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Dancehallmania

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Das Bedürfnis nach Authentizität sollte an Grenzen stoßen.

Daß über Dancehall parallel zum momentanen Hype eine ebensolche Auseinandersetzung geführt wird, kann nicht gerade behauptet werden. Im Gegenteil, weitverbreitet „grassiert (...) über das vermeintliche Phänomen Dancehall-Rezeption in Deutschland die explizite Stupidness“.(1) Dancehall im deutschen Wohnzimmer reduziert sich entweder auf tighte Beats und eine möglichst nahe 1:1 Adaption mit hohem Authentizitäts-Faktor oder auf eine karibische Fernwehmentalität. Es geht halt drum, die Party-Crowd zu kicken. Außer Arsch-wackeln nichts gewesen, oder?

Was im Dancehall-Mekka Hamburg vielleicht ansatzweise vor vielen Jahren, angeregt durch diverse Diskurse in Spex und Beute noch praktiziert wurde, heutzutage nur noch einen Nebensatz wert zu sein scheint, ist auch in Leipzig beflissentlich verschlafen worden. Weder von Machern noch von Konsumenten werden die Konflikte, die sich auftun, wenn die Spezifik eines der ärmsten Länder der Karibik auf mitteleuropäische Verhältnisse übertragen wird, in die Gehirrnwindungen gelassen, geschweige denn transparent gemacht. Anstelle dessen bedienen sich die Protagonisten der Szene der jamaikanischen Standards, angefangen von der Benutzung der Slackness-Sprache bis hin zu Kleidung; Gestus, Codes etc., typische Dinge eben, die bei der Reduktion von jamaikanischer Realität auf die Subkultur-Romantik weißer, mittelständischer Deutscher nicht ausbleiben können. Zu allem Überdruß wird das ganze medial maßlos überbewertet und erfährt, ähnlich wie beim HipHop, die nicht ausbleibende nationale Zuschreibung.(2)

Vom Beispiel zum Konkreten. Wenn der Selecta, sei es im Conne Island oder im Kosmophon, Buju Bantons Murderer auf die Plattenteller wirft, brennt der Saal. Die wenigsten wissen bescheid über die Tragweite dieses Stückes. Als Verabschiedung von den typischen Sex- und Gunlyrics erlangte Murderer ebenso Symbolkraft als auch Wiedergutmachungs-Charakter: Ein Jahr zuvor hatte Buju Banton mit Boom Bye Bye eine Morddrohung an Lesben und Schwule an das Ende der Platte gesetzt. Ein Wandel, der eher die Ausnahme bildet – homophobe Männlichkeit und Potenzgeprotze gegenüber Frauen gehören mehr oder weniger zum guten Ton. Sozusagen als Schrumpfform der Oral History, als Reduktionismus einer sich allmächtig fühlenden Männlichkeit. Dancehall ist eine male-dominated world – das mag im Pop nichts besonderes sein – doch selbst im Vergleich zu HipHop ist hier die Geringschätzung von Frauen um vieles unmittelbarer und triumphierender. „Was sich in der Figur des Batty Boy (jamaikanischer Patois für schwul) artikuliert, ist nicht nur die heterosexuell-männliche Furcht vor einer vermeintlichen Effermierung, sondern ein Knoten aus Geschlecht, Ethnie und Klasse.“(3) Der Zusammenhang von gesellschaftlich und gesetzlich geächteter Homosexualität, und eines extrem konservativen und reaktionären „cultural pride nationalism in dessen Zentrum der Black Man steht“(4) erscheint da mehr als immanent. Rückzugsgebiet ist immer die kulturalistische Definition karibischer Identität

Widerstand, wie sollte es auch anders sein, regt sich nicht etwa in Jamaika, sondern vornehmlich in den afro-britischen und amerikanischen Communities. Die Zumutbarkeitsgrenze für moderne und emanzipierte ‘schwarze’ Frauen hinsichtlich der sexuellen Phantasien jamaikanischer Männer sei erreicht, ähnlich argumentieren auch Gay-Gruppen. Von Erfolg gekrönt waren die Aktionen eher auf einer symbolischen Ebene: Piratenradios boykottierten homophobe Songs, britische und amerikanische Majors verzichteten bei lizensierten Veröffentlichungen und Samplerbeiträgen auf Stücke mit ‘sexual explizit material’.

Backspin. Was die Spex in ihrer „Auseinandersetzung“ mit Dancehall in Deutschland lapidar als Wertekollision bezeichnet, sollte zumindest in linksradikalen Zusammenhängen, ähnlich wie beim Signyfiying-Rollenspiel im HipHop, nicht einfach unter einen ‘multikulturalistischen’ Teppich gekehrt werden. Das heißt, wenn bei Tolgas Video die Ärsche und Titten wackeln, muß man das Scheiße finden, genauso wie wenn die Rotzlöffels halbnackte Dancehall-Queens in Fick-mich-Pose auf ihren Flyern abbilden. Die Zeiten, in denen sowas mit Dekonstruktion und ironisch-identitärer Selbszuschreibung zurechtgebogen wurde, sollten eigentlich der Vergangenheit angehören.(5) Das kritiklose Feature um Dancehall, insbesondere hinsichtlich der Adaption von Credibility einschließlich homophober und frauenverachtender Versatzstücke, als Diskurs abzutun, weil es eben jamaikanisch meint, wird sich als Sackgasse erweisen. Es soweit kommen zu lassen wäre fatal.

Lars

Platte, 15.2k

Fußnoten:
(1) siehe auch in: CEE IEH Nr. 69 „Viel sensibler werden“ von Ralf.
(2) Die Spex übertitelte in ihrer Juni Ausgabe ein Special über Dancehall mit „Brennzeichen D – Clash der Kulturen“ und frohlockt in der Bilanzierung der neuen deutschen Reggae-Identität.
(3) Tobias Nagl: „Return of the living Dread“, in: Beute 2/96.
(4) siehe Günther Jacobs „Wicked in Bed. Der Amoklauf heterosexueller Männer“, in: Agit Pop. Schwarze Musik und weiße Hörer. Berlin 1993.
(5) bestes Beispiel der aktuelle „Eminem-Diskurs“ in: CEE IEH 68 „How you look at it“ von Paul.


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last modified: 28.3.2007