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Tomorrow-Café, 1.5k

Was ist kritische Theorie (1)


Hiermit möchte ich in einer kleinen Artikelserie meine Referatsreihe „Was ist kritische Theorie?“ in überarbeiteter Form zur Debatte stellen. Es handelt sich dabei zugleich um eine Einführung in die Thematik. Ich weiche dabei vom tatsächlich Referierten entscheidend ab. Die Texte geben also eher zu den Referaten Hintergrundinformationen, als dass sie sie wiedergeben.

Teil 1: eine Einführung ins Thema, betrachtet die Herkunft kritischer Gesellschaftstheorie und ihr Geschichtsbild.
Teil 2: soll das klassische Programm einer kritischen Theorie darstellen, die Marxsche Ökonomiekritik.
Teil 3: soll deren Aufgreifen durch die Autoren der später so genannten „Frankfurter Schule“ beleuchten.
Teil 4: der in diesen Ansätzen sich durchsetzende „kritische Pessimismus“ (Barbara Brick/Moishe Postone) soll hier Gegenstand einer kritischen Debatte sein. Inwieweit verfehlte die kritische Theorie ihr Ziel über Marx hinauszugehen und somit eine grundlegende Kritik alles bestehenden zu liefern?

Herkunft einer kritischen Gesellschaftstheorie:

Ich möchte im Folgenden erklären, was man unter „kritischer Theorie“ versteht. Sie grenzt sich ab von „traditioneller“ (Horkheimer), bürgerlicher, akademischer Theorie bzw. Wissenschaft. Es handelt sich bei ihr um keine objektive Wissenschaft, die die Gesellschaft „wertfrei“ beschreiben will. Vielmehr geht sie davon aus, dass, wer einen gesellschaftlichen Zustand, der den Menschen Hunger, Krieg und wirtschaftliche Zerrüttung und Degradierung zum Subjekt von Herrschaft einbringt, „wertfrei“ beschreiben will, bereits die Wertung, die er vermeiden wollte, vollzogen hat. Ein unmenschliches System kann man eben nicht „wertfrei“ beschreiben wollen, ohne sich auf seine Seite zu stellen. Daher ist eine „kritische Theorie“ eine Theorie, die mit dem Wunsch nach einer Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse antritt. Kritische Theorie ist untrennbar verbunden mit dem Streben nach Sozialismus, Kommunismus, der „befreiten Gesellschaft“ bzw. dem „Verein freier Individuen“ (diese Begriffe werden zumeist synonym gebraucht, Sozialismus in Abgrenzung zum Kommunismus als angeblich vorherige Entwicklungsepoche ist erst eine Erfindung der DDR-Philosophie, nämlich Walter Ulbrichts, Marx verwendet die Begriffe gleichbedeutend).

1) Die Suche nach einer vernünftig eingerichteten Welt

Die bürgerliche Aufklärung und ihre Revolutionen (die englische, französische, niederländische und amerikanische) wollten in den Augen ihrer Protagonisten Glück über die Menschen bringen. Aufklärer wie Rousseau, Voltaire, Holbach oder Kant stellten dazu Programme als Forderungen auf. Die Menschen sollten nach Vernunft streben, ihre gesellschaftliche Entwicklung vernünftig gestalten. Vernunft wurde als „Soll-Forderung“ der als irrational empfundenen alten Gesellschaft entgegengestellt. Die Welt und die Menschen sollten erst zur Vernunft gebracht werden. Für die Menschen ergab sich daraus die Verpflichtung, die Vernunft in sich selbst zu ehren, sich niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck zu betrachten (Kant, Kategorischer Imperativ). Das „Sittengesetz“ sollte den Menschen die Pflicht auferlegen, den gesellschaftlichen Mangel an Vernunft durch eigenes Handeln auszugleichen. Einen großen Stellenwert spielte dabei die Religion. Nach Kant sollen grundlegende religiöse Prinzipien, wie der Glaube an einen allmächtigen Gott und an die Unsterblichkeit der Seele den Menschen als leitende Prinzipien beim vernunftgemäßen und sittlichen Leben dienen auch wenn sie selbst im streng wissenschaftlichen Sinne ausdrücklich nicht belegt werden können. Kants theoretisches Werk, die „Kritik der reinen Vernunft“, will daher gerade den Geltungsbereich der strengen Wissenschaft einschränken um dem Glauben und der freien Entscheidung Platz zu machen, die sich nicht beweisen lassen aber dennoch entscheidend sind.
Der idealistische Philosoph Hegel trieb diesen Gedanken weiter: Die Vernunft solle dem Bestehenden nicht abstrakt entgegengestellt werden, sondern die Geschichte vollziehe sich an sich vernünftig nach einem verborgenen Plan, der auf die volle Entfaltung der Vernunft hinausliefe. Diese sollten die Menschen erkennen, um schließlich an den Punkt zu kommen, an dem sie diesen Prozess auch bewusst vollziehen. Dieser Gedanke führte Hegel letztendlich zu einer Rechtfertigung des Bestehenden, so dass er schließlich den preußischen Staat als vernünftigen Weg zum Ziel einer derartig vernünftigen Gesellschaft proklamierte. In der Religion drückt sich bei Hegel der sich entfaltende Geist = das menschliche Denken aus. Gott tritt hier nicht mehr als abstraktes Prinzip, nach dem ich mich richten soll, obwohl es nicht beweisbar ist, auf, sondern vielmehr als die Gesamtheit der sich entfaltenden menschlichen Gedanken in der Weltgeschichte, die in der vollkommen Selbstreflexion, im Sich-Selbst-Begreifen ihren Höchstpunkt finden und die als ganzes in sich vernünftig sind, sich aber zunächst noch nicht selbst als vernünftig begreifen.
Von diesem Programm setzten sich die linken Schüler Hegels (Bauer, Ruge, Strauß, Feuerbach) kritisch ab. Gesellschaftlich artikulierte Kritik sollte die bestehenden Verhältnisse angreifen und verändern. Immer noch gilt die Religion als entscheidende Äußerung des menschlichen Lebens. Durch ihre Kritik sollen gesellschaftliche Zustände verändert werden.
Besonders radikal forderte Feuerbach eine Gesellschaft der „sinnlichen Rationalität“, die sich nicht nur um eine vernünftige Entwicklung schert, sondern den Menschen als gleichermaßen sinnliches, wie vernünftiges, soziales Wesen zum zentralen Punkt haben sollte. Nach seiner Vorstellung habe sich das menschliche Denken einst in Einklang mit seinem eigenen Wesen und der Natur befunden (Naturreligion), habe sich von sich selbst entfremdet, dabei einen fernen Gott im Himmel postuliert und sich dabei in entfremdeter Weise mehr entdeckt und erkannt als auf vorheriger Stufe. So begriffen sich die Menschen als allmächtig und alles erkennend, was sie auf naturreligiöser Stufe nicht gekonnt hätten, weil sie auf dieser noch völlig in die Verrichtung ihres unmittelbaren Lebens eingebunden waren. Aber sie begriffen dies nur „entfremdet“. Sie sprachen nicht von sich als weisen und allmächtigen Wesen, sondern dichteten dies alles Gott an. Feuerbach meinte, dass die Menschen darin ihr eigenes selbst erkanntes Wesen spiegelverkehrt ausdrückten. Es käme in der Folge darauf an, eine wahrhaft menschliche Religion zu begründen, in deren Mittelpunkt der Mensch als sinnliches, liebendes, gesellschaftliches und vernünftiges Wesen stehe. Diese Religion solle das menschliche Leben in allen seinen Bereichen durchdringen. Also auch hier ist es eine religiöse Veränderung, eine „Denkrevolution“, die das tatsächliche Leben der Menschen verändern sollte.
Auch Karl Marx und Friedrich Engels kamen aus dieser Denktradition. Sie hörten Vorlesungen bei Hegel, gehörten zum „Doctorenclub“, dem Kern des Links-Hegelianismus um Bauer, Strauß und Ruge. Und Engels formulierte später einmal, dass nach dem Erscheinen von Feuerbachs wichtigsten Schriften „momentan alle Feuerbachianer“ (Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie) waren.
Eine vernünftige Gesellschaft sei jedoch erst möglich durch einen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse. Weder ein abstraktes Programm, wie es die alten Aufklärer vertraten, noch das Vertrauen auf den blind wirkenden Fortschritt könne eine menschliche Gesellschaft entstehen lassen. Daher formulierten sie ein Programm der Kritik, dessen Grundaussagen sind: 1) ein grundlegender Bruch durch einen gesellschaftlichen Umsturz ist nötig, um die Gesellschaft menschlich werden zu lassen, 2) jedoch, diese Möglichkeit ergibt sich aus der bisherigen Geschichte, sie muss, damit sie verwirklicht werden kann, im Bestehenden angelegt sein. Es darf also nicht um schöne Sonntagsutopien gehen. Es muss nach den Widersprüchen im Bestehenden und den sich daraus ergebenden Möglichkeiten gesucht werden.
Wichtiger Schwerpunkt war auch bei Marx und Engels die Religionskritik. Marxens Kritik an der Religion läuft darauf hinaus, ihren Stellenwert im menschlichen Leben zu ergründen. Sie sei einerseits Verschleierung des Elends, andererseits drücke sie jedoch gerade mit dieser Verschleierung das wirkliche Elend aus. Sie ist sozusagen „die Wahrheit im Gewande der Lüge“ (Schmidt). Die Menschen ertragen ihr schlechtes Leben auf Erden, indem sie sich eine einst schöne Welt im Himmel erträumen. Die bisherige Religionskritik habe sich nur darauf beschränkt, die religiösen Erdichtungen als falsch zu betrachten, bzw. wollte gesellschaftliche Veränderungen durch Veränderung der Religion erreichen. Stattdessen komme es aber darauf an, ihren wirklichen Sinn zu erkennen: ein schönes Leben im Himmel wird aufgrund des elendigen Lebens auf Erden ersponnen. Die notwendige Konsequenz der Religionskritik ist daher die praktische Umwälzung, der gesellschaftliche Umsturz, die Verwirklichung eines wirklich menschlichen Lebens. In dieser Revolution soll sich der Mensch von seinem entfremdeten Dasein befreien.
„Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.“ (MEW 1, S. 378)
„Drückte er sein eigenes Wesen bisher nur in der Religion aus, so soll er es jetzt wirklich leben, also praktisch gesellschaftlich in einer menschlichen Gesellschaft Wirklichkeit werden lassen“.
„Die Kritik, die sich mit diesem Inhalt befasst, ist die Kritik im Handgemenge, und im Handgemenge handelt es sich nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger, ein interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen.(381) … Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem [am Menschen] demonstriert und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel zu fassen. Die Wurzel für den Menschen aber ist der Mensch selbst… Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist…“ (385)
Dieses Programm ist bisher nicht verwirklicht worden. Vielmehr brachte die bürgerliche Gesellschaft nach Marx noch unsäglicheres Elend hervor als es Marx und Engels ahnen konnten. „Die vollends aufgeklärte Erde erstrahlt im Zeichen triumphalen Unheils“ formulieren Horkheimer und Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“. Das Programm der Philosophie, die vernünftige Gesellschaft, habe sich nicht verwirklicht: „Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward“, lässt Adorno seine „Negative Dialektik“ beginnen.
Auch bis heute ist die Erlösung in Form eines „Vereins freier Individuen“ bisher ausgeblieben. Stattdessen häufen sich die gesellschaftlichen Katastrophen, und die Menschheit scheint dem großen Clash entgegenzustreben. Dieser Eindruck einer „versäumten“ Revolution lastete bereits auf den frühen Autoren der „Frankfurter Schule“. Welche Perspektiven ergeben sich für eine kritische Theorie heute? Um das rauszufinden, soll vorher das Marxsche Kritikprogramm debattiert werden.

2) Kritische Geschichtsbetrachtung: Brechung der „naturwüchsigen Gesellschaft“

Die bürgerliche, kapitalistische Gesellschaft wurde von Marx als „naturwüchsige“ bezeichnet. Er meinte damit, dass diese Gesellschaft sich nicht nach dem Willen der Menschen entwickelt. Sie produzieren in ihr riesige Gütermengen und müssen inmitten dieser verhungern, sie schaffen ausreichend Reichtum für alle, und dennoch brechen Kriege um Besitzstände aus. Marx wollte der Entwicklungsdynamik dieser Gesellschaft auf die Spur kommen, ergründen wie sich entwickelt und durchgesetzt hat und welche Möglichkeiten einer Durchbrechung eventuell in ihr schlummern könnten. In diesem Kontext entstand die Marxsche kritische Geschichtsbetrachtung, die später als historischer Materialismus Bedeutung erlangte.
Marx bestimmt den Menschen als auch gesellschaftliches Wesen. In Abgrenzung zu seinen vorherigen Überlegungen geht Marx nicht mehr von einem ursprünglichen menschlichen Wesen aus, sondern bestimmt dieses als „ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse“ (Thesen über Feuerbach). Der Mensch wird einerseits als Naturwesen betrachtet, andererseits als gesellschaftlich bestimmtes Wesen. Als gesellschaftliches Wesen stellt er sich der Natur als denkendes und tätiges Wesen entgegen, bleibt jedoch stets dabei auf sie bezogen und ein Teil von ihr. Es besteht selbst aus Natur, denkt mit Natur, seinem Gehirn, lebt von Natur, bezieht sich in seiner Tätigkeit auf Natur. Gewissermaßen tritt die Natur im Menschen sich selbst gegenüber. Der Mensch tauscht sich beständig mit der Natur aus und verändert sie, eignet sie sich an. Diesen Prozess fasst Marx begrifflich als gesellschaftliche Praxis. Praxis vereint die Umformung der Natur durch den Menschen und das dazu nötige gemeinsame gesellschaftliche Handeln der Menschen. Als sich von der lösende waren Menschen von Anbeginn Individuen. Überhaupt können Menschen prinzipiell nur als Individuen gedacht werden. „Individualität gab es in allen historischen Gesellschaften, weil ein Verhältnis des einzelnen zu einer gesellschaftlichen Form mit der zweiten Natur an sich schon gesetzt ist und daher mit der Menschwerdung zusammenfällt. Stets musste daher der einzelne Mensch als solcher wahrgenommen werden und hatte seine Spielräume, auch wenn sich diese Individualität auf verschiedene Weise äußerte…“ (Robert Kurz, Negative Ontologie).
Diese gesellschaftliche Praxis wird von Marx als eine naturwüchsige bestimmt. Das bedeutet, sie ist nicht der bewussten Entscheidung der Menschen unterworfen, sondern folgt einem blinden Zwang, dem sich die Menschen ihrerseits unterwerfen müssen. Einerseits wird diese Praxis also von den Menschen betrieben – aber andererseits nicht bewusst, sondern blind über sie hinweg und durch sie hindurch. Diese naturwüchsige Ordnung gestaltet sich im Kapitalismus zu einer Unterordnung der Menschen unter die materielle Produktion aus. Zwischen den Austauschprozess zwischen Mensch und Natur schiebt sich die Arbeit und das Prinzip der Verwertung. Menschlicher Stoffwechsel mit der Natur passiert hier nur noch, wenn gleichzeitig dabei aus Geld mehr Geld erzeugt werden kann, also Mehrwert entspringt. Eine derartige Gesellschaft vollzieht sich laut Marx als „Produktionsweise“, die aus einem ständigen Wechselprozess zwischen „Produktivkräften“ und „Produktionsverhältnissen“ resultiert. Als Produktivkräfte werden von Marx die unmittelbaren Mittel der Naturbeherrschung (Werkzeuge, Maschinen), das Wissen über Naturvorgänge (Wissenschaft und Technik), Wissen und Mittel zur Organisierung und Disziplinierung der Arbeitenden sowie die Straßen, Eisenbahnschienen und Transportmittel begriffen. Als Produktionsverhältnisse gelten die ihnen entsprechenden Klassenverhältnisse (der kapitalistische Produktionsprozess beruht zwingend auf dem Vorhandensein von Lohnarbeitern und Leuten, die die Produktion organisieren und verwalten), die Struktur der Arbeitsteilung sowie die Eigentums- und Rechtsverhältnisse gefasst. Entwicklungen der Produktivkräfte bringen entsprechende Veränderungen der Produktionsverhältnisse hervor. Beide zusammen bewirken dann eine Veränderung des als Produktionsweise gefassten „gesellschaftlichen Verhältnisses“. So kann die gesamte Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft als von Erneuerungen der Produktivkräfte inspiriert betrachtet werden. Der immense Aufschwung der Produktivkräfte ab Ende des 19. Jahrhunderts machte eine völlig andere Organisation der Gesellschaft notwendig. Marxens Analyse besagt, dass die Entwicklung der Produktivkräfte eines Tages die kapitalistische Gesellschaft ad absurdum führen könnte: „In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte… und was damit zusammenhängt, dass eine Klasse hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen“ (Deutsche Ideologie, S. 71)
Im traditionellen Marxismus wurde das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen auf eine sehr verkürzte Art verstanden. Produktivkräfte wurden gleichgesetzt mit jeglicher materieller Produktion. Die Produktionsverhältnisse hingegen wurden lediglich als Verteilung (Distribution) der durch diese Produktivkräfte erzeugten Produkte interpretiert. Während sich die kapitalistischen Produktivkräfte, die kapitalistische Industrie entfaltet, stößt sie irgendwann an die Grenzen, indem sie zwar einerseits gesellschaftlich produziert (also alle Arbeiter gemeinsam), andererseits aber nur einzelnen die Aneignung des übergroßen Reichtums gestattet, nämlich den Kapitalisten. Daher sind diese wenigen an einem Punkt nicht mehr in der Lage, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zu tragen (sie müssten ja sonst immer mehr neue Produktivkräfte hervorbringen, die die Arbeitenden immer weiter zu gesellschaftlicher Arbeit zusammenführen, und damit immer mehr an ihrer eigenen Existenz sägen), während andererseits die Arbeitenden durch fortwährendes kompliziertes gemeinsames Produzieren, ohnehin in der Lage sind, die Gesellschaft in die eigenen Hände zu nehmen. So soll sich schließlich die Übernahme der Gesellschaft durch die Arbeitenden vollziehen. Der Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus reduziert sich in dieser Perspektive auf eine andere Verteilungsweise. Der eigentliche Kern der Gesellschaft, der kapitalistische Produktionsprozess, wird einfach so übernommen. Daher ist es unsinnig, den traditionellen Marxisten „Ökonomismus“ vorzuwerfen. Die Ökonomie wollten sie so wenig verändern wie nur irgendwer. Ihre Korrekturen konzentrierten sich auf die Art der Verteilung, die Verwaltung der Produktion und den Staat, also die Politik, die die Arbeitenden selbst übernehmen sollten, um die Ökonomie zu planen und ihre Produkte zu verteilen.
Die weiter gehende Sichtweise, wie sie in diesem Text dargestellt werden soll, begreift Kommunismus zentral als Veränderung der Ökonomie. Problematisch ist nicht die Verteilung der hergestellten Produkte, sondern gerade diese Verteilung wird als notwendig aus der Form ihrer Herstellung heraus begriffen. Dass im Kapitalismus die übergroße Zahl der Menschen im Elend lebt und diese Zahl immer größer wird, ist Resultat einer bestimmten Form der Produktion. Die Tatsache, dass Menschen im Kapitalismus in der Form der Arbeit, niemals nach gemeinsamer Absprache gemeinsam die Produktion organisieren, sondern dass diese quasi getrennt vom gesamtgesellschaftlichen Wollen nur dem individuellen Wollen folgt (die Arbeiter, die nur produzieren, um Lohn zu kriegen, um leben zu können; die Unternehmer, die Waren produzieren und verkaufen wollen, um Gewinne zu erwirtschaften) macht, dass diese Gesellschaft als ganzes nicht kontrollierbar ist, einem blinden Wachstumszwang folgt und zu jener Verteilung führt, die immer mehr Menschen ins Elend stößt (ausführlich wird dieser Prozess im Teil 2 in der nächsten Ausgabe beschrieben).
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse sind in diesem Verständnis „Objektivationen der gesellschaftlichen Aktion der vergesellschafteten Individuen“ (Bolte). Also: die Leute produzieren, tun dies aber nicht nach gesellschaftlicher Absprache. Ausdruck dessen ist ein blinder Entwicklungsprozess. Weder die Produktion selbst noch ihre äußeren gesellschaftlichen Bedingungen können im Interesse der Menschen gestaltet werden. Das was die Menschen tun, objektiviert sich vielmehr, wird eine eigenständige ihnen gegenüber stehende Macht, der sie unterworfen werden. So werden die Dinge mit denen sie produzieren erst zu Produktivkräften, sie sind dies also nicht an sich und werden es auch nicht immer sein. Ebenso werden, die Dinge, mit denen Menschen produzieren, nicht immer bestimmte Produktionsverhältnisse hervorbringen. Überhaupt wird die gesamte Gesellschaft nicht immer eine vom Wechselverhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen bestimmte „Produktionsweise“ sein – sondern zum Beispiel ein „Verein freier Individuen“. Solange sie das nicht ist, muss von einer naturwüchsigen Gesellschaft gesprochen werden.
Es muss die Form der Produktion, die Arbeit selbst, in den Mittelpunkt der Kritik rücken. Daher bestimmt Marx auch in der Deutschen Ideologie eine kommunistische Umwälzung wie folgt: „… während die kommunistische Revolution sich gegen die bisherige Art der Tätigkeit richtet, die Arbeit beseitigt und die Herrschaft aller Klassen mit den Klassen selbst aufhebt“. Daher ist „eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig (…) die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann (…) weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen…“(71f). In einer solchen Gesellschaft ist dann eine andere Art von Tätigkeit möglich, die man so charakterisieren kann: „… während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweig ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer oder Kritiker zu werden“ (30).
Aus der oben skizzierten Unterscheidung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen resultiert die Unterscheidung von gesellschaftlicher „Basis“ und dem so genannten „Überbau“. Unter Basis werden neben den jeweiligen Produktionsverhältnissen jene grundlegenden Faktoren verstanden, die direkt auf den menschlichen Lebensprozess wirken: also etwa auch Verteilungsverhältnisse, Arbeitsteilung und Klassenstruktur, die notwendige Arbeitszeit zur Herstellung der Produkte oder der Handel. In den „Überbau“ gehören Religion, Moral, Recht und die Politik – also jene Erklärungen und Reflexionen der Individuen, mit denen diese sich ihre Gesellschaft erklären. Diese Elemente können und müssen rückwirkend auch die gesellschaftliche Basis entscheidend verändern. Oft wird diese Einteilung im hyperkritischen Reflex für schematisch gehalten und zurückgewiesen. Dennoch sollte ihre wichtige Funktion für eine Gesellschaftskritik anerkannt werden: es gelang Marx mit dieser Denkweise die Elemente des Überbaus von ihrem quasi selbständigen Schein zu befreien und damit die Grundlage für eine materialistische Ideologiekritik zu legen. Als Ideologen werden von Marx gerade jene bloßgestellt, die Erscheinungen des Staates, der Religion, der Politik ein eigenständiges Leben zusprechen. Indem Marx auf die gesellschaftlichen Verhältnisse rekurriert, unter denen sie entstanden sind, entkleidet er diese Erscheinungen ihres Scheins. Er erklärt Denkweisen aus gesellschaftlichen Verhältnissen – das ist Ideologiekritik.
Tatsächlich wurde auch dieser marxsche Ansatz im traditionellen Marxismus verflacht dargestellt. Im Marxismus-Leninismus (der nichts aber auch gar nichts mit Marx – und auch nicht sonderlich viel mit Lenin zu tun hat) wurde bisweilen gar von einer positiv besetzten sozialistischen, linken oder proletarischen Ideologie gefaselt. Dieser Unfug hat sich bis heute erhalten. Nach dieser Denkweise bringen bestimmte Leute im Kapitalismus aus ihrer Stellung im Produktionsprozess (ihrer Stellung als Lohnarbeiter) per se die richtige Denkweise, die „richtige Ideologie“ hervor. Mit dieser Hoffnung muss entschieden gebrochen werden. Automatisch aus der kapitalistischen Struktur entsteht nie und nimmer richtiges Bewusstsein, sondern immer nur Ideologie, also notwendig falsches Bewusstsein. Daraus ergibt sich freilich folgerichtig die Fragestellung, wie eine kritische Theorie, eine Analyse der Gesellschaft mit Anspruch auf Wahrheit überhaupt Geltung beanspruchen kann (Boris karikiert diesen Anspruch in incipito 06 in „Gibt es eine richtige Kritik des Wahrheits-(s)-Glaubens“). Eine Antwort wird in den folgenden Teilen entwickelt.
Die Tatsache, dass menschliches Denken sich als Überbau über den materiellen Produktionsprozess wölbt, muss im Gegensatz zur marxistisch-leninistischen Interpretation dieser Marxschen Lehre nicht als hinzunehmende Tatsache, sondern als zu beseitigender Skandal begriffen werden. Dass das Denken Ausdruck der Form ist, in der die Menschen produzieren, dass nicht vielmehr ihre Produktion Ausdruck ihrer Wünsche und Bedürfnisse ist, das ist gerade das, was als „natürwüchsige Gesellschaft“ überwunden und durch den Kommunismus ersetzt werden muss.

Ausblick

Im Teil 2 sollen die gesellschaftlichen Bewegungen im Kapitalismus genauer unter die Lupe genommen werden. Dabei soll insbesondere das Kapital als „prozessierender Widerspruch“ (Marx, Grundrisse) ins Blickfeld rücken. Diese Widersprüche lassen letztlich in der historischen Entwicklung keine andere Perspektive zu, als eine Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, und zwar entweder durch Auflösung jeglicher Gesellschaft oder durch Überführung in eine menschliche. Rosa Luxemburg gebrauchte für diese beiden Optionen die Formulierung „Sozialismus oder Barbarei“. Marx sprach diesbezüglich vom Zustand der „Krise“. Im Kontext dieser Krise, dieser Entscheidungssituation, wähnten sich die Begründer des Instituts für Sozialforschung, für die später im engeren Sinne der Ausdruck „kritische Theorie“ verwendet wird. Sie wollen das Marxsche Kritikprogramm auf andere Bereiche als jenes der Ökonomie und Geschichte ausdehnen. Betrachtet wurden vor allem Kultur (Marcuse), Literatur (Löwenthal), Musik (Adorno) oder Psychologie (Fromm, Horkheimer). In den Mittelpunkt rückte also die Ideologiekritik. Nach ihrer Perspektive hätten sich die Widersprüche des Kapitals zu einer widerspruchsfreien Totalität fortentwickelt. Nicht mehr ökonomische Widersprüche, sondern die Totalität des Staates würde die moderne Gesellschaft bestimmen. Daher jene Verschiebung von Analyse der Ökonomie hin zu Problemen, die noch bei Marx unter „Überbauphänomene“ figurieren. Friedrich Pollock, entscheidender Mitbegründer des Instituts für Sozialforschung, sprach in diesem System von einem „Primat der Politik“, welches im modernen Kapitalismus gelte und welches ein „Primat der Ökonomie“ abgelöst habe, welches noch im „liberalen Kapitalismus“ gegolten habe. Diese Ansätze sollen im Teil 3 geschildert und im letzten Teil schließlich vor dem Hintergrund der Marxschen Kritik überprüft werden. Damit sollen Ansätze zur Entwicklung einer kritischen Theorie auf der Höhe der Zeit geliefert werden.

Martin Dornis

Literatur (primär)
• Karl Marx: Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung
• Karl Marx: Thesen über Feuerbach
• Karl Marx: Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie
• Karl Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie
• Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie
• Max Horkheimer: Kritische und traditionelle Theorie
• Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung
• Theodor W. Adorno: Negative Dialektik

Literatur (sekundär)
• Boris: „Gibt es eine richtige Kritik des Wahrheits-(s)-Glaubens“), in incipito 06
• Gerhard Bolte: Von Marx bis Horkheimer. Aspekte kritischer Theorie
• Alfred Schmidt: Zum Begriff der Natur in der Lehre von Marx
• Alfred Schmidt: Praxis
• Robert Kurz: Negative Ontologie

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last modified: 28.3.2007