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Das Elend des Theoretikers
Herbert Marcuse: Der
eindimensionale Mensch.


Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industrie-Gesellschaft, dtv 1998
Herbert Marcuse - Der eindimensionale Mensch, 10.1k Joschka Fischer und Dieter Bohlen haben ihn gelesen, den 68er- Klassiker "Der eindimensionale Mensch" von Herbert Marcuse. Der eine macht jetzt in Angriffskrieg, der andere in Kulturindustrie – beides Phänomene, die Marcuse in seinem Buch entlarvt und angreift. Eine Lektüre des Buches führt allerdings zu der überraschenden Erkenntnis, dass daran der Joschka und Dieter den gleichen Anteil haben wie der Herbert.

Nun mag man zur Ehrenrettung Marcuses anbringen, dass Joschka und Dieter den Herbert nicht richtig verstanden haben oder ihm untreu geworden sind. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob Marcuse zu verstehen ist und Treue zu ihm gut gewesen wäre. Ich würde beides verneinen und behaupten, dass bei einer Bewegung, die erst Marcuse gelesen hat(1) und dann entweder Bullen verkloppt (Fischer) oder eine rote Fahne auf dem Anwesen des Vaters gehißt hat (Bohlen), nichts besseres hätte rauskommen können.

Marcuse schreibt selbst über seinen Bestseller: “Im Brennpunkt meiner Analyse stehen Tendenzen in den höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften. Ich entwerfe diese Tendenzen und biete einige Hypothesen, nichts weiter.” Nun ist Marcuse nicht Gott und entwirft somit auch keine Tendenzen, sondern beschreibt sie. Das läuft darauf hinaus, dass die moderne Gesellschaft aufgrund der Technologie verdorben und jeder Ausweg auf Befreiung durch die Korrumption des Proletariats, vermittelt über den Wohlstand, verstellt ist. Die Technologie sei aber gleichzeitig die Voraussetzung für eine bessere Gesellschaft. Die Hypothese, die er im prophetischen Schlusskapitel “10. Beschluß” präsentiert, läuft darauf hinaus, dass es vielleicht doch noch Hoffnung auf ein revolutionäres Subjekt geben könnte, nämlich: “Unter der konservativen Volksbasis befindet sich jedoch das Substrat der Geächteten und Außenseiter: die Ausgebeuteten und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben, die Arbeitslosen und die Arbeitsunfähigen. Sie existieren außerhalb des demokratischen Prozesses ... Damit ist ihre Opposition revolutionär, wenn auch nicht ihr Bewußtsein. Ihre Opposition trifft das System von außen und wird deshalb nicht durch das System abgelenkt ... Wenn sie sich zusammenrotten und auf die Straße gehen, ohne Waffen, ohne Schutz, um die primitiven Bürgerrechte zu fordern, wissen sie, daß sie Hunden, Steinen und Bomben, dem Gefängnis, Konzentrationslagern, selbst dem Tod gegenüberstehen. ... Die Tatsache, daß sie anfangen, sich zu weigern, das Spiel mitzuspielen, kann die Tatsache sein, die den Beginn des Endes einer Periode markiert.” (S. 267)

Die neue soziale Bewegung: KampfhundebesitzerInnen, 32.4k
Die neue soziale Bewegung: Kampfhunde-BesitzerInnen
Nun ist man geneigt zu ergänzen, dass er in seiner Aufzählung der revolutionären Subjekte eines vergessen hat: nämlich die KampfhundebesitzerInnen. Ihnen wird nämlich vom demokratischen Prozeß gesagt, dass ihre Hunde einen Maulkorb benötigen (“Gefängnis”) oder eingeschläfert gehören (“Tod”). Sie selbst halluzinieren sich als die neuen Juden und wähnen sich ebenfalls schon in Konzentrationslagern. Was wie ein schlechter Witz klingt (zumal Marcuse die Bürgerrechtsbewegung der KampfhundebesitzerInnen aufgrund seines Todes im Jahre 1979 nicht mehr erlebt hat), erscheint in der Logik von Marcuse nicht mal so absurd: “Es ist auch natürlich, daß die großen Fische die kleinen fressen – obgleich das den kleinen Fischen nicht natürlich erscheinen mag.” (S. 249) Marcuse bemüht hier allerdings nicht (nur) ein Tier-Gleichnis für die kapitalistische Realität, sondern meint auch die Natur selbst, also die echten großen und die kleinen Fische, die sich im Sinne der “Befriedung des Daseins” (S. 232) nicht mehr auffressen sollen. Denn die “Hölle ... auf Erden” werde nicht nur durch den Menschen, sondern auch von der Natur hervorgebracht. (S. 248). “Die schreckliche Vorstellung, daß das vorrationale Leben der Natur dazu bestimmt sei, für immer ein solches (hilfloses und herzloses) Universum zu bleiben, ist weder philosophisch noch wissenschaftlich ... Die Zivilisation bringt die Mittel hervor, die Natur von ihrer eigenen Brutalität, ihrer eigenen Unzulänglichkeit, ihrer eigenen Blindheit zu befreien.” (S. 249) Der Mensch hat also nach Marcuse nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, die Natur um ihrer selbst wegen (!) zu zivilisieren, zum Paradies auf Erden zu machen, vor ihrer eigenen Grausamkeit zu retten. Wie soll dies geschehen? Marcuse bringt etliche Beispiele: “Die Bebauung des Bodens ..., die Gewinnung natürliche Ressourcen ..., die Lichtung der Wälder ...”, die Bekämpfung “krebsartiger Wucherungen”, Schutz der Tiere usw. “Die Zivilisation hat diese ... befreiende Umgestaltung (der Natur) in ihren Gärten, Parkanlagen und Schutzgebieten erreicht.” – Dort nämlich, in den gut gepflegten englischen Schloß-Gärten, verspeist kein Fisch einen anderen (weil es nur gleichgroße Goldfische gibt) und kein Kampfhund trägt einen Maulkorb (weil sie vorher eine Hundeschule genossen haben und wissen, wann hund zubeißt), dort ist es gelungen, nun wieder mit den Worten Marcuses, “... Herrschaft und Befreiung zu verknüpfen, Herrschaft zur Befreiung hinzulenken. In diesem Fall verringert der Sieg über die Natur deren Blindheit, Grausamkeit und Fruchtbarkeit – was einschließt, daß sich die Grausamkeit des Menschen gegenüber der Natur verringert.” (S. 251)
Das ist die ökologische Variante der Broken-windows-Theorie(2): Macht die Natur weniger grausam (wilde Büsche werden auf parktaugliche Hecken zurechtgestutzt) und schon wird der Mensch von ganz allein zum umweltgerechten Handeln angehalten und z.B. nicht seinen Kaugummi auf den frisch gemähten Rasen ausspucken. Einige werden sich noch fragen, ob der Mensch sich wirklich für alle Tiere, Pflanzen und Mineralien in diesem Sinne verantwortlich fühlen sollte, andere mögen einwenden, dass in den von Marcuse propagierten Naturschutzreservaten eine rassistische Vertreibungspolitik der “primitiven Eingeborenen” stattfindet, da sie als unfähig gelten, Naturschutz als menschliches Gut zu begreifen.
Marcuse weiß aber: “Ein neuer Lebensstandard, der Befriedung des Daseins angepaßt, setzt auch voraus, daß die künftige Bevölkerung abnimmt.” (S. 254) Warum nicht mit jenen Menschen anfangen, die mit unserem Lebensstandard sowieso nichts am Hut haben und kriegerisch durch die Wälder ziehen. Übertrieben? Nein, denn Marcuse hält “Überbevölkerung” für das Hauptproblem der “unterentwickelten Länder” und die “Diffamierung der Geburtenkontrolle” ist eine reaktionäre Ideologie (S. 249): Die Überbevölkerung sei eine kapitalistische Erfindung, da unsere “Gesellschaft einer stets zunehmenden Zahl von Kunden und Anhängern bedarf; die beständig erneuerte, überschüssige Kapazität muß bewältigt werden.” (S. 254). Die Auswirkungen dieser vermeintlichen Menschenzucht für den Absatzmarkt sind eine expansive Außenpolitik, “internationale Aggressivität” (wir erinnern uns: der Zweite Weltkrieg, weil Deutsche zu wenig Lebensraum hatten) sowie “innerhalb der Nation” das Ende der Privatheit, womit “die Möglichkeit jener Isolierung ausgeschaltet (ist), in der das Individuum, allein auf sich zurückgeworfen, denken, fragen und etwas herausfinden kann.” (S. 255)

Der einsame Denker – so scheint es zumindest – sieht sich in seinem Landhaus von den Zumutungen der Großstadt belästigt: “Der Grad, in dem es der Bevölkerung gestattet ist, den Frieden zu stören, wo immer es noch Friede und Stille gibt, unangenehm aufzufallen und die Dinge zu verhäßlichen, vor Vertraulichkeit überzufließen und gegen die guten Formen zu verstoßen, ist beängstigend.” (S. 255) Wenn er nur die Deutschen auf Mallorca meinen würde, könnte man es noch verstehen – wobei eine solche billige Polemik in einem philosophischen Werk nichts zu suchen hätte. Marcuse aber meint es generell. Warum er dann so Angst vor den Atomwaffen hat, möge einer verstehen: Sie schaffen bei Abwurf den von ihm propagierten “Ewigen Frieden” (S. 241), sorgen für die finale Stille, lösen das Problem der Überbevölkerung und garantieren ihm in seinem Atombunker 85 Quadratmeter Privatheit. Nach dem Atomkrieg ist auch Schluss mit der “Auslieferung des Schlafzimmers an die Kommunikation der Massenmedien.” (S. 39)
Wie die zutiefst städtische und auf die Aufhebung der Privatheit zielende 68er-Bewegung, die in Kommunen Gruppensex und Formen des kollektiven Zusammenlebens ausprobierte, einen “My home is my castle”-Theoretiker positiv rezipieren konnte, der sich vor den “Zügellosigkeiten”, “Tönen”, “Anblick” und “Gerüchen” der Menschenmassen ekelt (S. 256), bleibt ein Rätsel.
“Kann eine Gesellschaft, die außerstand ist, das private Dasein des Individuums auch nur in den eigenen vier Wänden zu schützen, rechtmäßig behaupten, daß sie das Individuum achtet und eine freie Gesellschaft ist?” (S. 256) – eine schöne Frage, die sich in jedem bürgerbewegten Aufruf gegen den Großen Lauschangriff gut gemacht hätte, aber meilenweit am Kern des Problems vorbeigeht. Immerhin ist die Erfindung der Privatheit eine bürgerliche Sache gewesen, die in dieser Form lediglich im Kapitalismus Sinn macht. Nun mag man diese Erfindung prinzipiell für vernünftig halten, doch bei der Transformation der Privatheit, die mit der Ablösung des Fordismus durch den Postfordismus einhergeht, in moralisches Geschrei zu verfallen und von der Abschaffung der Privatheit zu faseln, ist reaktionär. Und eigentlich wusste dies die 68er-Bewegung auch, die sich “Das Private ist politisch” auf die Fahnen geschrieben hatte und den Mief der bürgerlichen Privatheit durchbrechen wollte.

Die Affinität der 68er zu Marcuse ergab sich wahrscheinlich aufgrund des romantischen Verständnisses von Natur und Natürlichkeit – Vorboten der deutschen Umweltbewegung kündigten sich da schon an. “Die Mechanisation hat auch Libido ‚eingespart‘, die Energie der Lebenstriebe ... Darin besteht der Wahrheitskern des romantischen Gegensatzes zwischen dem modernen Reisenden und dem wandernden Dichter oder Handwerker, zwischen Fließband und Kunsthandwerk, zwischen Stadt und Land, Brot, das in der Fabrik produziert wurde, und dem selbstgebackenen Laib, dem Segelboot und dem Außenbordmotor usw.” Damals, in der guten alten Zeit, “gab es eine ‚Landschaft‘, ein Medium lustbetonter Erfahrung, das nicht mehr existiert.” (S. 92) In Folge zogen die Öko-Hippies getreu der Handlungsmaxime der “Kritischen” Theorie Marcusischer Prägung auf’s Dorf, lernten das Handwerk des Brotbackens oder des Holzamulett-Bastelns – und bekamen auf diese Art und Weise nie genug Geld zusammen, um sich ein Motor- geschweige denn ein Segelboot zu kaufen. Das war nicht weiter schlimm, denn wenigstens der Sex in der Natur machte wieder Spass: “Man vergleiche zum Beispiel das verliebte Treiben auf einer Wiese und in einem Auto, bei einem Spaziergang der sich Liebenden außerhalb der Stadtmauern oder auf einer Straße von Manhattan. In den erstgenannten Fällen hat die Umgebung teil an der libidinösen Besetzung, kommt ihr entgegen und tendiert dazu, erotisiert zu werden. Die Libido geht über die unmittelbar erogenen Zonen hinaus – ein Vorgang nichtrepressiver Sublimierung. Demgegenüber scheint eine mechanisierte Umgebung ein solches Selbstüberschreiten der Libido zu unterbinden.” (S. 93) Es muss eigentlich nicht dazu gesagt werden, dass Liebe auf der Wiese, außerhalb der Stadtmauern, Hauptmotiv des deutschen Heimatfilms ist (Leni Riefenstahl lässt grüßen), während Liebe im Auto oder in den Straßen Manhattans in Hollywood-Produktionen (vor allem des Stadtneurotikers Woody Allen) Gang und Gäbe ist.

Herbert Marcuse, der die Schrecken des Nationalsozialismus hautnah erlebt hat, 1934 in die USA emigrierte und 1945 Deutschland als Mitglied, später als Leiter der Europaabteilung der US-Spionageabwehr betrat, nach dieser Tätigkeit das Buch “Feindanalysen” (ein Psychogramm der deutschen Tätergeneration) veröffentlichte, vermag es in seinem bekanntesten und wichtigsten Werk nicht, deutsche Ideologie und Nationalsozialismus zu benennen oder gar zu analysieren – sondern er geht mit seiner Privatheits- und Naturmystifikation ersterer sogar auf den Leim. Beide Begriffe kommen glattweg nicht vor, was in einem Buch, welches laut Untertitel Untersuchungen “zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft” anstellt, nicht nur Zufall sein kann. Ähnlich anderen VertreterInnen der Frankfurter Schule vermag er es nicht, die jüngste deutsche Geschichte zu bewerten – und setzt sich somit am liebsten nicht damit auseinander.

Für die wenigen konkreten, reichlich abstrusen und schon zitierten Stellen im Buch muss man aber Marcuse noch dankbar sein. Denn der Rest des Buches verliert sich in den Weiten der Philosophie. Er sagt eigentlich “nichts weiter” (Klappentext) aus, das aber mit Verweis auf Heidegger oder Husserl, bei denen er studiert hat, in französisch oder englisch, mit Wörtern, die kein Fremdwörterbuch je zu Gesicht bekommen hat und in Satzkonstruktionen, die Eindruck schinden sollen, und, wie der Kaiser, der keine Kleider anhat, nur mit kindlicher Naivität ihrer Lächerlichkeit und Nichtigkeit zu überführen sind. Seine zwei Hauptthesen, dass nämlich die moderne Gesellschaft Veränderung verhindert, aber “Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können.” (S. 17), finden wir analog im links-esoterischen Verkaufsschlager des Jahres 2002, im “Empire” von Hardt/Negri. Struktur, Argumentationsweise und Zielrichtung beider Bücher ähneln sich auf eine überraschende Art und Weise – nur dass die Zugangsvoraussetzungen, linken Kitsch zu lesen, leider gesunken sind: Hardt und Negri sind leichter verständlich – stiften also sicher noch mehr Verwirrung. Wir können uns also in Zukunft auf eine größere Zahl an Fischers und Bohlens gefasst machen.
Dass jede Gesellschaftsform ihrer Selbstabschaffung Steine in den Weg legt – und diese Steine unterschiedlich beschaffen sind, nämlich den Möglichkeiten der jeweiligen Gesellschaft entsprechen –, diese Steine aber auch aus dem Weg geräumt werden können, dies wiederum keine leichte Aufgabe ist, das alles ist eine derartige Banalität, dass es verboten werden sollte, dies zukünftig als “These” zu bezeichnen.
Es soll nicht der Eindruck entstehen, in “Der eindimensionale Mensch” stünde nur Mist.(3) Marcuse entwickelt einen Totalitätsbegriff, der zur absoluten Negation des Bestehenden zwingt, betreibt eine Technologiekritik, analysiert die Kulturindustrie, praktiziert ein wenig Psychoanalyse und findet Arbeit scheiße. Jedoch präsentiert er dabei nur Binsenwahrheiten bzw. seine Ausführungen werden angereichert mit Beispielen, die die gute Theorie gleich wieder verderben. So müssen sich die gesellschaftlichen Alternativen “innerhalb der Reichweite der jeweiligen Gesellschaft befinden ... ihre Veränderung muß das reale Bedürfnis der vorhandenen Bevölkerung sein” (S. 13 f.) Technologie wird einmal schwammig kritisiert, an anderer Stelle fundamental abgelehnt, dann wiederum gilt sie als Vorbedingung und Grundlage der freien Gesellschaft; es wird spekuliert, ob sie in realsozialistischen Ländern ihre gute Wirkung entfaltet – was dann mit einem klaren “Jein” beantwortet wird. Fest steht aber für Marcuse, dass die “materiellen und geistigen Ressourcen, über die der Mensch verfügt ... berechenbar” sind (S. 26) – genauso wie die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit (S. 243). Die “Wahrheit eines geschichtlichen Entwurfs” bemisst sich bei Marcuse an “der größeren Produktivität ohne Zerstörung” (S. 235).
Marcuse weist einerseits richtigerweise darauf hin, dass die individuellen mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen derartig verschmolzen sind, dass sich nicht mehr ausmachen lässt, was wohin gehört (S. 28) – und somit sich sowohl eine unkritische Affirmation à la Bahamas als auch die Verdammnis dieser durch die sonstige Linke verbietet. An anderer Stelle ist Marcuse aber auf der Suche nach den wahren und falschen Bedürfnissen – und meint, diese genau unterscheiden zu können (S. 25).
Im Buch gibt es einige Stellen, die AnhängerInnen der These von der apersonalen Herrschaft im Kapitalismus in ihrem Sinne deuten können, an anderen Stellen wiederum verharrt Marcuse in der Herr/Ausbeuter/Reiche vs. Sklave/Knecht/Diener/Proletariat-Rhetorik. Wer genau hinschaut, entdeckt, dass bei Marcuse Herr und Knecht nicht beide “Opfer” des Kapitalismus, sondern nur der Technik werden – und damit auch Opfer der TechnikerInnen (S. 53). Ein neues Feindbild ist geboren.
Sehr vage bleiben die Ausführungen zu den “kommunistischen” (S. 62 ff.) und “unterentwickelten” (S. 66 ff.) Ländern. Einerseits läuft da alles anders, anderseits sind sie auch noch dem Alten verhaftet. Einerseits herrscht da Diktatur, anderseits kann man das ja verstehen, denn das Gute muss sich mit Gewalt durchsetzen, da die Menschen nicht freiwillig ihre Unmündigkeit verlassen. Und so weiter. Die Unerbittlichkeit seiner Kritik am Kapitalismus (der Staat schafft zwar Naturschutzgebiete, aber nur, weil er eigentlich Naturzerstörung produziert, S. 236), nimmt er beim Realsozialismus zurück (in etwa: der Staat schafft zwar Gulags, aber nur, weil die alte Gesellschaft so viele verdorbene Kapitalisten produziert).

Bei der Analyse der Kulturindustrie hat Marcuse viel Unsinn (sprich: reaktionären Kulturpessimismus) bei Adorno abgeschrieben. Die klassische Kunst der Eliten war noch transzendierend und subversiv, die Massenkultur – selbst wenn sie den gleichen Inhalt hat – ist aufgrund ihrer Verbreitung nur noch affirmativ. Den Unterschied kennen in der DDR Aufgewachsene noch gut: Die Menschen lechzten nach den ehemals verbotenen sowjetischen Theaterstücken und in der Literatur der Wolfs und Heyms wurde zwischen den Zeilen gelesen – man hielt sich für oppositionell und spürte einen Hauch von Staatsfeindlichkeit. Heute hingegen geht niemand mehr ins Theater oder liest Bücher – und die wenigen Linken, die gegen das System anrennen, werden weitestgehend toleriert und ignoriert. Deswegen in DDR-Nostalgie verfallen oder die moderne Popkultur verteufeln? Ist es nicht selbstverständlich und auch gut, dass wenig Freiheit/Wohlstand bei mehr Menschen einen größeren Drang danach hervorbringt, relativ große Freiheit/Menschheit hingegen zu allgemeiner Zustimmung führt? Marcuse macht sich inzwischen ganz andere Sorgen, nämlich um die erotische Literatur: “Von keiner der ‚sexy‘ Frauen in der zeitgenössischen Literatur ließe sich sagen, was Balzac von der Hure Esther sagt; daß sie von einer Zartheit war, die nur in der Unendlichkeit blüht.” (S. 97) Marcuse beklagt, dass im Zeitalter der Liberalisierung der Sexualität diese keine gesellschaftliche Sprengkraft mehr entfalten kann.(4) Aber was ist daran schlimm: Wenn die Menschen wirklich nur das gestört hat, dann können sie jetzt zufrieden sein. Die Kritik am Kapitalismus aber bleibt doch relevant, unabhängig davon, ob er die Sexualität der Menschen tabuisiert oder enttabuisiert.
Medienkritik geht bei Marcuse so: “ ... Medien, die zwischen den Herrn und ihren Dienern vermitteln. Ihre Reklameagenten modeln das Universum der Kommunikation ... Die Begriffe ... verlieren ihre authentische sprachliche Repräsentanz.” (S. 104) Wer ist Herr und wer Diener, was wird vermittelt, warum machen die Reklameagenten das, steht das Wort “modeln” im Duden, waren die Begriffe je authentisch und worin bestand denn ihre Authentiziät – alles Fragen, mit denen Marcuse uns alleine lässt. “Indem sie (die Menschen) ‚von sich aus‘ die politische Lage ... beschreiben, beschreiben sie ... was ‚ihre‘ Medien der Massenkommunikation ihnen erzählen – und das verschmilzt mit dem, was sie wirklich denken, sehen und fühlen” (S. 208). Werden die Medien nicht auch von Menschen gemacht? Oder jene Medienerzeugnisse nicht konsumiert, die nicht das bestätigen, was die Menschen denken, sehen und fühlen wollen? Was “denken, sehen und fühlen” Menschen eigentlich wirklich? Diese Fragen beantwortet Marcuse nicht, weil sie nicht zu beantworten sind. Aber seine Sätze machen unter diesen Umständen auch keinen Sinn.
Auf der Suche nach dem wirklich Authentischem ist Marcuse auch auf anderen Gebieten: “ ... führen zur Realität solcher Allgemeinbegriffe wie die Nation, die Partei, die Verfassung, der Konzern, die Kirche – eine Realität, die nicht mit irgendeiner feststellbaren partikularen Wesenheit (Individuum, Gruppe oder Institution) identisch ist” (S. 218) Als ob Konstrukte wie Nationen, Religionen etc. keine reale Wirkungsmächtigkeit entfalten würden, als ob es menschliche Wesenheiten gäbe, die realer, identischer wären – sich selbst Brot backende Dorfgemeinschaft etwa?

Größtes Manko des Buches: Marcuse betreibt anstelle von Kapitalismus- lediglich das Teilgebiet Technologiekritik. Über die eigentlichen kapitalistischen Prinzipien macht er überhaupt keine Aussagen, es klingt nur stellenweise an, dass Arbeit oder übermäßige Arbeit schlecht ist, jedoch notwendig wäre. Oder er schreibt, dass es im Zeitalter der Automatisierung so scheint, als ob auch Maschinen Wert produzieren würden (S. 48) – ob dies nun aber so ist oder nur so scheint, lässt er ungeklärt.
Aber selbst die Technologiekritik bleibt ungenau: Einerseits bestimmt die Technik die Politik (Atomkraftwerke sind eben auch im Sozialismus schlecht), anderseits ist die Technik lediglich “zu einem Instrument desktruktiver Politik geworden” (S. 238) – und schwupps sind die sowjetischen Atommeiler rehabilitiert. Oder: alle menschlichen Probleme sind eigentlich nur technische Probleme (S. 245) – und schon wird die Atomkraft nicht nur hinnehmbares Risiko sondern ein Segen.
Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der “Verschwendung”, der einerseits angeprangert wird, anderseits in der Befriedigung über die menschlichen Grundbedürfnisse hinaus wiederkehrt (S. 242). Eine genauerer Bestimmung – kapitalistische Verschwendung versus kommunistischer Hedonismus – findet nicht statt.
Die Hohe Schule der Philosophie ist es übrigens, absurde Sätze zu formulieren: “ ... wird die Sublimierung zur Erkenntniskraft, welche die Unterdrückung besiegt, indem sie sich ihr beugt” (S. 95) – besser haben Hardt und Negri das Verhältnis von Empire und Multitude (oder die Bahamas das von Vergewaltiger und Vergewaltigte) auch nicht beschreiben können.
Eine beliebte philosophische Disziplin scheint es auch zu sein, den einfachsten Grundregeln der Logik zu spotten: Bei Marcuse folgt aus der Tatsache, dass die herrschende Rationalität irrational ist, dass “der Bereich des Irrationalen zur Stätte des wirklich Rationalen” wird (S. 258) – und eröffnet damit jeder Form der Irrationalität Tür und Tor. Denn, “Horch, was kommt von draußen rein” (Titel eines Liedes mit sublimierter Erotik, wie sie Marcuse gefallen hätte): der Reiter mit dem Laib selbstgebackenem Brot und der selbstgeschmiedeten Silberbrosche, der damit um die Hand der Magd anhalten will, um hernach mit ihr wild, a-rythmisch (weil das der Takt der Maschinen wäre) und subversiv im Wald rumzumachen.
Erica

Fußnoten:
(1) Und im Gegensatz zu anderen VertreterInnen der Frankfurter Schule ist Marcuse bis heute der Everybodys Darling von der antideutscher bis zur dekonstruktivistischen Fraktion der Neuen Linken; im CEE IEH wurde Marcuse in den letzten Jahren 17x zitiert oder erwähnt (das können nur Marx, Adorno und Horkheimer toppen!).
(2) Die unökologische, dafür weiter verbreitete broken-windows-Theorie stammt aus dem Arsenal New Yorker Sicherheitspolitiker und Polizeistrategen – und geht so: Ist der Stadtteil verlottert, ein Fenster kaputt, Müll auf der Straße, dann ensteht in Folge schlimme Kriminalität. Ist alles proper und sauber, dann benehmen sich die Menschen auch ordentlich. D.h. tägliches Laub fegen auf dem Gehweg ist eine ebenbürtige Kriminalitätsvorsorge wie fünf Sicherheitsschlösser an der Haustür.
(3) Unter http://www.ahuels.de/schnick/hsmarc.htm findet sich eine gute Zusammenfassung des Buches, weitere Informationen über Herbert Marcuse gibt es z.B. bei http://www.marcuse.org.
(4) Darauf begründet übrigens die Bahamas ihre Kritik an den linken Sexismus-Diskursen, die mit der Unterdrückung menschlicher Triebhaftigkeit die Anpassung an das System verstärken würden.


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last modified: 28.3.2007