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Subidiotikon
Neues vom Untergrundwortschatz
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Gavlyn, Oh Blimy
Crown the Empire
Curse
Acid on the Low
Chelsea Grin
Klub: Sonntag!
Deerhoof
Betraying the Martyrs
SleepIn Island
Electric Island: Map.ache
Sleepmakeswaves
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Kiez sweet Kiez
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• doku: Aktueller Revisionismus
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Macheten und Pop-Musik

Über das Buch und Theaterstück »Hate Radio« sowie den Genozid in Ruanda von Bruno Berhalter

Milo Rau, Autor und Herausgeber von Hate Radio, hätte für sein Theaterstück und Buch wohl kaum einen passenderen Titel auswählen können. Denn es geht in seinem Werk im Prinzip um zwei Dinge: Hass und Radio. Beides vereinigt sich zu Beginn der 1990er Jahre in der ruandischen Rundfunkstation Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM), der eine mitbestimmende Rolle am Genozid in Ruanda zukam.
Basierend auf der Geschichte und Funktion des Radiosenders RTLM im ruandischen Genozid inszenierte Milo Rau 2011 ein Theaterstück. Anschließend verdichtete Rau das Stück, dessen Zustandekommen sowie den politischen Hintergrund zu einem kleinen Sammelband und veröffentlichte diesen 2014 im Verbrecher Verlag – quasi als Buch zum Schauspiel. Im Sammelband Hate Radio kommen verschiedene am Theaterstück Hate Radio beteiligte Personen zu Wort. Ich werde mich nachfolgend hauptsächlich auf das Buch Hate Radio beziehen. Es wird aber auch um das Theaterstück gehen, welches zentraler Bestandteil des Buches und in diesem vollständig abgedruckt ist. Das Theaterstück wurde 2011 in Ruanda im ehemaligen Studio des Senders RTLM uraufgeführt. Anschließend tourte es durch mehrere europäische Länder. Ich habe Hate Radio in Basel gesehen.
Im Artikel werde ich historisch weit ausholen müssen. Zum einen, weil das Buch und Stück Hate Radio nicht ohne das Wissen um den Genozid in Ruanda zu denken ist. Zum anderen, weil dieses Wissen in Europa schwach ausgeprägt ist.

Genozid in Ruanda
Vor 20 Jahren fand im kleinen afrikanischen Bergstaat Ruanda der umfassendste und grausamste Genozid nach 1945 statt. Unbeachtet von der Weltöffentlichkeit wurden 1994 knapp eine Million Ruanderinnen und Ruander innerhalb von nur drei Monaten umgebracht. Die Dimension der Grausamkeit des ruandischen Genozids kann man anhand der Fakten versuchen zu begreifen: 10.000 Tote pro Tag, ermordet hauptsächlich mit Macheten und einfachen Schusswaffen, auf einem Gebiet, das halb so klein wie die Schweiz ist. Es ist erschreckend wie wenig Worte Lennart Laberenz für den einleitenden Text des Sammelbandes Der Ruandische Genozid 1994 benötigt, um die Brutalität des Genozids zu charakterisieren:
»Nyanza, heute ein südlicher Vorort von Kigali: Ab dem 11. April 1994 werden ca. 2.000 Menschen in einer Schule umgebracht; Gahanga, ein Flecken auf beiden Seiten der Straße: Etwa 6.000 Menschen werden [...] massakriert; Ntarama, ein Weiler im Wald: Ab dem 15. April werden etwa 5.000 Menschen in einer winzigen Kirche aus roten Ziegeln zerhackt, Nyamata, die Distrikthauptstadt: nach dem 10. April werden fast 10.000 Menschen in der katholischen Kirche umgebracht.«
Und weiter schreibt Laberenz:
»Der Massenmord war Handarbeit und geschah im Schichtdienst: Junge Männer standen früh auf, stärkten sich mit Grillspießen und Bier, brachten ihre Macheten und altertümlichen Jagdwaffen mit. [...] Im weiß gekacheltem Mausoleum der ehemaligen Kirche von Nyamata stand ein Sarg mit einer Frau, deren Körper von der Vagina aufwärts komplett mit einem Speer durchbohrt worden war.«
Ausgelöst wurde der ruandische Völkermord im April 1994 durch den Abschuss des Präsidentenflugzeuges über dem Stadtgebiet der ruandischen Hauptstadt Kigali. In dessen Folge brach sich ein lange schwelender Konflikt zwischen sogenannten Hutu- und Tutsi-Ruandern(1) Bahn. Bei dem später als 100 Tage von Ruanda bezeichneten Gemetzel töteten Mitglieder der Hutu-Bevölkerungsmehrheit einen Großteil der Tutsi-Bevölkerungsminderheit – aber auch politisch gemäßigte Hutu und Mitglieder der Twa, einer weiteren sozialen Gruppe.
Selbstverständlich war der Völkermord in Ruanda multikausal. Lange Zeit galt der andauernde Machtkampf zwischen der – vereinfacht formuliert – sozial besser gestellten und herrschenden Tutsi-Minderheit und der sozial schlechter gestellten Hutu-Mehrheit als Ursache. Dieser Konflikt hatte seinen Ursprung in der vorkolonialen Verteilung von Viehzucht (Tutsi) und Ackerbau (Hutu) und der damit verbundenen wirtschaftlichen Macht der Tutsi. Die eigentliche Triebkraft für den gegenseitigen Hass und den schon in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren aufflammenden gewalttätigen Rassismus brachte aber der Kolonialismus. Als Teil Deutsch-Ostafrikas unterstand Ruanda ab 1890 dem Deutschen Reich. Mithilfe pseudowissenschaftlicher Erklärungen rassifizierten die Deutschen die Tutsi und Hutu als ethnische Gruppen und in diesem Zusammenhang die Tutsi als den Hutu biologisch überlegen. Die Deutschen betrachteten die Tutsi daher als einheimische Elite und Partner und banden sie in ihre Kolonialverwaltung ein. Infolge des Ersten Weltkrieges musste sich das Deutsche Reich aus seinen Kolonien zurückziehen und Ruanda kam unter belgische Verwaltung. Die führte die rassistische Unterscheidung und Hierarchisierung der ruandischen Bevölkerung fort und schrieb die Rassifizierung der Ruander und Ruanderinnen in Tutsi, Hutu und Twa 1933 durch Ausweispapiere mit entsprechend angezeigter Ethnien-Zugehörigkeit fest. Aus einem sozioökonomischen Konflikt hatten die Kolonialmächte einen rassistischen Konflikt gemacht. Im Zuge der Dekolonialisierung Ruandas erlangten die Hutu mehr und mehr die politische Macht im 1962 unabhängig gewordenen Ruanda. Viele Tutsi flohen schon seit Ende der 1950er Jahre in die Nachbarländer Uganda, Burundi und teilweise Zaire(2), wo sie Exil-Organisationen gründeten und von wo aus sie Guerilla-Angriffe auf Ruanda starteten. Zwischen 1959 und 1994 wurden die in Ruanda verbliebenen Tutsi sowie politisch besonnene Hutu vermehrt Opfer von Massakern mit mehreren tausend Toten. Ab 1990 versuchte die von Tutsi-Rebellen gegründete Front Patriotique Rwandais (FPR) die Hutu-Regierung Ruandas aus dem Exil militärisch zu bezwingen. Die Überlegenheit der FPR zwang die Regierung Ruandas 1992 tatsächlich zu Friedensverhandlungen. Innerhalb dieser wurden die gesellschaftliche Reintegration der geflohenen Tutsi in Ruanda sowie die teilweise Wiedereingliederung der Tutsi in die ruandische Regierung diskutiert. Unter dem Eindruck einer möglichen Beteiligung der Tutsi am ruandischen Staat sowie ökonomischer Probleme Ruandas radikalisierte sich die Mehrheit der Hutu. In diesem Zusammenhang wurde die extreme »Hutu-Power« (3) zur entscheidenden politischen Kraft innerhalb der ruandischen Gesellschaft. Im April 1994 wurde die ruandische Präsidentenmaschine abgeschossen – die Initialzündung für den Völkermord. Durch den Abschuss »war das Zeichen für diejenigen gegeben, die ein Zeichen brauchten«, so Lennart Laberenz. Nur wenige Minuten später startete die »Hutu-Power« das Massaker an den Tutsi, die sie für den Abschuss verantwortlich machten.(4) Was wie eine spontane Reaktion auf den Flugzeugabschuss und den Tod des Präsidenten aussehen sollte, war allerdings lange kalkuliert und geplant. Zum einen durch ganz praktische Mittel wie der Verbreitung von Pistolen, Macheten und Tutsi-Todeslisten in der ruandischen Bevölkerung. Zum anderen durch eine Verschärfung des gesellschaftlichen Klimas mittels öffentlicher rassistischer Hetze auf Tutsi. Als Hauptmedium für ihren Rassismus installiert die »Hutu-Power« im Juli 1993 Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM).

Radio RTLM
Zwei Beiträge im Sammelband Hate Radio widmen sich explizit der Radiostation RTLM. Die Medienwissenschaftlerin Marie-Soleil Frère beschreibt in Radio Vérité wie RTLM als Alternative und Gegenentwurf zum verstaubten staatlichen Radio Rwanda entworfen wurde. Die »Moderatoren und DJs des RTLM machten sich über das Format von Radio Rwanda lustig, sie spielten internationale Hits, und mit ihren Sportreportagen banden sie die Fußballfans an sich.« Kurz: RTLM war das erste Pop-Radio in Ruanda und es war eines von zwei großen Radios in einem Land, in dem es für die ländliche Bevölkerung kaum weitere Informationsquellen gab. »1994 funktionierten sogar die Festnetzanschlüsse vielerorts nicht mehr. RTLM dagegen verfügte über eine sehr starke Sendeanlage, und fast jeder Haushalt hatte einen Empfänger. Überall, an den Straßensperren, in den Bars, in den Hütten der Bauern, hörte man die Stimmen von RTLM« (Marie-Soleil Frère). Damit wird die Macht des RTLM deutlich. Der extreme Hutu-Flügel hatte sich mit der Installation von RTLM die mediale Deutungshoheit verschafft und nutzte diese. Der ohnehin in den ruandischen Medien geschürte Rassenhass potenzierte sich in RTLM durch Volksnähe und Lockerheit. Im Beitrag Radio RTLM und der Genozid in Ruanda formuliert es Frank Chalk, Direktor des Montreal Institute for Genocide and Human Rights Studies (MIGS) wie folgt: »RTLM schürte Ängste und Rassenhass viel effektiver als es das staatliche Radio Rwanda jemals getan hätte, indem es auf eine dynamische, neuartige Programmgestaltung setzte, die erstmals auf ruandischen Frequenzen eine einzigartige Mischung aus lebendiger afrikanischer Musik und lockerer Gesprächsführung brachte, die vermengt war mit kulturell kodierten Angriffen auf die Tutsi und ihre Verteidiger.«
Ausgehend vom Radio RTLM formuliert Frank Chalk einen analytischen Text zu Radio und Völkermord. Er analysiert auf der einen Seite die Funktion von Rundfunk bei der Anstiftung zu Völkermord (Opferdämonisierung, Schwächung von Hilfsbereitschaft, Totalität in diesen beiden Beziehungen). Auf der anderen Seite geht er aber auch auf die mögliche Funktion von Radio und Medien bei der Verhinderung/Bekämpfung von Völkermord ein (Erzeugung von Solidarität, Lügenenttarnung, Information, Fluchtaufrufe). Den zweiten analytischen Hintergrundbeitrag im Buch liefert die Soziologin Assumpta Mugiraneza, welche dem Iriba Center For Multimedia Heritage vorsteht. Sie untersucht die sprachliche Komponente des ruandischen Genozids und damit natürlich auch den Kern des Radio RTLM. RTLM sendete auf Französisch und Kinyarwanda, der historischen Muttersprache der Ruanderinnen und Ruander. Interessant ist, dass die Moderation von RTLM oft dann vom Französischen ins Kinyarwanda wechselte, wenn sie auf Tutsi hetzten. Dies hatte vermutlich zwei Gründe. Zum einen konnten die ModeratorInnen so ihre rassistischen Botschaften vor der internationalen Öffentlichkeit tarnen. Zum andern liefert Kinyarwanda als Sprache einen sehr hohen Interpretationsspielraum. Dadurch konnten einzelne Wörter ganze Botschaften transportieren, die oft zugleich so unklar wie klar waren. Assumpta Mugiraneza zeigt die Verwendung einzelner stark aufgeladener Begriffe anhand von Beispiele. Besonders ein Wort ist eng mit dem ruandischen Genozid verbunden: Inyenzi (Küchenschabe, Kakerlake).
»Der Begriff Inyenzi bezeichnete damals in erster Linie die Exilierten [Tutsi]. [...] In den 60er und 70er-Jahren wuchs ein Kind in Ruanda mit Geschichten über die Inyenzi auf, die ihm eine diffuse Angst einflößten, die kaum etwas mit dem leichten Widerwillen zu tun hatte, den es normalerweise gegenüber kleinem Ungeziefer, den Küchenschaben, empfand. [...] Es lernte welches Unheil die Angriffe der Inyenzi über Ruanda gebracht hätten, wären sie nicht [...] niedergeschlagen worden.«
Tutsi als Inyenzi, als Kakerlaken zu bezeichnen hatte also eine lange Tradition in Ruanda. Die rhetorische Aufgabe der Moderation von Radio RTLM war es nun die absolute Gleichbedeutung der Begriffe Tutsi und Inyenzi durchzusetzen. Und sie tat es.

Das Theaterstück Hate Radio als »künstlerische Wahrheit«
Genozid lässt sich in seiner Ursächlichkeit nicht an einzelnen Personen festmachen. Dennoch gibt es die Gesichter des Genozids – oft auf Seiten der TäterInnen, selten auf Seiten der Betroffenen. Nach Ruanda 1994 bildete sich als TäterInnen-Bezeichnung der französische Begriff Génocidaires heraus. Die ModeratorInnen von Radio RTLM wurden zu Génocidaires. Anhand ihrer Personen entwickelt Milo Rau sein Theaterstück Hate Radio. Die Bausteine für das Stück sind so simpel wie ausreichend: Ein zweiteiliger Studioraum, drei ModeratorInnen an Mikrophonen, ein DJ und ein stumm bleibender Wachsoldat. Die Theater-Gäste sitzen beidseitig des gläsernen Studios und hören der grausamen Melange aus internationalen Sportnachrichten, Quizspielen, Aufrufen zum Massenmord und Popmusik zu. Eine Interaktion mit dem Publikum gibt es nicht, die SchauspielerInnen beschränken sich auf das gläserne Studio. Die ProtagonistInnen des Stückes sind die historisch wahren RTLM-ModeratorInnen Georges Ruggiu, Kantano Habimana und Valérie Bemeriki. Der Belgier Georges Ruggiu wird in Hate Radio als intellektuelle Führungskraft von RTLM dargestellt - eine Rolle, die er als Sozialarbeiter in seiner europäischen Heimat nicht ausfüllen konnte. Sébastien Foucault, der als Schauspieler Georges Ruggiu im Theaterstück auch selbst spielt, beschreibt Georges Ruggiu im Buch Hate Radio als überzeugten Antiimperialisten und Antikolonialisten, in dessen Augen sich die unterdrückten Hutu gegen die mit den Kolonialmächten verbundenen Tutsi endgültig durchsetzten müssen. Ruggiu ist der weiße Génocidair (5), er schmückt seine Ausführungen mit philosophischen Zitaten, er wird innerhalb der Moderation bei historischen Fragen konsultiert, er verkörpert den ernsten Revolutionär. Sein Gegenstück ist der kiffende Spaßvogel Kantano Habimana, der für die nötige Heiterkeit im Radio sorgt. Die markanteste Rolle aber kommt der Kongolesin Valérie Bemeriki zu. Sie ist die Wortführerin in der RTLM-Moderation. Sie spricht flott, viel, hipp und radikal, trägt geflochtene Zöpfe und eine Adidas-Trainingsjacke. Zumindest im Theaterstück wird Bemeriki zum popkulturellen Gesicht bei Radio RTLM. Für seine Recherchen zum Theaterstück Hate Radio interviewte Milo Rau 2009 Valérie Bemeriki im Gefängnis von Kigali. Das Interview ist im Buch Hate Radio zusammen mit einem begleitenden Kommentar abgedruckt. Milo Rau zeigt sich in diesem Interview als hervorragender Gesprächsleiter. Denn er schlittert nicht in eine nahe liegende Anklageposition hinein, sondern befragt Bemeriki als Person mit historischem Detailwissen. Ohne dieses Interview hätte Rau sein Theaterstück wohl auch nicht so zeichnen können. Aus dem Interview entnimmt Rau die Details zu Studioatmosphäre und Sendungsablauf, die er nicht in Protokollen und Transkripten hätte finden können. Neben unzähligen weiteren Informationsquellen skizziert Rau mittels dieses Wissens das RTLM-Studio sowohl als haptischen, vor allem aber als atmosphärischen Raum.
Der Rassismus, den die Moderation im RTLM-Studio transportiert, ist mal seicht und unterschwellig, mal schroff und direkt. Doch die eigentliche Botschaft des Stückes ist ohnehin nicht das Offensichtliche sondern gewissermaßen das Banale. Radio RTLM war 1993/94 ein modernes Pop-Radio. Es berichtete in ein und derselben Sendung über das Wetter, die Tour de France, den Kampf gegen die Tutsi und spielte zwischendurch angeblich Nirvana. Radio RTLM war normal und doch war es nicht normal. Um dies zu zeigen, bildet Rau die Atmosphäre ab, in welcher der ruandische Völkermord (auch im Radio) stattfand und verzichtet auf die dokumentarische Genauigkeit. Daher zeigt Hate Radio keinen historisch wahren Sendetag, sondern ein künstliches und künstlerisches Kondensat aus Wahrheiten. Die Musikauswahl ist fiktiv, die Figuren sind überzeichnet und die Dialoge erfunden. »Hate Radio ist nicht Radio-Télévision Libre des Mille Collines (RTLM), es ist eine Annäherung, eine Rekonstruktion dieses Senders im Heute, zwanzig Jahre später«, so Rau in seinem im Buch abgedruckten Artikel Hundert Abende über die Genese des Theaterstückes. Und doch: Hate Radio, Valérie Bemeriki, Kantano Habimana und Georges Ruggiu sind so wahr, wie es der ruandische Genozid ist.

Gut 15 Jahre nach den 100 Tagen von Ruanda entschloss sich Milo Rau zur künsterlichen Aufarbeitung des Genozids. Dabei ging es ihm nicht um Radio-Télévision Libre des Mille Collines. Der Sender lieferte den Zugang zum eigentlich Unfassbaren und die Möglichkeit zu dessen künstlerischen Darstellung. Einige Jahre später liegt nun mit dem Sammelband Hate Radio die Biografie des gleichnamigen Theaterstücks vor. Das Buch wirkt bis auf die letzte Seite äußerst gut recherchiert. Durch den ganz unterschiedlichen Charakter der einzelnen Artikel lässt es sich einfach lesen. Viel entscheidender aber ist, dass die Mischung aus theater-technischen Betrachtungen, kulturellen, historischen und politischen Beiträgen sowie dem abgedruckten Theaterstück aufgeht. Dadurch kommt das Buch dem Theaterstück nahe und bildet viel mehr als nur historische Fakten ab: Die Atmosphäre des Genozids.





Milo Rau: Hate Radio. Verbrecher Verlag, 2014, 256 Seiten



Das Buch kann im Infoladen ausgeliehen werden.

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Anmerkungen

(1) Um die Versöhnung innerhalb der ruandischen Bevölkerung zu erleichtern sind die Begriffe »Hutu« und »Tutsi« in Ruanda heute verboten. Vorkolonial wurden sie vorrangig zur Unterscheidung sozioökonomischer Gruppen benutzt, im Kolonialismus zur ethnischen Rassifizierung. Ich benutze die Begriffe Hutu und Tutsi im historischen Kontext. Die Klassifizierung von Menschen in ethnische Gruppen lehne ich ab.
(2) Zwischen 1971 und 1997 hieß die Demokratische Republik Kongo »Zaire«.
(3) »Hutu-Power« ist ein Begriff für den extremen Hutu-Flügel. Er beschreibt aber keine institutionalisierte Gruppe. Zur »Hutu-Power« kann neben politischen Parteien und Milizen auch das Radio RTLM gezählt werden.
(4) Bis heute ist nicht gänzlich geklärt wer das Präsidentenflugzeug tatsächlich abgeschossen hat. Ein Abschuss durch extreme Hutu, die eine Zuspitzung und Radikalisierung des Konfliktes herbeiführen wollten, wird inzwischen für viel wahrscheinlicher gehalten als die Möglichkeit eines Abschusses durch Tutsi-Rebellen. Zu diesem Ergebnis kam eine französische Ermittlergruppe 2012.
(5) Georges Ruggiu ist der einzige Europäer, der für Verbrechen im ruandischen Völkermord verurteilt wurde.

05.03.2015
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