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Tomorrow-Café, 1.5k

Was ist kritische Theorie?


Teil 3.2: Der Hass auf ein gutes Leben. Die Auseinandersetzung der früheren kritischen Theorie mit dem Antisemitismus.

Im Teil 3.1 entfaltete ich die Ideologiekritik des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Den Schwerpunkt der Darstellung legte ich dabei auf die Interpretation und Weiterentwicklung des vom Marxismus übernommenen Basis-Überbau-Schemas. War der Marxismus(1) von einer weitgehend eindeutigen ökonomischen Determination der Gesellschaft ausgegangen, so wurden von Horkheimer, Marcuse, Fromm und anderen, später auch Adorno, vor allem die sozialpsychologischen Vermittlungsinstanzen debattiert. Mittels Rückgriff auf die Freudsche Psychoanalyse versuchte man einen neuen, einen kritischen Marxismus zu formulieren, mit welchem man die gesellschaftliche Realität des Spätkapitalismus umfassender zu kritisieren vermochte. Die Perspektive des Instituts lag dabei unverändert auf der Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse, in welchen, frei nach Marx, der Mensch ein elendes und geknechtetes Wesen ist. Diese bürgerlichen Verhältnisse sollten durch eine sozialistische Gesellschaftsordnung ersetzt werden. Wie im letzten Teil dargelegt, erfüllte sich die Hoffnung auf einen alsbaldigen Sieg des Sozialismus nicht; und dass, was sich als „Sozialismus“ zu etablieren vermochte, hatte mit einer Assoziation freier Individuen herzlich wenig gemein. An Stelle der ausbleibenden Umwälzung setzten sich besonders in Deutschland finsterste menschenverachtende Ideologien durch, die allesamt durch und durch antisemitisch ausgerichtet waren. Die Gesellschaftskritik wurde daher zunehmend anhand einer Kritik von Verhältnissen ausgetragen, die die Durchsetzung derartiger Ideologien ermöglichen und forcieren. Es stellte sich die Frage, warum viele Menschen angesichts der Möglichkeit einer befreiten Gesellschaft eher zu jenen finsteren Utopien greifen, also just in einem Augenblick, in dem Herrschaft, Not, Krieg und Ausbeutung abschaffbar wären, diese am Leben erhalten wollten und ins Irrsinnige und Unermessliche zu steigern trachteten.

In Form der Naziherrschaft und der von ihr durchgesetzten deutschen „Volksgemeinschaft“ entfaltete die Warengesellschaft später eine bis dato unbekannte Bestialität. Die Reflektion auf diese
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... gebaut in der Tischlerei der JVA Bautzen

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... gebaut in der Tischlerei der JVA Bautzen
Schreckensverhältnisse, die alles übertrafen, was bisher denkbar gewesen war, erforderte und erfordert eine Neuformulierung kritischer Theorie; eine Theoriebildung, die sich im Spätwerk Adornos ankündigte und die heute vollbracht werden muss. Diese heute notwendige neue kritische Theorie der Gesellschaft müsste der Vorstellung Adornos folgen, mit dem Begriff über den Begriff hinaus zu denken. Es geht um eine kritische Theorie, welche gleichzeitig das herrschende allgemeine Prinzip aufdeckt, ohne dabei dieses Prinzip wieder „hinterrücks“ durch eine Ableitungslogik zu legitimieren. Es geht darum, die reale Unterordnung alles Besonderen kritisch aufzubrechen, ohne dabei eben dieses Besondere wiederum zu rechtfertigen; die Differenzen müssen in einer neuen kritischen Theorie tatsächlich und wirklich zu ihrem Recht kommen. Da diese Differenzen aber, da sie Differenzen des schlechten Allgemeinen sind, selbst in sich unwahr und schlecht sind, kann dieses Recht nicht ihre Legitimation, sondern letztlich nur ihre Abschaffung sein. Diese Abschaffung darf freilich keine zugunsten des falschen Allgemeinen sein.

1. Ansatzpunkte einer Kritik des Antisemitismus

Anhand der Kritik des Antisemitismus soll nun im Folgenden die Besonderheit dieser Ideologie im oben genannten Kontext diskutiert werden. Es gilt, sie als differente in ihrer eigenen Qualität zu erfassen, ohne sie zu Unrecht vorschnell und bloß abgeleitet unter ein Allgemeines zu subsumieren, dabei aber durchaus auch ihrer tatsächlichen Verflechtung ins unwahre Ganze der Warengesellschaft gewahr zu werden.
Die zentrale theoretische Leistung des Frankfurter Instituts besteht gerade in der dort begonnenen Kritik der antisemitischen Ideologie. Es lassen sich zwei zentrale Motivationen einer Kritik des Antisemitismus im Umfeld des Frankfurter Instituts ausmachen. Die Erste ist eher kurzfristig motiviert und unmittelbar an die Situation der gescheiterten Revolution und des Erstarkens faschistischer Tendenzen geknüpft. Sie soll hier nur erwähnt und nicht weiter verfolgt werden. Die zweite ist eher langfristig angelegt und gerade für heutige kritische Theoriebildung bedeutsam.
Die Frage nach dem Antisemitismus resultierte einerseits aus jener nach der ausgebliebenen Revolution (vgl. Teil 3.1 im letzten Heft). Anstatt den überreifen Apfel endlich vom Baum zu pflücken und zu genießen, beschuldigen die auf Autorität fixierten Menschen bestimmte andere, Juden nämlich, des Genusses und halten sich gegenseitig akribisch vom Genießen ab.
Andererseits resultierte die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus jedoch auf der Erkenntnis, dass es sich bei diesem um eine Ideologie mit eigenständiger Qualität handelt. Der Antisemitismus galt den kritischen Theoretikern nicht mehr – wie noch im Marxismus üblich – als eine Ablenkung vom Klassenkampf durch quasi ideologische Tricks und Kniffe der herrschenden Klasse. Man erkannte die Eigenständigkeit dieser mörderischen Denkweise, was sich später in den Studien über den Antisemitismus auch nach Auschwitz niederschlug. Antisemitismus galt hier bereits nicht mehr als Exempel für etwas Anderes bzw. Übergeordnetes (etwa Vorurteile, Sündenbockmechanismen, Ablenkungsstrategien, Unterdrückung von Minderheiten), sondern wurde in seiner eigenständigen Qualität erkannt. Anstatt den Antisemitismus als Exempel abzufertigen, wurde an dieser Ideologie das Modell einer kritischen Gesellschaftstheorie entfaltet. Dieser besonderen Qualität ist im Folgenden auf den Grund zu gehen.

2. Die „Wahrheit“ antisemitischer Ideologie

Wesentlich für Ideologiekritik ist es, stets dem kritisierten Gegenstand eine gewisse Wahrheit zuzubilligen. Dies nicht, um Teile von ihm irgendwie zu retten oder zu erhalten, sondern um die Kritik überhaupt erst wirkungsvoll werden zu lassen. Der Gegenstand der Kritik ist zunächst als wahrer zu erfassen, um an ihm desto wirkungsvoller seine Unwahrheit nachzuweisen und ihn schließlich zu treffen. So ist der Antisemitismus als Ideologie nicht einfach nur falsch, in dem Sinne, dass die antisemitischen Behauptungen über Juden schlichtweg erlogen sind. Vielmehr sind die Vertreter des Antisemitismus selbst von diesen wahnhaften Gedanken überzeugt. Es ist daher notwendig, nach den Verhältnissen zu fragen, die solche Gedanken überhaupt erst ermöglichen und hervorbringen. Weiterhin ist in Rechnung zu stellen, dass jene Ideologien sich in der Realität verwirklichen. Sie sind also nicht nur Überbau, sondern wirken zurück, üben maßgeblichen Einfluss auf die gesellschaftliche Realität aus und gehören ihr wesentlich zu.
In der „Dialektik der Aufklärung“ (DdA), einem der zentralsten Werke der kritischen Theorie überhaupt, wird von Horkheimer und Adorno versucht, den Antisemitismus in den Kontext der Entfaltungsgeschichte der Aufklärung/ der modernen Gesellschaft zu debattieren(2). Hatten sich viele Menschen, besonders auch Juden, einst von wachsender Aufklärung die Befreiung vom Judenhass versprochen, so geschah letztendlich das Gegenteil: die Transformation des Judenhasses zum Antisemitismus(3) als biologistisch-rassistischen argumentierenden Judenhass, für den die Juden eine große Weltverschwörung bilden, die für alle bedrohlichen, unheimlichen, zerstörenden Tendenzen der Moderne, für Wirtschaftskrisen und Kriege verantwortlich seien. „Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ (DdA, S. 9). Im Zuge fortschreitender Aufklärung kommt es zur Zersetzung des bürgerlichen Bewusstseins selbst (konkret dargelegt im Abschnitt über Kulturindustrie) und in diesem Kontext entfaltet sich der Antisemitismus als dunkles und esoterisches Produkt der Aufklärung.
Die Annäherung an diese Ideologie erfolgt in Form von „Elementen“: von unterschiedlichen Gesichtspunkten ausgehend, wird an einer Schärfung des Begriffs »Antisemitismus« gearbeitet. Eingangs erfolgt die Analyse, nach der die Juden zum auserwählten Volk durch die Nazis erst gemacht worden sind, indem sie von ihnen zu den Unheilbringern der Moderne stilisiert wurden. Die liberale Gegenthese von den Juden, die eigentlich wie alle Menschen seien, wird vor diesem Hintergrund falsch, ja recht eigentlich zur Vertuschung des antisemitischen Mordprogramms. „Die Juden sind heute die Gruppe, die praktisch wie theoretisch den Vernichtungswillen auf sich zieht, den die falsche Ordnung aus sich heraus produziert. Sie werden vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk.“ (DdA S. 177). Hier stecken Horkheimer und Adorno den Rahmen ab, innerhalb dessen sie den Antisemitismus betrachten wollen. Da die Juden von den Antisemiten zur überall lauernden Weltverschwörung gemacht und als solche ermordet wurden, kann man bereits nicht mehr von einem Vorurteil sprechen, dass man lediglich „überwinden“ müsse. Die Ideologie wird gewissermaßen wahr, indem sie sich in der Welt verwirklicht. Der Antisemitismus ist also kein Vorurteil, dass man sich einfach aus dem Kopf schlagen könnte, weil er seinerseits die gesellschaftliche Realität wesentlich mit bestimmt, er sich selbst in der Realität austobt und er, was sich folgend zeigen wird, ein folgerichtiges, wenn auch nicht zwingend notwendiges Produkt der warengesellschaftlichen Realität ist. Es reicht daher bei der Bekämpfung des Antisemitismus nicht, diverse Vorurteile über Juden zu widerlegen und das Ideal vom gleichen Menschen gegen ihn stark zu machen. Vielmehr hat man bei der Kritik des Antisemitismus anzuerkennen, dass die Juden durch dessen Wirksamkeit bereits zu besonderen Menschen gemacht wurden. Dies nicht anzuerkennen und abstrakte Gleichheit einzufordern, liefe darauf hinaus, den Antisemitismus nicht ernst zu nehmen und ihm daher auch nichts entgegen setzen zu können.

3. Antisemitismus und Identitätslogik

Das zweite Element des Antisemitismus fasst diese Ideologie zunächst als eine Struktur der modernen Gesellschaft auf, in welcher es bestimmte gesellschaftliche Gruppen gibt, die sozial diskriminiert, an den Rand gedrängt, von Pogromen verfolgt und systematisch ausgegrenzt werden. Die jeweiligen Opfer und Täter könnten dabei austauschbar sein. „Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen an Stelle der Mörder treten, in der derselben blinden Lust des Totschlags sobald es als die Norm sich mächtig fühlt (DdA, S. 180). Diese These wird sehr oft falsch verstanden. Mit ihr lässt sich unterstellen, die Juden könnten auch die Täter sein, eigentlich wäre es beliebig gewesen, wer sich auf der Täter- und wer sich auf der Opferseite befand. Andere rechtfertigen damit ihre These, der Antisemitismus sei tatsächlich ein bloßes Exempel für Minderheitenunterdrückung. Wer die Agierenden und wer die Erduldenden sind, bliebe zufällig und am Antisemitismus wäre somit nichts spezifisches, qualitativ Eigenes.
Beide Interpretationen werden dem von Horkheimer und Adorno intendierten Sachverhalt aber keineswegs gerecht. Letztlich besagt dieses „Element“ nur, dass die kapitalistische Gesellschaft zur Suche nach derartigen Minderheiten neigt, sich an ihnen abreagiert und auf ihre Kosten sich Individuen in ihr zur (mörderischen) Gemeinschaft zusammen schmieden: „Die ferneren sind es, welche Eure Liebe zum Nächsten bezahlen; und schon wenn ihr zu Fünfen miteinander seid, muß immer ein sechster sterben“, wusste bereits Friedrich Nietzsche zum Besten zu geben (Zarathustra; S. 78). Fakt ist also lediglich: es muss diese Struktur geben, damit es überhaupt so was wie Antisemitismus geben kann aber es handelt sich dabei eben nur um ein Element des Antisemitismus. Er darf nicht etwa darauf reduziert und daraus erklärt bzw. abgeleitet werden. Gleichwohl muss die Formierung zur Gemeinschaft und die Ausgrenzung des Anderen notwendig hinzukommen, um den Antisemitismus entstehen zu lassen. In allein diesem spezifischen Sinne ist es dann tatsächlich gleichgültig, ob es sich um Juden, Protestanten oder Katholiken handelt; als warengesellschaftlich bestimmte Menschen haben sie allemal Prädispositionen in dieser Hinsicht(4). Wie andere Ideologien auch, gründet der Antisemitismus wesentlich in einem Verhältnis zwischen ICH/ dem Selbst/ dem Eigenen/ der eigenen Gemeinschaft und dem Anderen. Mit der Konstitution des Eigenen wird auch das Fremde konstituiert. Es ist fürs bürgerliche Selbst gleichzeitig verhasst wie notwendig. Dies allerdings verbindet den Antisemitismus gerade mit dem Rassismus oder dem Sexismus. Es handelt sich hierbei um die für Menschen in der Warengesellschaft grundlegende identitätslogische Reaktionsweise. Der Antisemitismus ist demzufolge basal in der Konstitutionsgeschichte moderner Subjektivität in der Warengesellschaft angelegt. Ihn wirksam zu bekämpfen, bedeutet daher auch, die Konstitutionsgeschichte moderner „abendländischer Subjektivität“(5) aufzuarbeiten und in Frage zu stellen. Einseitige Aufklärungsmaßnahmen, die gesellschaftliche Zustände, deren zentrales Moment der Antisemitismus ist, nicht antasten, müssen daher wirkungslos verhallen(6).

4. Antisemitismus: mehr als nur ein Sündenbocksyndrom

In einem weiteren Element wird der Antisemitismus in seiner Sündenbockfunktion für die ökonomische und politische Herrschaft der Kapitalistenklasse (dem traditionsmarxistischen Verständnis der Autoren zufolge) dargestellt und zugleich aber dargelegt, dass er eben mehr ist, als nur eine solche Sündenbockfunktion: „Darum schreit man: haltet den Dieb! und zeigt auf den Juden. Er ist in der Tat der
Tischlerei, JVA Torgau, 15.1k
... gebaut in der Tischlerei der JVA Torgau
Sündenbock, nicht bloß für einzelne Manöver und Machinationen, sondern in dem ganz umfassenden Sinn, dass ihm das ökonomische Unrecht der ganzen Klasse aufgebürdet wird
“ (DdA, S. 183). Tatsächlich gehörte es zur Agitation der Deutschnationalen und Nationalsozialisten, die Juden für die Verbrechen des Kapitalismus bzw. sogar einzelner Kapitalisten verantwortlich zu machen. Nicht selten mussten „die Juden“ herhalten für politische und wirtschaftliche Verbrechen. In diesem Sinne kann man ihn also getrost auch für ein schlichtes Sündenbocksyndrom halten. Allerdings zielt diese These Horkheimers und Adornos weiter. Sie begreifen den Kapitalismus wesentlich als eine Klassenherrschaft in dem Sinne, dass jene, die über das Eigentum an Produktionsmitteln verfügen, ökonomisch, politisch, juristisch, kulturell und ideologisch das Sagen haben. Ihre politische Herrschaft kleidet sich in das Gewand des ökonomischen Sachzwanges. Indem die Juden für die Konsequenzen dieser kapitalistischen Herrschaft, z.B. für Kriege und Wirtschaftskrisen verantwortlich gemacht werden, stabilisiert sich diese Herrschaft wiederum. Antisemitismus wird also hier begriffen als eine Ideologie, die verwickeltes Moment der kapitalistischen Gesellschaft ist, wobei den Juden deren Schattenseiten aufgebürdet werden. Diese Überlegung knüpft zwar an gängige Sündenbocktheorien an, geht aber weit über diese hinaus.

5. Antisemitismus als moderner quasi - religiöser Wahn

Der moderne Antisemitismus selbst versuchte sich eindeutig „wissenschaftlich“ zu gerieren. Er war selbst aufgeklärt genug, dass er es eifrig abstritt, in Tradition religiöser „Vorurteile“ den Juden Kindesmord und Hostienschändung zu unterstellen. Er präsentierte sich als rundum „moderne Weltanschauung“, die nur dazu aufriefe, was angeblich natürliche Pflicht oder wissenschaftlich geboten sei. Trotz dieses modernen Gewandes kann aber der Antisemitismus seine religiösen Wurzeln nicht leugnen bzw. er tritt geradezu als säkularisiertes Christentum auf: „Der fanatische Glaube, dessen Führer und Gefolgschaft sich rühmen, ist kein anderer als der verbissene, der früher die Verzweifelten bei der Stange hielt, nur sein Inhalt ist abhanden gekommen. Von diesem lebt einzig noch der Hass gegen die, welche den Glauben nicht teilen. Bei den deutschen Christen blieb von der Religion der Liebe nichts übrig als der Antisemitismus“ (DdA, S. 185).
Ein zentrales Merkmal des traditionellen christlichen Judenhasses war die Wut der Christen auf die Juden angesichts der Tatsache, dass sie bestreiten, dass Jesus der Messias, also der Erlöser gewesen wäre. Die Juden bestanden (zumindest im Bild der Christen, dass diese von ihnen hatten) auf der Unerlöstheit der Welt, warteten auf einstige Ankunft des Messias und darauf, dann von weltlichen Gesetzen erlöst zu werden. Anders die Christen: ihre Erlösung war bereits vollzogen. Vermittelt über den Kreuzestod von Jesus glauben sie daran, dass sie bereits erlöst sind und dieses Glaubens müssen sie sich immer wieder vergewissern, denn gerade daran hängt eben ihre Erlösung – sie sind erlöst, wenn sie glauben, dass Jesus für sie am Kreuze starb und er der Messias war und sie von ihren Sünden gereinigt habe. Jesus zu seinen Gläubigen: „Fürchtet euch nicht; das Gesetz zergeht vor dem Glauben“ (Neues Testament, zitiert nach: DdA, S. 186).
Die Juden treten hier als das schlechte Gewissen der Christen auf. Sie verunsichern mit ihrer (oft genug von den Christen halluzinierten) Behauptung, Jesus sei zwar vielleicht ein ganz guter Reformator, aber eben nicht der Messias gewesen, den Glauben der Christen und ziehen damit den Hass derer, die glauben müssen, um erlöst zu sein, auf sich. Die Juden standen also im Antijudaismus unter anderem für das Verunsichernde – einer Verunsicherung, der man sich in regelmäßigen Pogromen Luft zu machen versuchte.
Der moderne Antisemitismus nun hat wesentlich gemeinsame Züge mit dem alten Judenhass, die er aber leugnete. Abgesehen davon, dass sich viele Bilder letztendlich doch gleichen (Boten und Bündnispartner des Bösen, Assoziation mit Wucher und Geld, geheime Verschwörungen, Verantwortlichkeit für Unheil) kann auch der moderne Antisemitismus selbst als eine quasi religiöse Massenbewegung gelten. Seine Gläubigen hämmern sich ihren Glauben immer wieder ein und versichern sich gegenseitig in ihrem Wahne, dass das Umbringen der Juden sie vom Elend der Welt erlösen könnte – ein Glaube, der sich in der Realität immer und immer wieder als ein Irrglaube erweist und der daher desto verbissener eingeübt werden muss. Die christliche Religion selbst wurde mit zunehmender Durchsetzung der Warengesellschaft sukzessive obsolet. In der Tradierung der alten judenfeindlichen Bilder hat sie sich aber gewissermaßen über ihren eigenen Tod hinaus erhalten.
Indem Horkheimer und Adorno den Antisemitismus als einen quasi-religiösen Wahn dechiffrieren, verdeutlichen sie seine tiefe kulturhistorische Verankerung. Der Antisemitismus, obwohl Moment in der gegenwärtigen Gesellschaft und aus dieser resultierend, ist somit als Denkweise tief in der europäischen Geschichte, die mit der weltweiten Durchsetzung der Warengesellschaft ihrerseits global wurde, wiederum verankert und integraler Bestandteil dieser. Er lässt sich also ein weiteres Mal nicht als Vorurteilsstruktur oder Relikt einstiger finsterer Vergangenheit abqualifizieren, sondern muss in seiner Verflochtenheit erkannt werden. Er ist Moment der europäischen Gegenwart und Vergangenheit. Er wird daher auch in Zukunft nicht verschwinden, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin in jenen eingefahrenen Bahnen verlaufen.

6. Antisemitismus als romantischer Zivilisationshass im Dienste der Aufklärung

Bereits auf den ersten Seiten der „Dialektik der Aufklärung“ betonen Horkheimer und Adorno den Zwang der Zurichtung durch die Warengesellschaft, die die Menschen im Gefolge von deren Durchsetzung über sich ergehen lassen mussten: „Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bevor das männliche, identische Selbst entstand und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit zu seiner Erhaltung gepaart“ (DdA, S.40). Um in dieser Gesellschaft bestehen zu können, müssen Menschen sich zurichten, ihre Triebe unterdrücken, ihre Gefühle verleugnen, bzw. sie müssen etwas anderes fühlen als sie wirklich fühlen und etwas anderes wollen als sie wirklich wollen(7).
Hier knüpft der romantische Zivilisationshass an: gegen die bestehende Gesellschaft wird eine imaginierte vormoderne Ordnung gesetzt, in der der zersetzende »jüdische« Geist der Moderne noch nicht wirksam gewesen wäre. Romantisch inspirierter Zivilisationshass und Antisemitismus gehören daher zusammen. Die spezifische Konstellation, der sich das
Tischlerei, JVA Waldheim, 33.9k
... gebaut in der Tischlerei der JVA Waldheim
bürgerliche Selbst ausgesetzt fühlt – es will sich zusammenhalten und ist gleichzeitig der Verlockung ausgesetzt, sich aufzulösen –, erzeugt zwei Arten von Hass; einerseits auf jene, die angeblich noch nicht zivilisiert genug (hier liegt die Parallele zweier ansonsten sehr unterschiedlicher Ideologien: des Rassismus und des Sexismus) – und andererseits auf die angeblich Überzivilisierten. Der Hass richtet sich hier auf jene, die angeblich qua Natur schon zivilisiert sind und die einem zudem angeblich den ganzen Schlamassel der Zivilisierung erst eingebrockt hätten. Und dafür sollen sie leiden müssen. In all ihrer Überzivilisiertheit könnten die Juden zudem den „Lohn ohne Arbeit“ genießen (da sie natürlicherweise mit Geld umzugehen verstünden) und andererseits von ihrer Natürlichkeit ungehindert Gebrauch machen, da sie sie ja nicht unterdrücken mussten. Besonders typisch ist in diesem Zusammenhang die Assoziierung der Juden mit großen bzw. gebogenen, also besonders auffälligen Nasen. „Von allen Sinnen zeugt der Akt des Riechens, das angezogen wird, ohne zu vergegenständlichen, am sinnlichsten von dem Drang, ans andere sich zu verlieren und gleich zu werden. (…) So gilt der Zivilisation Geruch als Schmach, als Zeichen niederer sozialer Schichten, minderer Rassen und unedler Tiere.“ Aber: „Man darf dem verpönten Trieb frönen, wenn außer Zweifel steht, dass es seiner Ausrottung gilt. (…). Wer Gerüche wittert, um sie zu tilgen (…) ,darf das Schnuppern nach Herzenslust nachahmen“ (DdA, S. 193). Während z. B. dem späteren deutschen Antisemiten von klein auf eingebläut wird, dass Gerüche und allzu versunkenes Schnüffeln namentlich an den eigenen Exkrementen widerwärtig wäre, ein Gebot, das man später ins Unbewusste verschiebt und somit verinnerlicht, wird es den Juden untergeschoben. Sie würden angeblich überall herumschnüffeln und dabei ihre Machenschaften aushecken, ihre gierigen Gelüste nach Sex, Macht und Reichtum austoben. Der Antisemit wiederum darf nun endlich tun, was er immer schon wollte: gehörig schnüffeln – nämlich um den Juden und dessen geheime Geschäfte und Machenschaften aufzuspüren. Hier offenbart sich ein besonders perfider Zug des Antisemitismus: Diese Ideologie versteht es, quasi-vormoderne nichtidentische Momente für das Prinzip der identitären Unterwerfung zu mobilisieren. Der Antisemit gestattet sich etwas, was ihm die Durchsetzung der Zivilisation versagt, etwa das Schnüffeln – aber dieses Schnüffeln dient nur der weiteren Ausrottung eines den Trieben Nachgebenden. Die antizivilisatorischen Motive werden daher vom Antisemitismus stets in den Schutz der Zivilisation umgemünzt.
Hinterm Antisemitismus verbirgt sich ein reaktionärer romantisierender Hass auf die Zivilisation. Die Juden gelten dieser unbändigen Wut als Boten oder besser: Vollstrecker und Nutznießer dieses Zivilisierens und an ihnen wird alles „Unbehagen an der Kultur“ (Freud) ausagiert, wobei dabei genau das getan wird, was man als Zivilisierter eigentlich nicht mehr darf. Die Abneigung der Antisemiten gegen die Zivilisation darf allerdings gerade nicht dazu verführen, nun selbst diese nicht mehr zu kritisieren. Diese Konsequenz trifft den Antisemitismus nicht, da er ja gerade ein antizivilisatorisches Aufbegehren im Namen der Zivilisation ist. Imaginiert sich zwar der Antisemitismus als romantisch und antizivilisatorisch, so agiert er dennoch ungebrochen auf dem Boden von Aufklärung und Zivilisation. Mit keiner Silbe nimmt er Wissenschaft und klassifizierendes Denken zurück, ja er überspitzt diese sogar noch. Ebenso agiert er völlig auf dem Boden warenförmigen Denkens. Zwar wendet sich der Antisemitismus oberflächlich betrachtet gegen die Zivilisation, so ist er doch ein Teil von ihr, nämlich gewissermaßen ihr immanenter, sie selbst vorantreibende Gegensatz. Anstatt modernes gegen quasi-vormodernes oder quasi-vormodernes gegen modernes Denken zu akzentuieren,(8) kommt es in einer Weiterentwicklung kritischer Theorie darauf an, beides zu überwinden und eine emanzipatorische Antimoderne zu forcieren (vgl. Robert Kurz: Blutige Vernunft). In der Tradition Horkheimers und Adornos kann man den Antisemitismus nicht als ein der Zivilisation bzw. der „Kultur“ äußerliches Phänomen begreifen, sondern nur als deren immanente Kehrseite, die logisch dazu gehört.

7. Antisemitismus als pathische Projektion und Hass auf ein gutes Leben

In seinem Kern erweist sich der Antisemitismus als eine pathische Projektion. Auch ohne Kantianer zu sein, muss man eingestehen, dass in der Erkenntnis einem Gegenstand stets auch selbst etwas hinzu gegeben wird. Noch verschärft wird dies bei der Wahrnehmung etwa der Gefühle oder von Wünschen und Motivationen anderer Menschen. In gewisser Weise wird also beim Erkennen und Wahrnehmen immer etwas vom Eigenen auf den Gegenstand oder gar das soziale Gegenüber »projiziert«. Das Problematische an der pathischen Projektion ist nun laut Horkheimer und Adorno nicht, dass da überhaupt etwas projiziert wird, sondern dass die Reflexion in dieser Projektion vollkommen ausfällt und oft genug auch vehement abgewehrt wird. Man möchte insgeheim selbst schnüffeln und sich exzessiven Genüssen hingeben und unterstellt dem Juden, dies zu wollen und real zu tun; man ist tatsächlich in seinem Glauben (z.B. an den »Endsieg«) verunsichert und möchte diese Verunsicherung von sich weisen, indem man die Juden als ihren Grund ausmacht; man will sich des eigenen Selbst und der Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft versichern, indem man den Juden als den anderen verfolgt und ausgrenzt; man lenkt von eigenen politischen oder wirtschaftlichen Machenschaften ab und sieht in den Juden die bösen Verschwörer. Immer spielt pathische Projektion eine zentrale Rolle beim Antisemitismus und wird bei Infragestellung auch heftig verteidigt. Der Hass auf die Reflexion ist daher ein wesentliches Moment des Antisemitismus. Nachdenken, Sich-Besinnen, Reflektieren, Genießen, kritisches Infragestellen eigener Motive und Bedürfnislagen sowie begrifflich-durchdringendes Denken sind genau das, was der Antisemit abwerten und ebenfalls im Juden verorten will – als angeblich zersetzendes jüdisches Denken und Fühlen. „Es kommt nicht mehr zum Austrag des eigenen Triebkonflikts, in welchem die Gewisseninstanz sich ausbildet. Statt der Verinnerlichung des gesellschaftlichen Gebots (…) erfolgt prompte Identifikation“.
Der Antisemitismus entfaltet sich in der kapitalistischen Gesellschaft zu einer Ideologie, welche die Menschen an das Schlechte und Falsche der bestehenden Verhältnisse bindet. Die Juden stehen den Antisemiten, die an der Herrschaft, die abzuschütteln wäre, verkrampft festhalten, für das Moment der Befreiung, die eins ums andere Mal ausgetrieben werden muss. „Gleichgültig wie die Juden an sich beschaffen sein mögen, ihr Bild als das des Überwundenen, trägt die Züge, denen die Totalität gewordene Herrschaft Todfeind sein muß: des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft, weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen. Nur solange kann jene bestehen, wie die Beherrschten das Ersehnte selber zum Verhassten machen. Das gelingt ihnen mittels der pathischen Projektion, denn auch der Haß führt zur Vereinigung mit dem Objekt, in der Zerstörung“. Kritik des Antisemitismus und das Streiten um die gesellschaftliche Befreiung sind daher eines: „Die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation von Herrschaft ist die Gegenbewegung zur falschen Projektion“ (DdA, S.208f). Antisemitismus kann daher als ein Hass auf ein gutes, erfülltes und glückliches Leben bezeichnet werden. Dieser Hass bringt die Menschen dazu, sich die kapitalistische Gesellschaft nicht vom Leibe zu schaffen und stattdessen das Leiden, das sie selbst erfahren haben, in irrsinnig gesteigerter Form an jenen abzureagieren, die angeblich für dieses Leiden verantwortlich wären und die angeblich gut leben würden.
Der Antisemitismus ist somit als Ideologie in der individuellen psychischen Konstitution der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft angelegt und unmittelbar verquickt mit dem Willen des Festhaltens an den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen. Damit erweist er sich als untrennbares Moment dieser modernen Verhältnisse in ihrer Verquickung miteinander.

8. Die antisemitische »Weltanschauung«

In einer erweiterten These, die erst in der zweiten Auflage des Buches mit hinzu genommen wurde, gehen Horkheimer und Adorno auf den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und dem so genannten Ticketdenken ein. Als ein solches bezeichnen sie das Denken speziell autoritärer Charaktere, wie sie von einer sich zuspitzenden Warengesellschaft hervorgebracht werden, die bestrebt sind, sich eine „Weltanschauung“ als Ganzes einzuverleiben und dann die Anhänger bzw. Fans dieser Gesinnungsgemeinschaft sind. In diesem Ticketdenken, auch wenn es nicht explizit rechts oder offen antisemitisch auftritt, treffen die Bedürfnislagen des Antisemitismus prototypisch zusammen. Man bindet sich fest in die Gemeinschaft ein und will unbeirrt glauben, auf dass das selig mache. Man konstruiert ein klares und eindeutiges Freund-Feind-Denken, eine, wie Carl Schmitt das nannte: »Entscheidungssituation« – es kommt nicht mehr auf die Wahrheit des Geglaubten, also auf seine Übereinstimmung mit der Realität an, sondern vorweg gab es ein Bekenntnis und fortan wird geglaubt, um zu glauben, getan, um zu tun, und gewollt, um zu wollen. Etwas »der Sache wegen« bzw. »aus Prinzip« machen, ist eine jener blödsinnig-gefährlichen Emanationen dieser Denkweise, die man nur zu oft auch gerade in linken Kreisen in die Ohren gedröhnt bekommt. Das Abfahren aufs Ticket, also das Bekenntnis zu einer „Weltanschauung“ kann selbst bereits als eine Form des Antisemitismus begriffen werden; es geht hier nicht mehr um den Inhalt des Gedachten, denn bereits die Form, in der diese Gedanken auftreten, stellt eine Prädisposition zum Antisemitismus dar.
Die Leistung der kritischen Theorie Horkheimers und Adornos in der „Dialektik der Aufklärung“ besteht wesentlich darin, die Besonderheit des Antisemitismus herausgearbeitet zu haben. Sie dechiffrieren diese Ideologie in ihren vielfältigen Facetten, spüren ihr nach in ihren tiefenpsychologischen, ästhetisch-erkenntnistheoretischen oder auch quasi-religiösen Dimensionen. Am Modell des Antisemitismus entfalten damit die Autoren eine grundlegende Kritik des marxistischen Basis-Überbau-Schemas, nach welchem sich Ideologien logisch aus einer ökonomischen Basis heraus entwickeln. Ebenso greifen sie damit Strömungen der Soziologie und Psychologie an, für welche der Antisemitismus ebenso wie für den Marxismus nicht mehr als ein bestenfalls besonders eindrückliches und besonders gefährliches Beispiel für Hass gegen Minderheiten oder „andere Rassen“ darstellt. Es handelt sich beim Antisemitismus nicht um ein bloßes abgeleitetes Oberflächenphänomen, weil er wesentlich die so genannte Basis mitbestimmt, rückwirkend auf sie einwirkt, weil er des weiteren ein Moment dieser Gesellschaft ist, nicht nur eine Denkweise, die man äußerlich aus ihm ableiten, aus ihm entwickeln könnte. Die antisemitische Ideologie ist fundamental in der Konstitutionsgeschichte des bürgerlichen Selbst angelegt. Es gehört zur identitätslogischen Formierung hinzu, sich gegen ein Anderes abzugrenzen und an diesem die eigene Identitätsbildung zu vollziehen. Der Antisemitismus wird weiterhin als konstitutives Moment der kapitalistischen Gesellschaftsordnung begriffen, in welchem die Juden für die ökonomischen Zerrüttungen und das soziale Elend zu büßen haben, welches diese Gesellschaft erzeugt. Der Antisemitismus wird als eingeschrieben in die religiösen und geistes- und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge Europas betrachtet, als dessen ideelles Integral und wesentliches Moment, um die Leute „bei der Stange zu halten.“ Ebenso wird an den Juden ein Hass auf die Unannehmlichkeiten der Zivilisation ausagiert, der seinerseits wiederum diese Zivilisation selbst stärkt und ihre Mechanismen den antisemitischen Massen nochmals einbläut. Das einzelne Individuum hält im Spätkapitalismus immer mehr krampfhaft an der Herrschaft fest, die in Wirklichkeit nicht weiter fortbestehen müsste, die überwindbar wäre. Antisemitische Ideologie ist verknüpft mit einem Hass auf ein gutes Leben, mit welchem die beherrschten Individuen an dieser schlechten und falschen Gesellschaft festhalten. In Form des Ticketdenkens nehmen letztendlich auch andere Ideologien antisemitischen Charakter an. Sie ähneln sich ihm in dem Sinne an, dass sie sich klar auf eine Freund-Feind-Logik und damit verbundene Entscheidungssituation vereidigen, eine Art des Denkens, wie sie für die antisemitische Ideologie typisch ist: man hat sich bereits im Vorfeld entschieden, wer Freund und wer Feind ist und jedwede Reflexion und begrifflich-kritische Durchdringung fällt schlichtweg aus.

9. Antisemitismus als Moment der Warengesellschaft

Der Antisemitismus ist also von Horkheimer und Adorno als komplexes ideologisches Syndrom mit eigenständiger Qualität, nicht als Ableitung oder Exempel entschlüsselt worden. Es gilt im Folgenden noch einige Reflexionen über den Zusammenhang dieser antisemitischen Ideologie mit der Gesellschaft, mit der sie verflochten ist, deren Moment sie ist, anzustellen. Dazu sollen zwei aktuellere Diskussionsstränge über den Antisemitismus aufgenommen werden, die sich im theoretischen Anschluss an die „Dialektik der Aufklärung“, konstituierten. Der Philosoph und Soziologe Detlev Claussen knüpft direkt an die „Elemente des Antisemitismus“ an. Er bemüht sich vor allem, die Verflechtung des Antisemitismus mit der Warengesellschaft anhand seiner psychoanalytischen Dimension zu thematisieren. Einen dazu meines Erachtens konträren Ansatz entfaltete Moishe Postone in einem damals wie heute vieldiskutierten Aufsatz.
Um die Verquickung des Antisemitismus mit der Warengesellschaft bis in tiefenpsychologische Bereiche aufzudecken, dechiffriert Detlev Claussens den Antisemitismus als eine Alltagsreligion. Ich zitiere dazu eine Passage aus seinem Aufsatz »Über Psychoanalyse und Antisemitismus«: „Mit (der von Claussen angenommenen) Universalisierung zirkulativer Möglichkeiten werden auch die Idiosynkrasien, die an der marginalen Zirkulation hingen, universalisiert. Der einst marginale Antisemitismus, integraler Bestandteil christlicher Kultur, verwandelt sich in eine Alltagsreligion, die durch den Mechanismus der Personalisierung in der verdinglichten Welt etwas gibt, woran man sich halten kann: Hass auf den Juden. Erst die bürgerliche Gesellschaft wird zur antisemitischen Gesellschaft par excellence. Das Mittel der Personalisierung übersetzt im psychischen Prozess die sachlich geronnene vermittelte Realität zurück in die unmittelbare Beziehungswelt von Personen (…). Die Juden scheinen überall, obwohl es nur der Wert ist, der sich an alles heftet (…). Als Massenphänomen könnte man ihn [den Antisemitismus] als eine »Schiefheilung« gesellschaftlichen Unglücks begreifen (Claussen, S. 125). Für Claussen kommt es also zur Ausbreitung des Antisemitismus mit der Durchsetzung der Warengesellschaft. Warenbeziehungen, vorher nur marginal und nur in den „Intermundien der alten Welt“ (Marx) – und hier bereits antijüdisch aufgeladen und mit den Juden verknüpft – werden zum Moment gesellschaftlicher Vermittlung schlechthin. Das, wofür die Juden stehen, ist also auf einmal überall – demzufolge wird halluziniert: die Juden seien überall. Und die in dieser Gesellschaft hereinbrechenden ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen Katastrophen werden dann diesen angelastet. Es ist jenes Prinzip, welches mit den Juden assoziiert wird, welches diese Zerwürfnisse teilweise im globalen Maßstab verursacht. Doch da die Menschen die Logik der Warengesellschaft nicht durchdringen, sie nach vormoderner Manier gesellschaftliche Verhältnisse zu personalisieren geneigt sind, machen sie in den Juden die Schuldigen aus.
Dazu an anderer Stelle bei Claussen (»Antisemitismus und Judenhass«): „In der Entwicklung von der vorkapitalistischen zur kapitalistischen Gesellschaft geschieht etwas Entscheidendes: Die Ökonomie, ein rationales, über Sachen und sachliche Verhältnisse (Eigentum und Tausch) vermitteltes Machtverhältnis, erfasst alle menschlichen Beziehungen. Gleichwohl lebt, im Denken und Fühlen der Zeitgenossen, die Vorstellung persönlicher Machtverhältnisse fort“ (Claussen, S. 91). Claussen versucht, die Gesamtheit der Elemente des Antisemitismus, das gesamte ideologische Syndrom aus den Mechanismen der bürgerlichen Gesellschaft zu erfassen. Im selben Aufsatz: „Der Antisemitismus ist in der objektiven Verfassung der bürgerlichen Gesellschaft begründet. Aber die gesellschaftlichen Individuen fassen diese Gesellschaft nicht so auf, wie sie ist“ (S. 100).
Diese Herangehensweise argumentiert übrigens auf einer anderen Ebene als Horkheimers und Adornos drittes Element des Antisemitismus, in welchem die Juden die Schuld für das ökonomische Unrecht der herrschenden Klasse zugeschoben bekommen. Claussen versucht vielmehr, und das ist ihm rundum positiv anzurechen, das Gesamtsyndrom Antisemitismus aus der Warengesellschaft zu begreifen.
Bei diesem Versuch muss Claussen allerdings attestiert werden, dass er sich dabei in gewissem Sinne gründlich vergreift, wobei er damit die Verkürzungen und den unaufgearbeiteten Traditionsmarxismus der Frankfurter unfreiwillig offen legt. So wird Ökonomie als nüchtern-rationales Verhältnis gefasst und dabei ihre vollkommen irrationale Seite der Verwertung des Werts als Selbstzweck vollkommen übersehen(9). Ebenso wird die Vermittlung „über Sachen und sachliche Verhältnisse“ einseitig an Zirkulationsphänomenen und Eigentumsverhältnissen festgeschrieben: „Eigentum und Tausch“ sind jene Bereiche, die Claussen als wesentliche dem Bereich der Ökonomie, des Werts zuordnet.
Der Wert wird auf eben diese Erscheinungen des Wesens der Warengesellschaft reduziert. Der Wert als Kristallisation abstrakter Arbeit und daher selbstverständlich auch die damit korrespondierende Abspaltung geraten gar nicht erst ins Blickfeld. Claussen kann das qualitativ völlig neue an der Warengesellschaft daher nicht erfassen, weshalb ihm auch die Unterscheidung zwischen Judenhass und Antisemitismus letztlich nur schwammig gelingt. Seine Bekundung, den Antisemitismus aus der kapitalistischen Gesellschaft zu begreifen, bleibt daher nur uneingelöster Anspruch seiner Aufsätze. Claussen kann den Antisemitismus nicht aus der Warengesellschaft erklären und entwirklicht diese zu einem rein äußerlichen Phänomen, die sich quasi von außen über die Gesellschaft wölbt. Es gelingt ihm somit nicht, die „Elemente des Antisemitismus“ in einen umfassenderen gesellschaftlichen Kontext zu stellen. Damit wirft Claussen auch ein Licht auf die Verkürzungen in der Gesellschaftstheorie Horkheimers und Adornos. Durchweg wird hier als vermittelndes gesellschaftliches Prinzip einseitig der Tausch aufgefasst. Das dieser lediglich ein Moment der Produktion, dass daher diese Produktion selbst und somit gerade auch die Arbeit als gesellschaftliches Vermittlungsprinzip angegriffen gehört, wird weitgehend übersehen.
Näher kommt der Sache der bereits erwähnte amerikanische Gesellschaftstheoretiker Moishe Postone: „Weil Arbeit im Kapitalismus auch die Funktion einer gesellschaftlichen Vermittlung hat (‚abstrakte Arbeit’), ist die Ware nicht bloß ein Gebrauchsgegenstand (…), sondern sie verkörpert auch gesellschaftliche Verhältnisse (…). Durch diese Form der Vergegenständlichung gewinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus ein Eigenleben, sie bilden eine ‚zweite Natur’, ein System von Herrschaft und Zwängen, das, obwohl gesellschaftlich, unpersönlich, sachlich und‚ objektiv’ ist und deshalb »natürlich« zu sein scheint (…). Betrachtet man die besonderen Charakteristika der Macht, die der moderne Antisemitismus den Juden zuordnet – nämlich Abstraktheit, Unfaßbarbarkeit, Universalität, Mobilität – dann fällt auf, dass es sich hierbei um Charakteristika der Wertdimension jener gesellschaftlichen Formen handelt (…). Diese Dimension (…) erscheint nicht unmittelbar, sondern nimmt vielmehr die Form des stofflichen Trägers, der Ware, an.“ (Postone, Nationalsozialismus und Antisemitismus).
Postone gelingt es, die tradierte Zirkulationsfixiertheit des Marxismus zu überwinden, die auch noch die Autoren des Frankfurter Umfeldes auszeichnete. Der entscheidende Ansatzpunkt Postones ist es, die Arbeit selbst als gesellschaftliches Vermittlungsprinzip zu entlarven. Die Arbeit als abstrakte Arbeit stiftet ein gesellschaftliches Prinzip, welches die Menschen im Kapitalismus miteinander vermittelt. Diese Form der Vermittlung verselbständigt sich von den Menschen, vergesellschaftet sie hinter ihren Rücken und durch ihre Köpfe hindurch (womit ein zentrales Motiv der Gesellschaftskritik des späteren Adorno aufgenommen wird). Dieses abstrakte Vermittlungsverhältnis wird in Tradition von Marx als Wert begriffen. Es ist dieses Prinzip, welches im Antisemitismus im Juden verkörpert wird.
Diese Position ist m. E. weitaus geeigneter, den Antisemitismus kategorial aus der Warengesellschaft zu denken, ohne ihn abzuleiten. Es scheint mir sinnvoll, die Elemente des Antisemitismus als pathische Projektion und Hass auf gutes Leben gerade in diesem Kontext zu denken. Das Prinzip der abstrakten Arbeit begründet jene Gesellschaft, welche ihre katastrophisch-zersetzende Seite in den Juden personalisiert. Die auf diesem Prinzip basierende Gesellschaft benötigt genau jenes Selbst, zu dessen Entstehung sich die Menschheit Furchtbares hat antun müssen. Der Hass auf die Zivilisation im Dienste der Zivilisation ist letztendlich der Hass auf eine Gesellschaft, die über das Prinzip der abstrakten Arbeit vermittelt ist. Die antisemitische Ideologie vergöttert das Prinzip der abstrakten Arbeit zutiefst und offenbart in ihrer Wut auf jüdische „Schmarotzer“ ihren Hass auf ein gutes Leben, welches heute, ohne Wert und Arbeit möglich wäre. Jene durch abstrakte Arbeit vermittelte Gesellschaft erwählte die Juden zum Opfer. Die Juden, die angeblich weder arbeiten können noch wollen, werden von dem, was alles gleich macht, zum absolut Ungleichen gemacht und ermordet. Damit gehört zu einer Kritik an der durch abstrakte Arbeit und Wert vermittelten Warengesellschaft wesentlich eine Kritik auch am Antisemitismus.
Allerdings ist dabei zu beachten, dass bei einer Kritik, wie sie eben skizziert wurde, die Gefahr besteht, den Massenmord an den Juden wiederum zu entwirklichen. Sie wurden natürlich nicht nur als Personifikationen von etwas ermordet, sondern immer auch als individuelle Einzelwesen und nicht ausschließlich aufgrund eiskalter Kalkulation, worauf Daniel J. Goldhagen vollkommen zu Recht hingewiesen hat. Das Insistieren auf abstrakten Prinzipien und Personifikationen von etwas, beinhaltet immer auch die Gefahr, vom Leid der einzelnen Menschen, an denen das Schreckliche vollstreckt wurde, im schlechte Sinne des Wortes zu abstrahieren: abzusehen.
Auf einen falschen Weg gerät allerdings auch, wer die Personifikation und jene eiskalte Kalkulation überhaupt nicht mehr erkennen will. Eine Theorie, sofern sie denn als kritische auftreten will, muss sich also gewissermaßen selbst zurücknehmen, ohne sich dabei aufzugeben. Der Begriff ist über sich selbst hinauszutreiben. Um dies zu leisten, greift allerdings auch die Postone’sche Kritik am Antisemitismus letztendlich zu kurz. Gerade gegen Adornos Prinzip des Nicht-Identischen versucht Postone gerade in seinem Buch (Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft) alle Räder in Bewegung zu versetzen. Er sucht nach dem emanzipatorischen Prinzip: es kann nicht das Nichtidentische wie bei Adorno sein, sondern der begrifflich herleitbare Widerspruch ist in der Warengesellschaft selbst als sprengender zu finden.
Aber genau auf jenes Prinzip des Nichtidentischen wäre zu verweisen, um eine kritische Gesellschaftstheorie zu konzipieren, die sich nicht mit einer rein logischen Herleitung der Personifikation des Werts im Juden zufrieden gibt. In Rekurs auf Roswitha Scholz’ so genanntes „Abspaltungstheorem“ ist das abstrakte, die Gesellschaft vermittelnde Prinzip, welches sich über die Köpfe der Individuen hinweg und gleichzeitig mitten durch sie hindurch vollzieht, gerade als gebrochene und negative Totalität gekennzeichnet. Die gesellschaftliche Totalität vollzieht sich nicht einzig über den Wert/ die abstrakte Arbeit, sondern darüber, das genau jenes Prinzip es nötig hat, noch einmal bestimmte Tätigkeiten und Verhaltensweisen, die kulturell-symbolisch als weiblich bestimmt werden, von sich abzuspalten. Wir haben es hier mit einem Ansatz der kritischen Theorie zu tun, der nicht die gesamte Gesellschaft aus einem einheitlichen homogenen Prinzip ableitet. Vielmehr handelt es sich um eine kritische Theorie, die sich gleichzeitig selbst zurücknimmt, die um nicht-identische Momente und um ihre eigenen Begrenzungen durchaus weiß, dabei aber nicht die Tatsache aus den Augen verliert, dass die Gesellschaft tatsächlich von einer Metastruktur bestimmt ist, die die gesamte Gesellschaft ähnlich einem „Webwerk“ (Haug) durchdringt. Mittels einer derartigen kritischen Theorie könnte die drohenden Verkürzungen und Schlüsse, die sich aus der Theorie Postones ergeben, vermieden werden.
Zur Bekämpfung des Antisemitismus bleibt also seine Entfaltung aus einer umfassenden Gesellschaftskritik notwendig. Antisemitismus ist grundlegend für die bestehende unwahre Gesellschaft und eng mit dem Hass auf ein gutes Leben verknüpft, damit auch grundlegende konstituierende Rechtfertigung des Bestehenden. Seine Praxis und Denkweise ist strukturell in die bestehende Gesellschaft eingegraben und unlöslich mit ihr verbunden.

Martin Dornis

Literatur

Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt 2000
Detlev Claussen: Psychoanalyse und Antisemitismus, in: Aspekte der Alltagsreligion – Hannoversche Schriften 3, Frankfurt 2000
Detlev Claussen: Vom Judenhass zum Antisemitismus, in: Aspekte der Alltagsreligion – Hannoversche Schriften 3, Frankfurt 2000
Erich Fromm: Methoden und Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie
Erich Fromm: Zum Gefühl der Ohnmacht
Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Frankfurt 2000
Max Horkheimer: Kritische und traditionelle Theorie, ZfS (Jg. 6) 1937, S. 245 ff
Max Horkheimer: Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, ZfS. (Jg. 1) 1932, S. 1ff
Max Horkheimer: Geschichte und Psychologie, ZfS (Jg 2) 1932, S. 125ff
Max Horkheimer, Dämmerung, in: ders., GS 2, Frankfurt 1987
Daniel J. Goldhagen: Hitlers willige Vollstrecker – Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust; Berlin 1996
Robert Kurz: Blutige Vernunft, Bad Honnef 2004
Robert Kurz: Manifest von 1988 – Auf der Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel, Erlangen 1988
Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in MEW 3
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, München 1988
Friedrich Pollock: Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten einer planwirtschaftlichen Neuordnung, ZfS (Jg.1), 1932 S. 8
Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus, in: Kritik und Krise 1, Freiburg 1993
Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft – Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2003
Herbert Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur, ZfS (Jg. 6) 1937, S. 54 ff
Leo Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie. Ein autobiographisches Gespräch mit Helmut Dubiel, Frankfurt 1980
Leo Löwenthal: Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur
Rosa Luxemburg: Die Krise der europäischen Sozialdemokratie
Roswitha Scholz: Das Geschlecht des Kapitalismus, Feministische Theorien und die postmoderne Metamorphose des Patriarchats, Bad Honnef 2000
Roswitha Scholz: Wertabspaltung und kritische Theorie Adornos (unveröffentlichtes Manuskript)

Fußnoten

(1) Wohlgemerkt der Marxismus, nicht unbedingt Marx. Als Marxisten gelten die Nachfolger von Marx, die das Marxsche Werk sehr einseitig interpretierten. Der Schwerpunkt lag auf Klassenkampf, Fortschrittsdenken und ökonomischem Determinismus. Die dunkle Seite von Marx, die Kritik des Wertes, der Ware, des Kapitals als automatischem Subjekt blieb unterbelichtet, vergessen, wenn nicht gar verfemt. Der Marxismus ging los mit Engels, setzte sich fort mit Kautsky; der Gegensatz zwischen »revolutionärer« und »reformistischer« Interpretation, etwa zwischen Eduard Bernstein, Joseph Dietzgen oder Rudolf Hilfferding auf der einen und Wladimir Iljitsch Lenin, Lew Drawidowitsch Trotzki und Rosa Luxemburg auf der anderen Seite liegt innerhalb des Marxismus; ebenso innerhalb liegt der Gegensatz zwischen eher »objektivistischen« und eher »subjektivistischen« Traditionslinien, etwa zwischen Karl Korsch und dem frühen Georg Lukacs einerseits und Kautsky, Plechanow, Lenin auf der anderen Seite. Selbst die kritische Theorie der Frankfurter blieb meines Erachtens in wesentlichen Punkten, etwa der Bestimmung des Fortschritts bei Adorno, dem marxistischen Strang verhaftet. Auch ein wirkliches Aufbrechen des deterministischen Basis-Überbau-Schemas gelingt erst dem späten Adorno, etwa in der Negativen Dialektik. Aufgegriffen und tatsächlich weiterentwickelt wird dieser Ansatz von Roswitha Scholz im „Geschlecht des Kapitalismus“ und dem demnächst erscheinenden „Differenzen der Krise – Krise der Differenzen“.
(2) In den folgenden Unterpunkten vollziehe ich dabei die Argumentation Horkheimers und Adornos in der „Dialektik der Aufklärung“ nach. Dies erfolgt allerdings verquickt mit meinem eigenen Verständnis dieses Werks. Eine saubere Trennung zwischen dem Werk und meiner Interpretation muss ich daher schuldig bleiben. In bestimmten Punkten, an denen ich mich explizit von Horkheimer und Adorno absetze, mache ich das deutlich. Auf gar keinen Fall geht es mir darum, Horkheimer und Adorno irgendwie „authentisch“ wiederzugeben. Dies hat beispielsweise auch Roman in seiner Kritik an meiner Marxeinführungsreihe gründlich missverstanden (vgl.: CEE IEH #110 und 117). Auch hier ging mir keineswegs um einen authentischen Marx, wie etwa dem naiven Nominalisten Michael Heinrich, den Roman als Alternativlektüre zu meiner Einführung empfiehlt. Schon gar nicht geht es mir a la Backhaus/ Reichelt um das Aufspüren irgendeiner im Werk angeblich oder meinetwegen auch wirklich versteckten „Methode“, gar noch einer hegelschen. Authentizität im Bezug auf Marx oder auch Adorno beanspruche ich lediglich in meinem Insistieren auf der Notwendigkeit der Umwälzung der bestehenden Verhältnisse bzw. dem Drängen auf die Entfaltung einer kritischen Theorie nach Auschwitz.
(3) Ich gehe davon aus, dass es Antisemitismus nur im Kapitalismus gibt und dass alle vormodernen judenfeindlichen Strömungen aufgrund ihres völlig anderen Charakters auch anders genannt werden müssen. Daher ist der Begriff „moderner Antisemitismus“ gemäß des von mir vertretenen theoretischen Konzepts falsch: ein nicht-moderner Antisemitismus ist m. E. keiner. Allerdings tritt der Begriff „moderner Antisemitismus“ in der einschlägigen Literatur häufig auf. Die meisten Autoren, die sich mit Antisemitismus auseinandersetzen, lehnen eine konsequente Scheidung von moderner kapitalistischer Gesellschaft und vormoderner, wesentlich nicht-kapitalistischer ab. Daher wenden sie Begriffe wie Antisemitismus auf historische Gesellschaften an, was jedoch weder diesen Gesellschaften noch dem Antisemitismus Rechnung trägt. Vergleichen lässt sich eine derartige Vorgehensweise mit der identitätslogischen Anwendung des Begriffs »Arbeit« im heutigen Sinne auf jegliche Tätigkeiten in vormoderner Zeit.
(4) Dass dies bei Juden dann angesichts ihrer Jahrhunderte währenden antisemitischen bzw. judenfeindlichen Verfolgung dann wiederum doch noch mal anders ist, soll hier nicht diskutiert werden; es ist dies unter anderem ein Problem des sekundären Antisemitismus, der die Juden nach Auschwitz gerade wegen Auschwitz verdächtigt.
(5) Das „Abendland“ ist natürlich eine Fiktion des modernen bürgerlichen Subjekts. Tatsächlich hatte die Antike, auf die sich das Abendland zurückführt, mehr gemein mit dem alten China oder Indien oder selbst mit nordamerikanischen Nomadenstämmen als mit der späteren kapitalistischen Welt. Es ist aber gerade wesentlich für dieses moderne bürgerliche Selbst, sich mit dieser fiktiven Annahme eines abendländischen Kontinuums identitätslogisch in die Vergangenheit hinein zu verlängern und sich damit eine Zukunft zuzusprechen, die es in Wirklichkeit ebenso wenig hat. Auch hier haben wir es mit einer aufklärerischen Konstruktion zu tun, auf die selbst die Frankfurter noch reingefallen sind. Dass man das „Konstrukt“ Abendland nach seiner Konstruktion freilich, zwecks „Dekonstruktion“, ernst zu nehmen hat, steht auf einem anderen Blatt.
(6) Wirkungslos verhallen müssen auch nicht minder oberflächliche, wenngleich radikal anmutende marxistische Visionen einer Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse oder durch »ihre marxistisch-leninistische Partei« und alle Revolutionskonzeptionen, die lediglich auf einer Änderung der Macht- und Eigentumsstrukturen, also der Distributionsweise gründen.
(7) Man muss es leider immer wieder betonen: Dies soll nicht heißen, es gäbe ein natürliches oder ursprüngliches Fühlen oder Wollen. Gemeint ist lediglich, man muss in der Warengesellschaft dass, was diese bzw. ihre Repräsentanten von einem will/ wollen selber wollen. „Das Wollen-Müssen ist das Furchtbarste“ (Robert Kurz, Manifest von 1988: Auf der Suche nach dem verlorenen sozialistischen Ziel).
(8) In Wirklichkeit ist das so genannte vormoderne Denken, also alles mythische und archaische Geraune natürlich ein reines Produkt der Moderne, welches lediglich von seinen Protagonisten und ihren aufklärerischen Gegnern als vormodernes imaginiert wird.
(9) Als irrational gilt das Verwertungsprinzip in der traditionellen kritischen Theorie vor allem in seinen Auswirkungen, da es auf sinnliche Bedürfnisse, Besonderheiten, Ansprüche der Menschen wie des bearbeiteten Materials keine Rücksichten zu nehmen in der Lage ist.


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last modified: 28.3.2007