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Kultur-Report, 1.7k

Da troppo tempo


Die italienische Sängerin Milva geht nun schon zum zweiten Mal auf „große Abschiedstournee“. Zeit also für eine – nun ja: unkritische – Würdigung durch Sven. Unter besonderer Berücksichtigung der „Sieben Todsünden“
von Brecht / Weill

Milva

In der Bundesrepublik ist Milva vor allem als Sängerin von Schlagern hervorgetreten. Auf ihr deutsches Repertoire trifft die Bezeichnung recht gut zu, die einst im Zusammenhang mit Katja Ebstein auftauchte: „sozialdemokratischer Erweckungsschlager“. Die Texte handeln von starken Frauen, die aber doch auch anlehnungsbedürftig sind, oft von der Liebe enttäuscht und häufig erbost über die schlechte und ungerechte Welt. Das kann man mögen – wie ich – muss man aber nicht. Außerdem – und leider meist außerhalb Deutschlands, nämlich in Italien, Frankreich, Japan und zuletzt auch in Israel – ist Milva Interpretin von Astor Piazollas Tangos, einzige Besetzung der Rolle der Straßensängerin in der selten gespielten Oper „La vera storia“ von Luciano Berio, der ihr diese Partie auf den Leib geschrieben hat und Brecht-Sängerin.

Druckerei, JVA Waldheim, 22.0k
Hergestellt in der Druckerei der JVA Waldheim


Angefangen hat alles 1959 bei einem Talentwettbewerb des italienischen Fernsehens, den unter 7.600 Teilnehmenden eine 19-jährige Fischerstochter aus Goro / Ferrara namens Maria Ilva Biolcati gewann. Anschließend war Milva, die bisher ihren Lebensunterhalt als Näherin von Papierkleidern für den Karneval verdient hatte (kein Witz!), sehr schnell in der Lage, die gesamte Familie zu ernähren. Sie hatte einen damals noch Impressario genannten Manager, der sie an die Nachtclubs der Umgebung vermittelte. Sie selbst sagt über diese Zeit, dass sie schwer an der Verantwortung für die Familie zu tragen hatte und dass im Gegensatz zu heute, wo sie sich aussucht, was sie macht, sie damals einfach gemacht hat, was ihr gesagt wurde. Später wird man sagen, dass in den Brecht-Rollen (meist junge naive Mädchen, oft Huren) Milva sehr genau wisse, wovon sie da singt.
In den späten 60-er Jahren (Milva war inzwischen mit einem Regisseur verheiratet) lernte sie Giorgio Strehler kennen, einen Brecht-Schüler, der in Mailand am Piccolo Teatro Intendant war. Diese Begegnung kann als schicksalhaft bezeichnet werden, denn nur im Zusammenwirken mit Strehler konnte Milva das werden, was sie heute ist: Er verpasste ihr die rot gefärbten Haare, das Image der Femme fatale und trainierte mit ihr die bühnentaugliche Gestik, die – zumindest im Fernsehen – von vielen als ein wenig penetrant empfunden wird. Man solle, brachte Strehler ihr bei, Emotionen auch noch in der letzten Reihe deutlich erkennen können. Dann begann eine Zusammenarbeit, die Jahrzehnte dauern sollte. Strehler hat die „Dreigroschenoper“ im Laufe der Zeit sehr oft und an vielen Bühnen inszeniert. Mit immer wechselnden Besetzungen, aber mit nur einer Seeräuber-Jenny: Milva („Sie ist meine Seeräuber-Jenny“). Das gemeinsame Bühnenprogramm „Milva canta Brecht“ war 1975 ein großer Erfolg (die Schallplatte ist sogar in der DDR erschienen). 1996 gab es eine Neuauflage mit (vor allem) Liebesliedern („Milva canta un nuovo Brecht“). Bertolt Brecht hat einige seiner Gedichte selbst vertont (zum Beispiel die berühmte „Erinnerung an die Maria A.“). Dieses Programm war die letzte Regie-Arbeit von Giorgio Strehler, der kurz darauf verstarb.
In gewisser Weise spaltet Milva die Brecht-Gemeinde. Die Puristen und Hardcore-Brecht-Anhänger meinen, jemand, der Brecht singt, darf nicht singen können. Das war wohl auch Brechts Ansicht. Es führte dazu, dass bei den Aufführungen von zum Beispiel der „Dreigroschenoper“ stets Schauspielerinnen und Schauspieler ohne jede Gesangsbegabung laut- und ausdrucksstark die Texte schmetterten zur Musik von zusammengewürfelten Kapellen. Andere sagen, Kurt Weill müsse nach Jahrzehnten auch endlich zu seinem Recht kommen: Die „Dreigroschenoper“ sei eine Oper von Weill (mit einem Libretto von Brecht). Sie kümmern sich um eine Aufführungspraxis mit Sängerinnen und Sängern und mit der von Kurt Weill vorgesehenen Instrumentierung. Eine exemplarische Aufnahme mit unter anderen René Kollo, Ute Lemper und Milva hat John Mauceri besorgt. Jedenfalls hatten Milva und Giorgio Strehler es nicht einfach damit, einfach mal das zu singen und zu spielen, was in der Partitur steht.

Leider wird beim Konzert am 15. Februar im Gewandhaus Brecht so gut wie keine Rolle spielen. Außer dem unvermeidlichen Mackie-Messer-Song, den nun aber wirklich alle schon verhunzt haben, steht kein Lied von Brecht auf dem Programm. Das liegt, nach Auskunft der Assistentin von Milva, Edith Meier, auch an der restriktiven Aufführungs-Rechte-Vergabe durch die Brecht-Erben. Vor allem aber dürfte der Grund darin zu suchen sein, dass das Publikum eben doch lieber Schlager hören will.

Buchbinderei, JVA Waldheim, 10.1k
Hergestellt in der Buchbinderei der JVA Waldheim


Milva ist jetzt 65 Jahre alt. Ihre Stimme ist in den letzten Jahrzehnten nachgedunkelt. Teile ihres Repertoires (insbesondere auch die Stücke von Brecht) hat sie sich tiefer setzen lassen, weil sie in den hohen Tönen nicht mehr ganz so sicher ist. Dafür ist die Stimme jetzt mehr denn je sowohl verraucht als auch verrucht. Die Technik, mit der Milva singt, gilt unter Fachleuten als falsch. Ihr wurde prophezeit, dass sie sich ihre Stimme kaputt macht, wenn sie die Singtechnik nicht ändert. Und tatsächlich musste bei der vorletzten Tournee ein Konzert in Dresden abgesagt werden, weil die Stimme plötzlich vollständig weg war. Auf der anderen Seite musste auf derselben Tour ein Konzert in Berlin in der Pause abgebrochen werden, weil die Diva hinter der Bühne umgefallen war und ins Krankenhaus musste („Ich hatte vergessen zu essen“). Bestimmte Ausfallerscheinungen sind im Rentenalter auch erlaubt.

Milva ist eine Linke. Aus den siebziger Jahren gibt es viele Aufnahmen von Kampfliedern. Sie trat gerne bei Pressefesten von kommunistischen Zeitungen auf. Und wenn schon Linke, dann richtig: Sie will nach ihrer Karriere als Sängerin eventuell in die Politik gehen: „Ich will eine linke Politik, das Gegenteil von dem, was heute in Italien und anderswo passiert.“ Einstweilen aber singt sie noch. Und zwar neuerdings auch auf von ihrem Freund Mikis Theodorakis organisierten Konzerten für die „Kinder in Afghanistan, im Irak und in Palästina, die unter Kriegen leiden“. Mikis Theodorakis ist seinerseits leider antisemitischer griechischer ex-kommunistischer Komponist, der Milvas schönste Lieder geschrieben hat.

„Die sieben Todsünden der Kleinbürger“

Kurt Weill lernte 1933 im Pariser Exil einen Millionär kennen, der für seine Frau, die Tänzerin Tilly Losch, ein Stück in Auftrag gab. Bertolt Brecht, der in die Schweiz emigriert war, sagte zu, obwohl er und Weill sich in den letzten Jahren ziemlich auseinander entwickelt hatten. Beide brauchten Geld. Brecht mochte kein Ballett. Es wurde ein Stück mit Gesang und Tanz daraus, das sich um die sieben Todsünden dreht. (Heute wird das Werk meist ohne Tanz aufgeführt.) Die Hauptperson ist Anna, die von ihrer Familie aus Louisiana / Mississippi in die großen Städte geschickt wird, um als Nachtclub-Tänzerin Geld für das Haus der Familie zu verdienen. Anna spaltet sich in die singende Anna I und die tanzende Anna II: „Meine Schwester ist schön, ich bin praktisch / Sie ist etwas verrückt, ich bin bei Verstand / Wir sind eigentlich nicht zwei Personen / Sondern nur eine einzige / Wir heißen beide Anna. / Wir haben eine Vergangenheit und eine Zukunft / Ein Herz und ein Sparkassenbuch / Und jede tut nur, was für die Andere gut ist.“

In sieben Jahren wird Anna mit den Todsünden Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Unzucht, Habsucht und Neid konfrontiert. Die Aufspaltung in zwei Personen erleichtert ihr das Überstehen der Widerlichkeiten, die das Arbeitsleben als Tänzerin und Animierdame mit sich bringt. Das Stück handelt von der Zurichtung des Subjekts im kapitalistischen „Normalbetrieb“. Besser wäre von Selbstzurichtung zu sprechen, denn Anna I und Anna II sind, wie gesagt, „eine einzige“. Am besten bringt das die Familie – dargestellt von einem vierstimmigen Männerchor – zum Ausdruck, die immer wieder und sehr eindringlich singt: „Wer über sich selber den Sieg erringt / Der erringt auch den Lohn.“

Es gibt sehr viele Interpretationen der „Sieben Todsünden“; zuletzt haben sich Marianne Faithfull und Meret Becker daran versucht. Man sollte aber Lotte Lenya (Ehefrau Kurt Weills und Sängerin der Uraufführung) folgen und Milva bevorzugen. Lotte Lenya hat, als sie Milva gehört hatte, aus New York wissen lassen, dass Milva die legitime Interpretin der Werke Weills sei. Wie oben schon erwähnt, nähert sich Milva dem Werk vom Gesang her, weniger von der Sprache. Das fällt ihr um so leichter, als sie kein Wort deutsch spricht. Milva singt alles rein phonetisch vom Blatt. Es ist nicht so, dass sie nicht wüsste, wovon sie singt (im Gegenteil weiß sie das eben ganz genau), aber sie kann die einzelnen Worte nicht eins zu eins übersetzen und damit auch nicht so betonen, wie Brecht es gewollt hätte, sondern sie singt so, wie Weill es sich ausgedacht hat. Und das hat einen sehr eigenen Reiz. Leider stammt die Aufnahme von 1982 und ist in Deutschland nur auf Vinyl (oder gerne bei mir als Überspielung auf Kassette) erhältlich. Es bleibt zu hoffen, dass Milva sich überreden lässt, die sehr anstrengende Partie (mit nicht geschulter Stimme gegen ein Kammerorchester und vier Männer ansingen) doch weiter live zu singen, wie sie das zuletzt in Dessau, Bitterfeld und Tel Aviv getan hat.

Sven

Es folgt der Text der letzten Todsünde:

Neid

ANNA I:

Und die letzte Stadt der Reise war San Francisco.
Alles ging gut. Aber Anna war oft müde und beneidete jeden,

Der seine Tage zubringen durfte in Trägheit
Nicht zu kaufen und Stolz
In Zorn geratend über jede Rohheit
Hingegeben seinen Trieben – ein Glücklicher
Liebend nur den Geliebten
Und offen nehmend, was immer er braucht.

Und ich sagte meiner armen Schwester
Als sie neidisch auf die Anderen sah:

Schwester, wir alle sind frei geboren
Und wie es uns gefällt, können wir gehen im Licht.
Also gehen aufrecht im Triumphe die Toren.
Aber wohin, aber wohin,
Aber wohin sie geh’n, das wissen sie nicht!

Schwester, folg mir und verzicht auf die Freuden,
Nach denen es dich wie die Andern verlangt.
Ach, überlass sie den törichten Leuten,
Denen es nicht, denen es nicht,
Denen es nicht vor dem Ende bangt!

Iss nicht und trink nicht und sei nicht träge,
Die Strafe bedenk, die auf Liebe steht.
Bedenk, was geschieht, wenn du tät’st, was dir läge.
Nütze sie nicht, nütze sie nicht,
Nütze die Jugend nicht, denn sie vergeht!

Schwester, folg mir, du wirst sehen am Ende
Gehst im Triumph du aus allem hervor.
Sie aber stehen vor schrecklichem Ende
Zitternd im Nichts, zitternd im Nichts,
Zitternd im Nichts vor verschlossenem Tor!



FAMILIE:

Wer über sich selber den Sieg erringt
Der erringt auch den Lohn.



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last modified: 28.3.2007