht,
damit zu beginnen, die gegenwärtigen Experimente des Protests und die
Menschen, die sie tragen, miteinander in Verbindung zu setzen. Es wird darum
gehen, die kohärente Basis ihres Projekts gleichzeitig mit diesen
Gruppen zu vereinigen. Die ersten Gesten der einsetzenden revolutionären
Epoche konzentrieren in sich einen neuen offenen oder verborgenen
Inhalt der Kritik an den gegenwärtigen Gesellschaften sowie neue
Kampfformen; wie Gespenster erscheinen in ihnen auch die unreduzierbaren
Augenblicke der gesamten alten, uneingelöst gebliebenen
revolutionären Geschichte wieder.(2)
Es ging somit um Verdrängung und den Kampf dagegen, umstellt waren die
damaligen Feinde des Bestehenden von einem allmächtigen weil
wahren Marxismus (Lenin) als staatlicher Legitimationsideologie
derer, die das Proletariat, seine Geschichte und sein Klassenbewusstsein
bereits ideologisch zu besitzen, zu verwalten und von außen
organisieren zu müssen glauben. Die SituationistInnen haben am radikalsten
mit der Aufhebung dieses fortgeschriebenen Jakobinismus (Avantgardepartei als
volonté générale) in der proletarischen Revolution
ernstgemacht. Deshalb fasst die situationistische Kritik den
sozialökonomischen Weg zum russischen Staatskapitalismus an der Wurzel des
Klassenentwicklungsdilemmas Russlands direkt zusammen mit der Kritik des
falschen, verkehrten Bewusstseins, nämlich als
russisch-rechtgläubige (orthodoxe) Ideologie vom
Marx-Ismus als Berufung der Jakobiner mit dem Volk, an
der Wurzel der russischen Sozialdemokratie:
Lenin war als marxistischer Denker nur der konsequente und treue
Kautskyaner, der die revolutionäre Ideologie dieses
orthodoxen Marxismus unter den russischen Bedingungen anwandte, die
die reformistische Praxis nicht zuließen, welche im Gegenteil von der II.
Internationalen [der westlichen revolutionären
Sozialdemokratie Anmerkung des Verfassers] durchgeführt wurde. Die
äußere Führung des Proletariats, die vermittels einer
den zu Berufsrevolutionären gewordenen Intellektuellen
unterstellten disziplinierten, geheimen Partei handelt, besteht hier in einem
Beruf, der mit keinem Führungsberuf der kapitalistischen Gesellschaft
paktieren will [übrigens war das politische Regime des Zarismus
außerstande, eine solche Öffnung zu bieten, deren Basis in einem
fortgeschrittenen Stadium der Macht der Bourgeoisie besteht Anmerkung
des Verfassers]. Sie wird also zum Beruf der absoluten Führung der
Gesellschaft. (...) Die Organisation des Proletariats nach dem bolshevikischen
Modell, die aus der russischen Rückständigkeit und dem Verzicht der
Arbeiterbewegung der fortgeschrittenen Länder auf den revolutionären
Kampf entstanden war, traf auch in der russischen Rückständigkeit
alle Bedingungen, durch welche diese Organisationsform zu der
konterrevolutionären Verkehrung geführt wurde, die sie bewusstlos in
ihrem Urkeim enthielt (...). Die Ergreifung des staatlichen Monopols der
Repräsentation und der Verteidigung der Macht der Arbeiter, die die
bolshevikische Partei rechtfertigte, ließ sie zu dem werden, was sie
war: Partei der Eigentümer des Proletariats, die die bisherigen
Formen des Eigentums im wesentlichen beseitigte. (Guy Debord, Die
Gesellschaft des Spektakels, §§98,102)
Die Stationen von der Revolution zur Konterrevolution waren nun im
Wesentlichen:
Die Unterdrückung der weitertreibenden Klassenkämpfe des Proletariats
in den Städten um die Räte und der Bauern, die sich zu
selbständigen Aufstandsarmeen mit sozial-revolutionären
Klasseninhalten organisierten. Schon kurz vor dem November-Coup für die
ungeteilte Macht der Sovjets 1917 hatte Lenin wenn nötig auf
Alleinherrschaft der Bolsheviki gesetzt: Russland wurde nach der
Revolution des Jahres 1905 von 130000 Gutsbesitzern regiert ... und da sollten
240000 Mitglieder der Partei der Bolsheviki nicht imstande sein, Russland zu
regieren, es im Interesse der Armen und gegen die Reichen zu regieren! (...)
Zur Verwaltung des Staates in diesem [seinen Erwartungen nach
proletarisch-bäuerlich von unten unterstützten Anmerkung des
Verfassers] Geiste können wir sofort einen Staatsapparat von zehn, wenn
nicht zwanzig Millionen Menschen heranziehen. (Lenin, Werden die
Bolsheviki die Staatsmacht behaupten?)
Damit hatte Lenin aber in der Hauptsache die Millionen vom Zarismus
hinterlassener Beamten, Staatsangestellten, Offiziere, Spezialisten der
Verwaltung usw. im Auge. Um diese an die proletarische Kandare zu
nehmen, setzte der Jakobiner-mit-dem-Volk auf die zu
übernehmende kriegswirtschaftliche Maschine dieses
bürgerlich-zaristischen Gemischs, des großrussischen
Staatsapparats.
Doch konnte effektiv höchstens ein Drittel bis ein Viertel der
Nahrungsmittelversorgung der Städte über das staatliche
Getreidemonopol, d.h. die Lebensmittelkarten laufen und demnach drei Viertel
notgedrungen nur über den direkten Handel bzw. Austausch mit den Bauern,
jetzt als Meshtshnitchestvo, Schwarzhandel und
Spekulation, gefährlich gemacht. Schon im Winter 1917
streikten fast alle: außer den städtischen Angestellten,
Bankangestellten, denen der Verkehrs- und Versorgungsbetriebe, dem
Krankenhauspersonal, den LehrerInnen und Universitätsdozenten sowie
Ingenieuren auch die Arbeiter in vielen Industriebetrieben, wobei letztere in
großer Zahl aufs Land, an die Requirierungsfront und bald an die
Bürgerkriegsfronten gingen. Die Bolsheviki gaben jedem einzelnen
Kommandeur, Leiter und Beauftragten daraufhin diktatorische Vollmachten, denn
die Aufrechterhaltung der Großproduktion erfordert, so machte
Lenin, marxistisch Staatskapitalismus und Kriegskommunismus
zugleich denkend, geltend, die unbedingte Unterordnung der Massen
und den einheitlichen Willen der Leiter des Arbeitsprozesses
(Lenin). Etwas später forderte Trotzki konsequent die
Militarisierung der Arbeit.
Die Bauernbevölkerung, welche die Weiße Konterrevolution abgewehrt
und die Hungerkatastrophe ab 1920 durch passiven Widerstand gegen
die bolshevikischen bewaffneten Requirierungskommandos zu überleben
versucht hatte, organisierte sich zunehmend im organisatorischen Rahmen der
anarchistischen und sozialrevolutionären Gruppen, die hier und dort zu
Bauernarmeen anwuchsen, zu denen teilweise ganze Einheiten der Roten Armee
übergingen (deren Basis ja aus dem Typus des Burschen vom Dorf
bestand). Außer der anarchistischen Makhno-Bewegung in der Ukraine, die
den Bolsheviki militärisch die Kastanien aus dem Feuer holte und
dafür anschließend von ihnen vertragsbrüchig bekriegt wurde,
sind andere dieser revolutionär-bäuerlichen Aufstandsbewegungen
bislang nur ihrer Existenz nach, aus den TsheKa -berichten bekannt: z.B. unter
Führung des Sozialrevolutionärs Antonov im Gouvernement Tambov, im
Wolga-Gebiet, am Kuban, in Karelien oder in Sibirien. In diesem von der
Weltöffentlichkeit kaum registrierten russischen Bauernkrieg stellten die
Bolsheviki (aktenkundig) fest, dass die Mehrzahl der männlichen und viele
weibliche Dorfbewohner in diesen Gebieten Bandenmitglieder waren,
so dass sie eine Zentralkommission für Bandenbekämpfung
einsetzten, um die Exekutionen, Geiselnahmen und Deportationen von
Dorfbevölkerungen effektiv zu leiten.
Trotz der schweren Strafen für Rädelsführer kam es
Anfang 1921 überall auch zunehmend zu Streiks der Arbeiter, und als diese,
nach dem Regierungserlass vom 22.1.1921 über die Kürzung der
Brotration für Arbeiter um ein Drittel, an den Rand eines Generalstreiks
führten, musste das Regime in Petrograd den Ausnahmezustand
verhängen. Wie im Oktober/November 1917, so verhielt sich jetzt der Sovjet
von Kronstadt einschließlich seiner bolshevikischen Mitglieder
in der neuen revolutionären Situation als Wortführer und
Vorhutabteilung der Räte in ganz Russland: Im Sinne einer dritten
Revolution des Proletariats und der Landarmut forderte sein Programm
gegen die Alleinherrschaft einer Partei Alle Macht den Räten, nicht
den Parteien!: Die Wiederherstellung und ungeteilte Macht der Sovjets,
allgemeine, gleiche und geheime Neuwahlen zu den Sovjets, da die
gegenwärtigen Räte nicht den Willen der Arbeiter und Bauern zum
Ausdruck bringen, Rede- und Pressefreiheit auch für
anarchistische und linkssozialistische Parteien, Wiederherstellung der
ursprünglich in der Oktoberrevolution errungenen politischen und
gesellschaftlichen Freiheiten, freie Bearbeitung des Bodens durch die Bauern
ohne staatliche Zwangsablieferungen und Beschränkungen,
u.a.(3)
Die Reaktion der Bolsheviki ist (hier wieder von Victor Serge, der selber bei
den Verhandlungen bzw. ihrem Nichtzustandekommen zwischen Bolsheviki und
Kronstadter Sovjet dabei war) eindeutig bezeugt: vor dem im März 1921
abgehaltenen 10. Parteitag der Bolsheviki bezeichnete Lenin diesen
Aufstand als gefährlicher als alle Weissen Armeen ...
zusammen. Die vom Kronstadter Sovjet gesuchten Verhandlungen
zwecks einheitlichem Vorgehen, trotz aller innersovjetischen
Widersprüche, gegen die wirkliche Konterrevolution wurden von der
Spitze der Bolsheviki absichtlich vereitelt, und Serge berichtet: In
diesen schwarzen Tagen sagte Lenin wörtlich zu einem meiner Freunde:
Das ist der Thermidor. Aber wir werden uns nicht guillotinieren lassen.
Wir machen selbst Thermidor.(4). Trotzki selbst
leitete die Niederschlagung des zum objektiv konterrevolutionären
Sovjet (Trotzki) erklärten Kronstadts mit einer brutalen
Übermacht und brachte gleich die Exekutionskommandos der TsheKa mit, wobei
seine letzte Drohung überliefert ist: Wir werden euch abknallen wie
die Karnickel. Diese bolshevikische Lösung der Sovjetfrage, und
zugleich die Übernahme der revolutionär gerichteten
Forderung der Bevölkerung, der echten Sovjetbewegung, nach Ende des
Kriegskommunismus zum Schein durch das Regime selbst,
leitete unmittelbar den 10.Parteitag ein, der die Neue
Ökonomische Politik, d.h. den offenen, schamlos so genannten
Staatskapitalismus verkündete. Statt der bisherigen Zwangsrequirierung
wurde den Bauern jetzt eine Naturalsteuer auferlegt, das
Kaudinische Joch (so hatte Marx die kapitalistische
Akkumulationsperspektive für Russland genannt) wurde taktisch ein wenig
gelockert. Dafür wurde der Weg nun endgültig zu Ende gegangen (zehn
Jahre zuvor sprach Lenin ja immerfort vom proletarischen Vorwärtstreiben
der Demokratie bis ans Ende!), den die
Lenin-Trotzki-Sinovjev-Stalin-Riege der Bolsheviki erst außerhalb und
dann innerhalb der eigenen Partei Schritt für Schritt, Schlag für
Schlag durchgesetzt hatte: Zuerst die faktische Entmachtung der Sovjets und der
Fabrikkomitees, dann in den Reihen der Bolsheviki die Unterdrückung der
Linken Kommunisten 1918, der Demokratischen
Zentralisten 1919, schließlich der Arbeiteropposition
1920/21 so erfolgte der organische Übergang vom Leninismus zum
Stalinismus über die sukzessive Erweiterung des Fraktionsverbots. Dazu die
situationistische Zusammenfassung lapidar:
Lenin hatte gegenüber seinen Gegnern jedesmal insofern recht, als er
die Lösung unterstützte, welche die vorangegangenen Entscheidungen
der minoritären absoluten Macht implizierten: die den Bauern
staatlich verweigerte Demokratie musste auch den Arbeitern verweigert
werden, was darauf hinauslief, sie auch den kommunistischen
Gewerkschaftsführern und in der ganzen Partei und
schließlich bis hoch in die Spitze der hierarchischen Partei zu
verweigern. Auf dem 10. Parteitag, im selben Moment, in dem der Sovjet von
Kronstadt mit Waffengewalt niedergeschlagen und unter Verleumdungen begraben
worden war, kam Lenin in der Auseinandersetzung mit den linksradikalen
Bürokraten, die in der Arbeiteropposition organisiert waren, zu dem
Schluss, dessen Logik Stalin bis hin zu einer vollkommenen Teilung der Welt
fortführte: Hier oder dort mit einem Gewehr, aber nicht mit der
Opposition ... Wir haben genug von der Opposition.
(GdS§103)
Diese Arroganz der Macht wird von den SituationistInnen als
totalitär bezeichnet. Dieser Gebrauch des Begriffs
totalitär (nur ausnahmsweise aber der Formel
Totalitarismus,(5) so in GdS§109) im Kontext
einer historisch-materialistischen Analyse des Stalinismus bedeutet hier
keinesfalls eine Gleichsetzung oder gar Relativierung des Faschismus und
deutschen Nationalsozialismus im Verhältnis zum Staatskapitalismus bzw.
Staatssozialismus vom stalinistischen Typus, auch dort wo es den
SituationistInnen darauf ankommt, das konterrevolutionäre Zusammenwirken
beider, gipfelnd z.B. im Hitler-Stalin-Pakt, aufzuzeigen. Stattdessen dient die
Kennzeichnung totalitär der Herausarbeitung des
konzentrierten Spektakels, wie es sich aus der spezifischen
Herausbildung des modernen Spektakelwesens (GdS§109)
ergeben hat.
Wir erinnern an die grundsätzliche situationistische Bestimmung: Das
Spektakel ist das Kapital, das einen derartigen Akkumulationsgrad erreicht hat,
dass es zum Bild wird. (GdS§34). Dem entspricht eine
Ausdifferenzierung der historischen Formen kapitalistischer Warenproduktion als
zugleich Bilderproduktion einschließlich ideologisch-homogenisiertem
Weltbild:
Während der entwickelte Kapitalismus der westlichen Welt das diffuse
Spektakel herausbildet auf der industriellen Basis der
Henry-Ford-Ära kann sich im Osten, um die SU herum, eine
staats-sozialistisch gelenkte Warenproduktion auf der Basis einer
ebenfalls von ihren Produktionsbedingungen enteigneten, von ihrer Arbeit
entfremdeten wie nicht-freien Lohnarbeit, einer neuen Art Mehrwert
produzierender Staatssklaverei, aufbauen, deren nachholender
Staatskapitalismus oder bürokratischer
Kapitalismus sich zugleich ideologisch als die
Systemalternative und als immerhin real existierender
Sozialismus legitimiert.(6) Die sovjetische stalinistische
Ideologie ist, da sie zutiefst in der marxistischen russifizierten
Orthodoxie (als einer Art säkularisiertem
Cäsaro-Papismus) wurzelt, hochideologisch-spektakulär, d.h. sie
produziert im Massenumfang die Ware revolutionäre Ideologie
als Bild des Sozialismus, der noch gar nicht existiert. Der
Unterschied zwischen leninistischer und stalinistischer
revolutionärer Ideologie liegt immerhin darin, dass Lenin noch
offen und nüchtern gerade in seinen letzten Aufzeichnungen(7) vom
realen Staatskapitalismus (Lenin) sprach und sich klar darüber
Rechenschaft ablegte, dass es mit dem Aufbruch, in Russland mit dem
Aufbau des Sozialismus zu beginnen, fürs erste nichts geworden war.
Was nicht hieß, dass man nicht illusionslos das beste daraus machen
konnte, bis das Weltproletariat endlich wieder soweit wäre. Dagegen
wurde in der ganzen Stalin-Ära, aber auch von Trotzki, so getan, als
existiere in der total herrschenden SU-Bürokratie das Ebenbild des
sozialistischen Proletariats obzwar mehr oder weniger
verfälscht, ob als Arbeiter-und-Volks-Staat ohne Bourgeoisie
(so die Stalinsche Verfassung 1936) oder als deformierter
Arbeiterstaat (wie in der Fiktion der meisten Trotzkisten bis heute)
jedenfalls irgendeine Form, ja die einzig reale
Existenzweise des Sozialismus, die jeder anständige Mensch auf
der Welt bedingungslos jederzeit zu verteidigen hätte. In der
situationistischen Deutung handelt es sich bei dem stalinistischen
Gesellschaftssystem um den Totalanspruch des ideologischen i.S.v.
falschen, verkehrten Bewusstseins über die ganze Gesellschaft.
Dies nicht einfach bloß als normaler Common Sense der herrschenden
Ideologie als Ideologie der herrschenden Klasse im ganzen Alltagsbewusstsein,
wie es in den entwickelten bürgerlichen Gesellschaften sowieso dem
stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse (Marx)
entspricht, sondern als konstitutiver Hebel und ständig neu gewaltsam
herzustellendes sozialökonomisches Moment der ökonomischen Basis
selbst: Denn die machthabende totalitär-ideologische Klasse
(GdS§106) stellt als Resultat der steckengebliebenen kommunistischen
Revolution eine sozialistische und proletarische
autonome Macht der Bürokratie dar, die als einzige Eigentümerin
eines Staatskapitalismus übriggeblieben war
(GdS§104). So umstritten und fraglich der Hilfsbegriff
Staatskapitalismus auch nach wie vor bleiben muss(8), so
setzt ihn die situationistische Analyse ausschließlich radikal zur
Bestimmung des Klassenverhältnisses zwischen Arbeitenden und Ausbeutenden
in der SU ein. Im Kern handelt es sich um das, was Marx schon im
kommunistischen Manifest als Bourgeoissozialismus (Marx)
gekennzeichnet hat, was damals aber eben nur als Idee in den Köpfen
deutscher Sektierer herumgeisterte. Nun erhob dergleichen 60 Jahre später
mit den NEP-Leuten(9) und der Entstehung einer ebenso
philiströsen wie brutalen neuen Klasse im Stalinismus in
ungeahnter Monstrosität sein hässliches Haupt:
Unter Veränderung der materiellen Lebensverhältnisse versteht
dieser Sozialismus aber keineswegs Abschaffung der bürgerlichen
Produktionsverhältnisse, die nur auf revolutionärem Wege möglich
ist, sondern administrative Verbesserungen, die auf dem Boden dieser
Produktionsverhältnisse vor sich gehen, also an dem Verhältnis von
Kapital und Arbeit nichts ändern (...) Freier Handel! im Interesse der
arbeitenden Klasse; Schutzzölle im Interesse der arbeitenden Klasse,
Zellengefängnisse! im Interesse der arbeitenden Klasse: das ist das
letzte, das einzig ernstgemeinte Wort des Bourgeoissozialismus. Der Sozialismus
der Bourgeois besteht eben in der Behauptung, dass die Bourgeois Bourgeois sind
- im Interesse der arbeitenden Klasse. (Marx, MEW 4, S.489) So geht es
dann im realexistierenden Sozialismus, von den ideologischen
Schranzen bis heute umstandslos gleichgesetzt mit einer angeblichen
Übergangsgesellschaft vom Kapitalismus zum Kommunismus, die
indessen selbst bereits Sozialismus = erste Phase des Kommunismus
sei, eben je länger je intensiver um eine sozialistische
Warenproduktion, sozialistisches Kapital und
sozialistische Gewinnmaximierung, sozialistische
Lohndifferenzierung und sozialistischen Wettbewerb à
la Stakhanov-Kampagnen. Eine Politische Ökonomie des
Sozialismus wurde ausgearbeitet, um durch materielle und ideelle
Stimuli die ArbeiterInnen, diese Objekte einer künftigen
Stalino-Kybernetik (so die SituationistInnen in den 1960ern),
tayloristisch zwecks sozialistischer Mehrwertsteigerung zu
traktieren. Und für alle und jede realsozialistische
Scheußlichkeit und Menschenschinderei gibt es die Generalklausel der
revolutionären Ideologie: das alles sei der einzig
mögliche Weg zum Kommunismus, weil der Staat als ideeller
Gesamtkapitalist (Marx), sprich: die Partei, sprich: ihre Ideologie -
eben nun einmal apriori als proletarischer und sozialistisch-kommunistischer
Repräsentant gesetzt ist.
Dieses fundamentale Enteignungs-, Entfremdungsverhältnis von ArbeiterIn
und Arbeitsbedingungen, gesellschaftlichen Produktions- und Lebensmitteln gilt
der situationistischen Kritik jedoch klassenanalytisch darüber hinaus
in Hinblick auf die Realität einer neuen Bourgeoisie
im Kern als die letzte Realität der Bürokratie: sie ist
die Fortsetzung der Macht der [politischen Anmerkung des Verfassers]
Ökonomie, die Rettung des Wesentlichen der Warengesellschaft durch die
Aufrechterhaltung der Arbeit(skraft) als Ware (...) was mit anderen Worten
heißt, dass die Bourgeoisie eine autonome Macht geschaffen hat, die,
solange diese Autonomie besteht, so weit gehen kann, dass sie ohne Bourgeoisie
auskommt. Die totalitäre Bürokratie ist (...) lediglich eine
herrschende Ersatzklasse für die Warenökonomie. Das schwach
entwickelte kapitalistische Privateigentum wird durch ein vereinfachtes, nicht
so sehr verschiedenartiges als vielmehr ein als kollektives Eigentum der
bürokratischen Klasse konzentriertes Nebenprodukt ersetzt. Diese
unterentwickelte Form einer herrschenden Klasse ist zugleich der Ausdruck der
wirtschaftlichen Unterentwicklung und kennt nur die Perspektive, diesen
Entwicklungsrückstand in bestimmten Gegenden der Welt einzuholen.
(GdS§104)
Teil II folgt in der nächsten Ausgabe.
Anmerkungen
(1)
Vgl. Walter Benjamins materialistisch-historische Kritik Über den
Begriff der Geschichte, zuerst bekannt gemacht in Frankreich 1946 durch Pierre Missac.
(2) Situationistische Internationale: Adresse an die Revolutionäre Algeriens
und aller Länder. Juli 1965, dt. in: S.I. Nr. 10, 1966, Hamburg 1977,
189-194 bzw. Der Beginn einer Epoche, Hamburg 1995, 184-188.
(3)
Vgl. Koenen, Gerd: Der unerklärte Frieden. Deutschland, Polen und
Russland. Eine Geschichte. Frankfurt. a. M. 1985.
(4)
Victor Serge, Erinnerungen eines Revolutionärs, S. 150. Der
Thermidor war der Sturz des revolutionären Jakobiner-Regimes im Juli 1794
durch die konterrevolutionäre, aber schon großbürgerliche
Verschwörung. Deren nächste Stationen waren Bonapartes Staatsstreich
im Brumaire, 9.11.1799, und seine Kaiserkrönung als Napoleon I. 1804.
(5)
Eine weiterführende Kritik der Totalitarismustheorie liefert Gerhard Scheit. Er zeigt, dass die nachholende Modernisierung
der Sovjetunion eine Affinität zu absolutistischen Staatsgebilden aufweise, während der
Nationalsozialismus sein heimliches Vorbild in der und gegen die bürgerliche(n) Revolution(en) finde. (Gerhard
Scheit, Zweierlei Modernisierung. Thesen über Stalinismus und
Nationalsozialismus, in: Mülltrennung, Hamburg 1998, S. 11-23)
(6) Der Mittelweg des großeuropäischen Projekts Deutsches Reich ist auf andere Weise industriell voll entwickelt modernisiert,
weltherrschaftsgeil zu kurz gekommen usw. zum konzentrierten Spektakel aufgelaufen, jedoch wesentlich archaischer, regressiver als die sozialistische SU-Ideologie: Der deutsche NS-Faschismus wie schon sein italienischer
Vorläufer und deren sonstige faschistischen Varianten gelten den
SituationistInnen als der technisch ausgerüstete Archaismus (d.h. Primitivismus, Rückgang auf alle mögliche Barbarei),
dessen gewaltsame Auferstehung und verfaulter Ersatz des Mythos einer Gemeinschaft noch nicht einmal mehr den Rang einer Herrschaft der Ideologie besitze.
(7) Lenin, Über unsere Revolution und Lieber weniger, aber besser von 1923.
(8)
Der Begriff kann zumindest zunächst nicht erklären, wo bei dieser Art gesamtgesellschaftlichem Monopol die Konkurrenz zwischen
den Einzelkapitalen am Werke ist, ohne die nun einmal von Kapitalismus nicht die Rede sein kann (Vgl. grundsätzlich hierzu Marx, MEW 42,
S. 327f. und 427f.). Zusammenfassend Michael Mauke: Ein System, das die
Konkurrenz der Kapitalien prinzipiell beseitigt, hat den Kapitalismus
überschritten. (Mauke, 1970, S.76) Aber wohin etwa automatisch schon in
den Sozialismus?! Vielleicht ist die treffendste Annäherung an die
Lösung dieses Problems der notwendigen Repulsion der Kapitalien
voneinander das Wort des kommunistischen Stalinismuskritikers Boris Souvarine von
der Anarchie des Plans in der SU-Ökonomie. Zugleich wäre der Überlegung von z.B.
G. Scheit zu folgen, der hier das Bild des merkantilistischen Staates stark
machen würde. Auf deutsch und russisch ist es das Fichteanische Modell vom
Geschlossenen Handelsstaat, in der historischen Realität etwa die petrinische
Krücke (Marx, MEW 42), also die Modernisierungsversuche staatlicherseits durch
Zar Peter den Großen. Für den Situationisten Debord war vor allem,
auch späterhin, die Deutung der SU-Gesellschaft durch Bruno Rizzi
relevant.
(9)
Die NEP (Neue Ökonomische Politik) löste den zuvor auf
Requirierungen beruhenden Kriegskommunismus ab.
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