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Tomorrow-Café, 1.5k

Was ist kritische Theorie?


Teil 3.1: Die „zweite Welle“ der kritischen Theorie – Das Institut für Sozialforschung („Café Marx“)

Dieser Text ist Teil der Darstellung einer Referatsreihe zum Thema „Was ist kritische Theorie“, die vor längerer Zeit im Tomorrow-Café gehalten wurde. Er kann aber als eigenständige Arbeit gelesen werden. Er soll die Motivation und den Anspruch kritischer Theoriebildung im zwanzigsten Jahrhundert darlegen. Nach einer einleitenden Bestimmung des Wesens kritischer Theorie soll kurz deren Rückgriff auf die kritische Denkweise von Karl Marx skizziert werden. Folgend diskutiert dieser Text, inwieweit die „zweite Welle“ (Bolte) kritischer Theoriebildung, also jene des Instituts für Sozialforschung seit den späten zwanziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts die kritische Theoriebildung weiterführte. Dies soll anhand der am Institut im Anschluss an Marx entfalteten Ideologiekritik geschehen. Am Modell der Kritik am Antisemitismus soll abschließend ein Ausblick auf das Konzept einer neuen Gesellschaftskritik gegeben werden. [siehe Teil 2 in CEE IEH #118]

Wandteppich - Geschenk an Fürst Bismarck, 45.7k Als kritische Theorie wird hier ein Denken betrachtet, welches sich in kritischer, d.h. negierender Weise auf die Gesellschaft richtet, die in ihrer Entfaltung Hunger und Elend, Krieg und Zurichtung der Individuen auf und unter einen ihnen fremden Zweck und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen hervorbringt. Leo Löwenthal brachte ein solches Denken in einem Interview treffend zum Ausdruck: „Genau das Negative war das Positive, dieses Bewusstsein des Nicht-Mitmachens, des Verweigerns; die unerbittliche Analyse des Bestehenden (…), das ist eigentlich das Wesen der kritischen Theorie“ (Löwenthal, Mitmachen wollte ich nie: S. 80). Über seine eigene theoretische Entwicklung fasst Löwenthal zusammen: „Es war also eine geradezu synkretistische [= verschmelzende] Ansammlung in meinem Hirn und in meinem Herzen von Bestrebungen, Richtungen und Philosophien, die im Gegensatz zum Bestehenden standen: ich erinnere mich noch genau an meine Lektüre von Lukacs’ „Theorie des Romans“ und seine Anklage der „Infamie des Bestehenden“. Diese Formulierung brachte mein Grundgefühl gut auf den Begriff, nämlich alles zu hassen und als „infam“ zu empfinden, was das Bestehende ausmachte. Dieses Gefühl saß sehr tief in mir“ (ebenda, S. 26). Der Kern einer kritischen Theorie besteht also erstmal darin, die Unheil bringende Gesellschaft des Kapitalismus abzulehnen, das Bestehende als „infam“, also als niederträchtig, schändlich, schuftig und abscheulich zu empfinden.

Der Bezug auf Marx

Dieses Grundgefühl hatte zum ersten Mal Karl Marx in seinem Spätwerk zu einem Programm einer kategorialen und grundsätzlichen Kritik des Bestehenden ausgearbeitet. Zahlreiche Motive des marxschen Denkens klingen bereits in seinen frühen Schriften an (vgl. dazu ausführlicher Teil 1). An erster Stelle steht hier der Begriff vom Menschen als einem sinnlich-sozialen Einzelwesen, den Marx in seinen Frühschriften von dem links-bürgerlichen Philosophen Ludwig Andreas Feuerbach übernahm. Dieser hatte die bisherige moderne Philosophie kritisiert, weil sie den Menschen nicht als wirkliches Wesen aus Fleisch und Blut mit sinnlichen Ansprüchen betrachtet hatte, sondern zumeist nur als Geist- und Kopfwesen. Dieses Feuerbachsche Bild vom Menschen so zusagen mit zwei Mittelpunkten – Kopf und Herz – übernahm Marx zunächst. Von der Annahme einer anthropologischen Konstante, die mit dem Bild vom Menschen als einem sinnlich-sozialen Wesen unweigerlich verbunden ist, ging er jedoch alsbald ab. Was sich jedoch in seiner manchmal als „realer Humanismus“ bezeichneten Theorie erhielt, war das unerbittliche Beharren auf der Notwendigkeit der Befriedigung sinnlicher und sozialer Bedürfnissen der einzelnen Individuen(1), also der kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes und geknechtetes Wesen ist. Nicht das Wohl der Gemeinschaft, nicht der Forschritt, auch nicht etwa das Wohl der Klasse soll im Mittelpunkt des Interesses stehen, sondern letztlich muss es um die Befriedigung der Bedürfnisse des einzelnen Individuums gehen. Nicht der Einzelne soll der Gemeinschaft dienen, sondern die Gemeinschaft hat letztlich keine andere Legitimation als die einzelnen zu beglücken. Gelingt ihr das nicht, so hat sie jedweden Anspruch auf Existenz verwirkt.
Ein zweiter wesentlicher Punkt, der erstmals von Marx entwickelt wurde, ist der Begriff gesellschaftlicher Praxis. Die menschliche Geschichte wird hier gefasst als ein ständiger Auseinandersetzungsprozess zwischen Mensch und Natur, in welchem sich sowohl die äußere Natur als auch der Mensch selbst verändert. Es gibt also keine unveränderliche Naturkonstante „Mensch“, sondern dieser ist vielmehr als dynamisch und in ständiger Umformung zu begreifen. Der Schwerpunkt der Analyse wird hier auf die Geschichtlichkeit und Veränderlichkeit sowohl des Menschen samt seiner „inneren Natur“ als auch seiner inneren wie äußeren Natur gelegt („historischer Materialismus“), ein Gesichtspunkt, der bis heute für kritische Theoriebildung unabdingbar ist.
Aber auch diese Position war für Marx lediglich Durchgangsstadium. Erst in seiner Spätschrift „Das Kapital“ und entsprechenden Vor- und Nebenüberlegungen („Grundrisse“, „Theorien über den Mehrwert“, „Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses“) entfaltet er seine kategoriale Kritik der gesamten Gesellschaft und begreift diese als eine Totalität. Vorherige Positionen, wie der Begriff vom sinnlich-sozialen Individuum und der der gesellschaftlichen Praxis, können als in diesem Werk aufgehoben betrachtet werden. Marx geht hier nicht mehr von einem – eigentlich ebenfalls als anthropologische Konstante zu betrachtenden – ewigen Kampf zwischen Mensch und Natur aus, der irgendwie seit den Anfängen der menschlichen Zivilisation vorhanden gewesen sein soll. Er richtet jetzt vielmehr seinen Blick auf die bestehende Gesellschaft(2). Gesellschaft als Totalität wird jetzt von Marx begriffen als über den Wert – alias kristallisierte gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit als sich permanent selbst verwertendes automatisches Subjekt – vermittelte Totalität. Diese vermittelt die Menschen hinter ihren Rücken und gleichzeitig durch ihre Köpfe hindurch, wie Adorno später in der Negativen Dialektik anmerkt. Wir haben es beim Kapitalismus mit einer Gesellschaft zu tun, die sich jenseits menschlicher Einflussnahme vollzieht und gleichzeitig die Wünsche, Gefühle und Denkweisen der Menschen durchdringt. Diese grundlegenden Begriffe – bis hin zu dem der gesellschaftlichen Totalität – werden bei Marx negativ eingeführt und diskutiert. Die Intension zielt – auch wenn die Motive bei ihm selbst widerstreitend sind – auf die Überwindung von Wert, Arbeit, Tausch, Geld, Kapital, Staat, (Welt)-Markt und Handel, nicht auf ihre bessere Gestaltung
Eine emanzipatorische Perspektive kann einzig darin bestehen, die Gesellschaft als Ganzes sich anzueignen und die Reproduktion dem menschlichen Denken, Wollen und Fühlen zu unterwerfen.

Die Weiterführung der Ideologiekritik

Vaterländische Bilderbücher, 47.2k Das theoretische Programm von Marx und Engels ist nach deren Tod zunächst nicht auf dieser Höhe weitergeführt worden. Die theoretischen Arbeiten, die es gab, blieben ganz dem Horizont der Praxis der Arbeiterparteien verhaftet. Der sich bereits zu Marxens Lebzeiten entwickelnde „Marxismus“ hatte mit Marx selbst nicht allzu viel zu tun. Erst das Erlebnis des Scheiterns revolutionärer Bewegung in Verbindung mit der grauenhaften und erschütternden Konfrontation mit den Materialschlachten und Giftgaseinsätzen des ersten Weltkriegs setzte Bestrebungen eines Wideraufgreifens einer eigenständigen kritischen Theoriebildung frei.
Nach den Verwüstungen des ersten Weltkrieges galt für viele Menschen eine weitere Entwicklung in kapitalistischen Bahnen als Ding der Unmöglichkeit. Rosa Luxemburgs Losung „Sozialismus oder Barbarei“ war damals in der revolutionären Massenbewegung populär:
„Friedrich Engels sagte einmal: Die bürgerliche Gesellschaft steht vor einem Dilemma, entweder Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei (…). Dieser Weltkrieg – das ist ein Rückfall in die Barbarei. Der Triumph des Imperialismus führt zur Zerstörung der Kultur – sporadisch während der Dauer eines modernen Krieges und endgültig, wenn die nun begonnene Periode der Weltkriege ungehemmt bis zur letzten Konsequenz ihren Fortschritt nehmen sollte (…). Noch ein solcher Weltkrieg, und die Aussichten des Sozialismus sind unter den von der imperialistischen Barbarei aufgetürmten Trümmern begraben (…). Wir stehen also heute (…) vor der Wahl: entweder Triumph des Imperialismus und Untergang jeglicher Kultur (…), Entvölkerung, Verödung, Degeneration, ein großer Friedhof; oder Sieg des Sozialismus (…)“ (Rosa Luxemburg, Die Krise der Sozialdemokratie).
Doch die deutsche Novemberrevolution führte nicht zum erwünschten Sieg des Sozialismus. In Westeuropa und den USA blieben revolutionäre Erhebungen fast ganz aus. Die Sowjetunion entwickelte sich in eine brutale Entwicklungsdiktatur, der nichts ferner lag als ein frei assoziiertes Gemeinwesen emanzipierter Individuen. Vor diesem Hintergrund gründeten gesellschaftskritische Intellektuelle gegen Ende der 20er Jahre das Institut für Sozialforschung (IfS). Man wollte eine Erklärung für die ausgebliebene Revolution finden. Zu den etablierten sozialistischen Arbeiterparteien SPD und KPD, die eine hoffnungslos ans kapitalistische System angepasst, die andere ebenso hoffnungslos an Stalins KP gefesselt, blieb man auf kritischer Distanz.
Angesichts der Degradierung revolutionärer Praxis und ihrem hoffnungslosen Pragmatismus, der sich als unfähig erwies, das Bestehende zu überwinden, pochte man auf die Notwendigkeit einer eigenständigen kritischen Theorie: „Die möglichst strenge Tradierung der kritischen Theorie ist freilich eine Bedingung ihres geschichtlichen Erfolgs; aber sie vollzieht sich nicht auf dem festen Grund einer eingeschliffenen Praxis und fixierter Verhaltensweisen, sondern vermittels des Interesses an der Umwandlung, das sich zwar mit der herrschenden Ungerechtigkeit notwendig reproduziert; aber durch die Theorie selbst geformt und gelenkt werden soll und gleichzeitig wieder auf sie zurückwirkt“ (Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie). Aufgrund der inneren Verflechtung von Theorie und Praxis, innerhalb derer die Theorie nur ein reflektiertes Moment der gesellschaftlichen Praxis ist, bedarf es zunächst der Trennung von beiden. Alle herrschende Praxis erwies sich als eingeschliffen und zunächst unüberwindbar und das Denken selbst in ihren Bann ziehend. Alle herrschende Theorie stellte sich gerade als Moment herrschender Praxis heraus. Daher die Notwendigkeit einer Trennung kritischer Theorie von unmittelbarer Praxis. Mit dem Ziel einer umwälzenden Praxis bedarf es einer autonomen kritischen Theorie der Gesellschaft.
Die Frage nach der ausgebliebenen Revolution rückte für die Autoren des Instituts die Frage nach der Verschränkung gesellschaftlicher und psychologischer Fragestellungen auf die Tagesordnung: „Die Menschheit, die in ihrer Geschichte keinen Abschnitt kannte, in dem sie absolut und pro Kopf gerechnet so reich an Produktionsmitteln und hoch qualifizierten Arbeitskräften war wie heute, verarmt auf doppelte Weise: durch die ungeheure Brachlegung der sachlichen und persönlichen Produktivkräfte und durch die Vernichtung eines Teiles des geschaffenen“ (Friedrich Pollock, Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus…) bzw. „Nie stand die Armut der Menschen in schreienderem Gegensatz zu ihrem möglichen Reichtum als gegenwärtig, nie waren alle Kräfte grausamer gefesselt als in diesen Generationen, wo die Kinder hungern und die Hände der Väter Bomben drehen. Die Welt scheint einem Unheil zu zutreiben (…)“ (Max Horkheimer, Dämmerung).
Deutsches Volk - Deutsche Schrift, 18.7k Es stellte sich die Frage, warum die Menschen die ihnen gegebene Chance nicht wahrnehmen und stattdessen weiter in einer offenkundig Unheil bringenden Gesellschaft leben wollen: „Daß die Menschen ökonomische Verhältnisse, über die ihre Kräfte und Bedürfnisse hinausgewachsen sind, aufrecht erhalten, anstatt sie durch eine höhere und rationalere Organisationsform zu ersetzen, ist nur möglich, weil das Handeln numerisch bedeutender sozialer Schichten nicht durch die Erkenntnis, sondern durch eine das Bewusstsein verfälschende Triebmotorik bestimmt ist. Keineswegs bloß ideologische Machenschaften bilden die Wurzel dieses historisch besonders wichtigen Moments (…) sondern die psychische Gesamtstruktur dieser Gruppen, d.h. der Charakter ihrer Mitglieder wird im Zusammenhang mit ihrer Rolle im ökonomischen Prozeß fortwährend erneuert. Die Psychologie wird daher zu diesen tiefer liegenden psychischen Faktoren, mittels deren die Ökonomie die Menschen bestimmt, vorzustoßen haben, sie wird weitgehend Psychologie des Unbewussten sein (…). Je weniger aber das Handeln in die Einsicht der Wirklichkeit entspringt, ja dieser Einsicht widerspricht, um so mehr wird es notwendig, die irrationalen, zwangsmäßig die Menschen bestimmenden Mächte psychologisch aufzudecken“ (Horkheimer, Geschichte und Psychologie). Zur selben Problematik äußert sich Erich Fromm – anfangs ebenfalls aktiv im Institut und sogar Mitbegründer:
„Freud hat wohl die biologisch-physiologische Bedingtheit der Triebe erkannt, er hat aber gerade nachgewiesen, in welchem Maße diese Triebe modifizierbar sind und dass der modifizierende Faktor die Umwelt, die gesellschaftliche Realität ist (…). Die sozialpsychologischen Erscheinungen sind aufzufassen als Prozesse der aktiven und passiven Anpassung des Triebapparates an die sozialökonomische Situation (…). Die Familie ist das wesentliche Medium, durch das die ökonomische Situation ihren formenden Einfluss auf die Psyche des Einzelnen ausübt. Die Sozialpsychologie hat die gemeinsamen – sozial relevanten – seelischen Haltungen und Ideologien – aus der Einwirkung der ökonomischen Bedingungen auf die libidinösen Strebungen zu erklären“ (Fromm, Über Methoden und Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie).
Obwohl also die ökonomischen Bedingungen überreif für die Revolution wären, verhindert die psychische Konstitution eine wirkliche Aneignung der gesellschaftlichen Ressourcen. Gemäß den Analysen ist die psychische Struktur der Menschen speziell durch die autoritäre Familienstruktur der alten Gesellschaft verhaftet und verhindert so die revolutionäre Überwindung. Anstatt eine Gesellschaft, die die Menschen in die Ecke drückt, zu überwinden, ließen sie sich selbst verängstigt in die Ecke drücken. Hierzu wiederum Fromm in seinem Aufsatz „Zum Gefühl der Ohnmacht“: „Dem Erwachsenen wird gesagt, er könne alles erreichen, was er wolle, wenn er es nur wirklich wolle und sich anstrenge (…). Das Leben wird ihm als großes Spiel hingestellt, in dem in erster Linie nicht der Zufall, sondern eigenes Geschick, eigener Fleiß und eigene Energie entscheiden (…). Massenarbeitslosigkeit und Kriegsgefahr haben (…) die faktische Ohnmacht des einzelnen (…) vermehrt. Er muss für jeden Tag dankbar sein, an dem er noch Arbeit hat und der ihn noch von dem Grauen eines neuen Krieges trennt (…).
Die Autoren des „Café Marx“, so die interne Bezeichnung des Instituts, sind also bestrebt, das vom Marxismus übernommene Basis-Überbau-Schema durch die Einbeziehung von Psychoanalyse und Ideologiekritik zu verfeinern. Die klassische Ökonomiekritik wird so auf andere Bereiche der Gesellschaft übertragen, weil, so die Annahme der Frankfurter, die Ökonomie ohnehin überreif wäre und die Schranken eines Umsturzes heute in der Psychologie und den auf ihr basierenden Ideologiebildungen begründet sind. Diese Ideologiekritik soll v. a. in Bereichen der Kultur vorgenommen werden. Der Autor Leo Löwenthal entwickelte diese Vorgehensweise am Modell der Literaturkritik:
„Die geschichtliche Erklärung der Dichtung hat die Aufgabe, zu untersuchen, was von bestimmten gesellschaftlichen Strukturen in der einzelnen Dichtung zum Ausdruck kommt und welche Funktion die einzelne Dichtung in der Gesellschaft ausübt. Die Menschen stehen zum Zweck der Erhaltung und Erweiterung ihres Lebens in bestimmten Produktionsverhältnissen (…). Von der jeweiligen Struktur der Produktion, d.h. von der Ökonomie hängt nicht nur die Gestaltung der Eigentums- und Staatsverhältnisse, sondern zugleich die der gesamten menschlichen Lebensformen in jeder geschichtlichen Epoche ab. Jede ‚Geistes’- und ‚Verstehens’wissenschaft, die sich auf die Autonomie oder mindestens auf die autonome Deutbarkeit gesellschaftlicher Überbaugebilde beruft, vergewaltigt das Wissenschaftsgebiet der menschlichen Vergesellschaftung (…). Die materialistische Geschichtserklärung vermag nicht in der gleichen simplifizierenden und isolierenden Art und Weise vorzugehen, die wir an der ihr entgegen gesetzten Haltung festgestellt haben. Es hieße, jene Theorie schlecht verstehen, wollte man ihr den Glauben an eine unmittelbare Ableitung der Gesamtkultur aus der Wirtschaft zuschieben, ja wollte man nur von ihr behaupten, sie versuche, die Grundzüge kultureller und psychischer Gebilde aus einer bestimmten ökonomisch erklärten Struktur ablesen. Es kommt ihr vielmehr darauf an, zu zeigen, in wie vermittelter Weise sich die grundlegenden Lebensverhältnisse der Menschen in allen ihren Formen, also auch in der Literatur, ausdrücken. Damit gewinnt die Psychologie ihren ganz bestimmten Ort in der Literaturwissenschaft“. Diese ist „ (…) zu einem großen Teil Ideologienforschung. Denn die Ideologie ist ein Bewusstseinsinhalt, der die Funktion hat, die gesellschaftlichen Gegensätze zu vertuschen und an Stelle der Kenntnis der sozialen Antagonismen den Schein der Harmonie zu setzen“ (Leo Löwenthal, Zur gesellschaftlichen Lage der Literatur).
Gesundheit und Arbeit - Ausstellung für Gewerbehygiene und Unfallverhütung, 31.2k Es geht Löwenthal also um die gesellschaftliche Funktion von Literatur, die als eine Widerspieglung gesellschaftlicher Verhältnisse erkannt wird und dem Schleier einer angeblichen Autonomie des Denkens bzw. des Geistes entrissen werden soll. Gerade die Denkweisen und Reflexionsformen der Menschen sollen als gesellschaftlich entlarvt werden, ohne sie dabei statisch aus diversen „wirtschaftlichen“ Interessen einzelner abzuleiten. Dies getan zu haben, kann als Leistung der „zweiten Welle“ der kritischen Theorie, also jener nach Marx, betrachtet werden. Der „affirmative Charakter der Kultur“ besteht laut Marcuse, darin- „… die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Weltreich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen (…). Ihre Rezeption wird zu einem Akt der Feierstunde und der Erhebung“ (Marcuse: Über den affirmativen Charakter der Kultur).
Die Frankfurter haben das klassische marxistische Basis-Überbau-Modell zu einer Ideologiekritik erweitert. Allerdings blieben sie zumindest in der Frühphase des Instituts an die marxistischen Koordinaten gebunden. Das Modell wurde nicht in Gänze in Frage gestellt, sondern es wurde an einer „ökonomischen Basis“ festgehalten, welche einen ideologischen, politischen, religiösen, rechtlichen Überbau hervor treibe. Es wurden lediglich die Wechselwirkung zwischen Basis und Überbau, spezieller: die Rückwirkung des Überbaus auf die Basis herausgearbeitet und die vielfältigen psychologischen Vermittlungsinstanzen offen gelegt. So spricht Horkheimer, wie oben zitiert, in „Geschichte und Psychologie“ von „eine(r) das Bewusstsein verfälschende(n) Triebmotorik“ oder Fromm von „der aktiven und passiven Anpassung des Triebapparates an die sozialökonomische Situation“. Dies ist nicht grundlegend anders, sondern lediglich nicht ganz so plump wie eine marxistische Argumentation. Die Triebmotorik verfälscht eben bloß, gehört nicht zur Konstitution des Ganzen hinzu, der Triebapparat passt sich lediglich aktiv oder passiv an, bildet aber keine Totalität mit der Ökonomie. Insofern handelt es sich hier um einen kritischen Marxismus, aber nicht um eine Überwindung des Marxismus. Die viel weiter reichenden Implikationen der Marxschen Theorie, die den Marxismus gleichzeitig bedingte wie auch weit hinter sich zurücklässt, wurden erst später aufgegriffen. Im Spätwerk Adornos deutet sich ein derartiger Übergang an, wurde jedoch nicht konsequent weiter gedacht – nicht von Adorno selbst und erst recht nicht von seinen geistigen Enkeln und Urenkeln. Martin D.

Fußnoten

(1) Selbstverständlich soll es hier nicht um hemmungsloses Ausleben jedweder Bedürfnislage gehen. Vielmehr kann eine emanzipatorische Bedürfniskritik überhaupt nur auf der Grundlage der Bedürfnisentfaltung diskutiert werden. In einer emanzipierten Gesellschaft wäre eigene Bedürfnisbefriedigung und Entfaltung ausschließlich von der Rücksichtnahme gegenüber anderen Individuen beschränkt. Heutige Bedürfnisbefriedigung hingegen ist vom Selbstverwertungszwang des Wertes und der damit korrespondierenden Abspaltung beschränkt.
(2) Im strengen, „emphatischen“ Sinne Adornos kann überhaupt erst im Kapitalismus von Gesellschaft gesprochen werden. Daher wurde auch Natur als das per definitionem Nicht-Gesellschaftliche erst im Kapitalismus konstituiert (freilich muss es, damit es überhaupt so was die Gesellschaft geben kann, ein quasi natürliches „Substrat“ geben, das nicht weiter in gesellschaftliche Vermittlung auflösbar ist). Vor diesem Hintergrund erweisen sich Theorien, die vom ewigen Ringen zwischen Mensch und Natur ausgehen oder die den Beginn der menschlichen Zivilisation mit dem Urschrecken der bedrohlichen Natur in Verbindung bringen, als ideologische Verschleierungen und Rechtfertigungen des bestehenden schlechten und unwahren somit abzuschaffenden Zustandes.

Teil 2 („Die Kritik des Antisemitismus“) erscheint in der nächsten Ausgabe des CEE IEH.


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last modified: 28.3.2007