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Was man auch immer von Europa halten mag

Was Teewald letztlich vom Europäischen Einigungsprozess hält, deutet er in seinem Beitrag „Prophasen im eigenen Land“ im CEE IEH Nr. 85 an: ein aufgeklärtes demokratisches Projekt EU als segensreiche Überwindung des Nationalstaates. Solcherart Hoffnungen hegend unterliegt er jedoch einem Trugschluß. Denn die Durchsetzung nationaler Interessen funktioniert in einer sich den klassischen Staats- und Demokratieformen entziehenden EU weiterhin ganz wunderbar.

Euphorie versus Skepsis

Teewald präsentiert uns in seiner Kolumne seine Vision von einer Europäischen Union, als einer Staatennation, basierend auf einer gemeinsamen Verfassung, in einer demokratischen Willensbildung verankerten Institutionen und einem europäischen Staatsvolk. Europa jetzt schon als eine Geschichte des Erfolgs, nicht nur deshalb, weil mehr und mehr europäische Autorität die Nationalstaaten bindet, sondern auch, weil das barbarische Monster Nationalstaat durch die Göttin Europa gezähmt wird. Als Garanten für diesen Erfolg macht Teewald „die Politiker“ als „eine engagierte, aufgeklärte, couragierte Schar weitsichtiger Bürger“ aus, die wie der „hellsichtige“ Franzose Jacques Delors und der Deutsche Joschka Fischer einen europäischen Staat schaffen wollen.

Das mit dem Erfolg stimmt natürlich, die faktischen Wirkungen des europäischen Einigungsprozesses, die fortschreitende Vergemeinschaftung legislativer und exekutiver Kompetenzen, sind nicht zu leugnen. Unzweifelhaft befinden sich die europäischen Nationalstaaten in einem fortschreitenden Prozess des Verlustes nationalstaatlicher Souveränität, wirkt europäisches Recht unmittelbar und unumkehrbar in den Mitgliedsstaaten. Und auch die Erfolgsaussichten eines Verfassungskonvents möchte ich an dieser Stelle nicht voreilig in Zweifel ziehen. Erlaubt sei mir nur der Hinweis auf die im Wege ebensolchen Konventverfahrens im Dezember 2000 verabschiedete europäische Grundrechtscharta, die zwar ganz tolle Grundrechte, aber gerade keinen rechtsverbindlichen Charakter hat. Die Fragen die sich mir stellen, sind anderer Art: Hat all dies wirklich die Überwindung nationalstaatlicher Interessenpolitik zur Folge oder sehen wir uns nicht vielmehr einer Verschiebung der Interessendurchsetzung der stärksten Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaftsebene gegenüber? Und wie wirkt sich diese Verschiebung tatsächlich aus?

Eurostrukturen

Dass den Entscheidungsstrukturen der EU der demokratische Grundsatz der Gewaltenteilung fremd ist, hat sich inzwischen herumgesprochen. Die Mitgliedstaaten fungieren auf EU-Ebene über den Ministerrat sowohl als gesetzgebende Gewalt als auch als Exekutive. Zwar hat die Kommission ein Vorschlagsrecht im Rahmen europäischer Rechtssetzung und die Mitentscheidungsbefugnisse des europäischen Parlaments werden langsam aber stetig erweitert, als gesetzgebendes Organ funktioniert es deshalb noch lange nicht. Und wenn – die Revisionen der Gründungsverträge der europäischen Gemeinschaft, die diese Entscheidungsstrukturen und die zu entscheidenden Materien regeln, werden ohnehin auf Regierungsebene, innerhalb des Europäischen Rates ausgehandelt und durch die nationalen Parlamente abgesegnet. Setzt man noch einen Schritt zurück, ergibt sich folgender Ablauf europäischer Beschlussfassung: informelle Arbeitsgruppen ohne vertraglich festgelegte und kontrollierbare Handlungsbefugnisse erarbeiten Leitlinien, Zielsetzungen und Aktionspläne. Diese werden entweder über die Regierungskonferenzen, also auf intergouvernementaler Basis organisiert oder auf Initiative einzelner Mitgliedstaaten gegründet und gepusht. Die intergouvernementale Zusammenarbeit hatte dabei in der Geschichte der EU den größten Einfluß auf die Integration, die Kontrollmöglichkeiten auf diesem Gebiet sind zugleich die geringsten. Der Europäische Rat fasst auf dieser Vorarbeit beruhende Beschlüsse, die später im Fall der Vergemeinschaftung eines neuen Politikbereiches den europäischen Rechtsakten zugrunde liegen. Das letztlich von den EU-Institutionen gesetzte Recht gilt in den Mitgliedstaaten als verbindlich. Vollendete Tatsachen. Die Möglichkeiten, auf dieser Ebene emanzipatorische Interessen durchzusetzen, sind noch schlechter als auf nationalstaatlichen und Entwicklungen rückgängig zu machen, scheint unmöglich. Und auch die von Teewald als Segen gepriesene Rechtssprechung des EuGH wird die, die auf den Rechtsstaat hoffen, nicht retten. Der EuGH sichert eben nur die Durchsetzung des in der oben beschriebenen Weise gesetzten Gemeinschaftsrechts. Auch wenn deshalb jetzt deutsche Frauen zum Bund dürfen, die Befugnisse von Europol werden die europäischen Richter genauso wenig kippen, wie dies das Bundesverfassungsgericht mit dem Großen Lauschangriff oder der Abschaffung des Asylrechts durch Art. 16 a des Grundgesetztes tut.

Teufel versus Beelzebub

Nun will ich beileibe kein Loblied auf den Nationalstaat anstimmen. Ich möchte nur zeigen, dass es nicht weniger verfehlt ist, in Nationalstaat und EU zwei sich über kurz oder lang ausschließende Konzepte von Vergesellschaftung zu sehen, mit der Folge des zwangsläufigen Untergangs oder auch nur der Zähmung des Monsters Nationalstaat. Das hieße, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu wollen. Denn die Verlagerung politischer Entscheidungsprozesse auf die europäische Ebene dient jeweiligen nationalen Interessen in vieler Hinsicht: Einerseits bei grenzüberschreitenden Phänomenen vor allem im Bereich der Innen- und Justizpolitik (z.B. Einwanderung, Drogenhandel, Terrorismus) bei denen sich rein nationalstaatliche Maßnahmen als ungenügend erweisen und bei denen die Interessen der Regierungen übereinstimmen. Ganz ähnlich mittlerweile im außenpolitischen Bereich, wo entgegen Teewalds Beschreibung der Rolle der wichtigsten europäischen Mächte D, F und GB als „nur mit einigen Gesten“ am Krieg in Afghanistan beteiligt, knallhart Punkte im Kampf um globalen Einfluss gegenüber der USA gemacht werden. Freilich ist der militärische Beitrag im Vergleich zur USA unter ferner liefen abzubuchen, ebenso wie im Jugoslawienkrieg wird sich Einfluss jedoch durch „Wiederaufbau“ gesichert. Abgesehen von mehreren Milliarden Aufbauhilfe soll seitens der EU unter der Führung Deutschlands die Polizei in Afghanistan wiederaufgebaut und der Drogenhandel bekämpft werden. Besseren Einfluss auf Infrastruktur und Verwaltung eines Landes kann man sich wahrlich nicht wünschen.
Auf der anderen Seite werden innenpolitische Probleme seitens einzelner Staaten aktiv europäisiert, um auf europäischer Ebene zu wirksameren, restriktiveren Regelungen zu gelangen und um auf diesem Wege innenpolitischen Druck zu verringern. Als Beispiel sei mal wieder Deutschland genannt, das unter den innenpolitischen Kontroversen zur Änderung des Asylrechts Anfang der Neunziger zum Protagonisten der Einführung einer intergouvernementalen Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres im Rahmen des Maastricher Vertrages wurde. In den Folgejahren wurden noch auf intergouvernementaler Ebene zahlreiche Regelungen zu Einwanderung und Asyl, sowie sogenannte „migrationsbegleitende Maßnahmen“ wie der Entwurf der EUROPOL-Konvention erarbeitet, die mit dem Amsterdamer Vertrag in den EU-Bestand integriert wurden. Europäische Standards für Asylverfahren und in nicht allzu ferner Zukunft gleiche Kriterien der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft - was kommt Deutschland mehr zu passe, um den lästigen Art. 16a des Grundgesetzes zur Gänze zu entsorgen. Und entsprechend betonen Politiker von schwarz bis grün – ganz „aufgeklärte, couragierte Schar weitsichtiger Bürger“ – in der Debatte um ein Einwanderungsgesetz, das individuelle Recht auf Asyl sei im europäischen Rahmen auf Dauer nun mal nicht haltbar.
Ebenso erklärt sich die engagierte Rolle der spanischen Regierungsvertreter auf verbesserte Zusammenarbeit im Bereich der Verbrechensbekämpfung und Strafverfolgung vor dem Hintergrund der Aktivitäten der ETA. Und nicht zuletzt konnte über die weniger transparenten EU-Entscheidungsstrukturen leichter durchgesetzt werden, was z.B. bezüglich Innerer Sicherheit auf nationaler Ebene vor dem 11. September nur gegen Widerstand zu haben war. Genannt sei hier der Aufbau von EUROPOL, der hierzulande erst für Wirbel sorgte, als die Immunitäten der Eurocops verhandelt wurden, derweil ihre Überwachungskompetenzen (die zur Zeit gerade auf spanisch-belgischen Vorschlag um Ermittlungsbefugnisse erweitert werden sollen) schon längst in Sack und Tüten waren.

Eurovisionen

Weiterer Beleg nationaler Interessendurchsetzung innerhalb der EU ist die Möglichkeit der „verstärkten Zusammenarbeit“ innerhalb bestimmter Politikfelder zwischen bestimmten Mitgliedstaaten. Einzelne Staaten spielen damit eine Vorreiterrolle im Integrationsprozess, indem sie enger kooperieren. Die Regierungskonferenz von Nizza beschloss, diese Form der Zusammenarbeit auch auf militärische und verteidigungspolitische Fragen auszudehnen und gerade mit Blick auf die Osterweiterung das vormals bestehende Vetorecht einzelner Mitgliedstaaten abzuschaffen. Darüber wird das Verhältnis der Mitgliedstaaten neu strukturiert. Die ökonomisch und politisch stärkeren Staaten bestimmen die Zukunftsmusik, nach der die nicht zum exklusiven Kreis gehörenden Staaten zu tanzen haben.
Dieser Logik der unterschiedlichen Machtverteilung folgen auch die Visionen Joschka Fischers(1), nach dessen Modell konzentrischer Kreise sich die Hierarchisierung über die Grenzen der EU hinaus fortsetzt: von den Kernstaaten mit einer europäischen Verfassung über die beitrittswilligen Staaten, die durch Sicherheits- und Zusammenarbeitsabkommen mit der EU verknüpften Staaten bis zur Peripherie in der die EU ihre außenpolitischen Interessen vertritt. Über dieses Rangverhältniss wird auch eine europäische Verfassung nicht hinwegtäuschen, ebenso wenig wie über die Tatsache, dass die Nationalstaaten das zugrundeliegendes Verwaltungs- und Ideologiemuster bilden.
„Die hellsichtigen unter unseren französischen Nachbarn“ haben denn auch erkannt, warum sich gerade deutsche Politiker in der Debatte um die Reform der EU für eine Stärkung des Europäischen Parlaments einsetzen: Unter dem Titel „L’Allemagne égoiste de M. Schröder“ kritisierte Le Monde(2) als Erste, dass die von Fischer und später Schröder in seiner Europarede(3) angestrebte Stärkung des europäischen Parlaments mehr Demokratie dort fordere, wo es auf einen Machtzuwachs Deutschlands hinauslaufe: Im europäischen Parlament verfügt Deutschland im Vergleich zu anderen Institutionen über die größte Zahl von Repräsentanten.
Freude über die „Zähmung“ des Nationalstaates ist nach all dem nicht angebracht. Es handelt sich nur um eine selbstverordnete Zähmung, and by the way, wer will aus einer linken Perspektive schon bei der Zähmung jubilieren, wo es um Abschaffung gehen sollte. Auf eine „Europäische Identität“ bin ich dann auch genauso wenig scharf wie auf eine „nationale Identität“. Jede Form solcherart zurechtgebastelter Identität geht zwangsläufig mit der Abwertung und dem Ausschluß „der Anderen“ einher. Der Tausch Eurozentrismus gegen Nationalismus ist ein denkbar schlechter, und Rassismus geht mit beidem Hand in Hand. Ein zutiefst unemanzipatorisches Projekt!
Nun mag man mir erwidern, dass die Vision Europa bei allem „was man auch immer davon halten mag“ zumindest nationalistischen Bestrebungen vorzuziehen sei. Dieser Allgemeinplatz wird jedoch ebenso von rot/grünen Regierungsmitgliedern wie auch in europarechtlichen Uniseminaren vertreten und sollte kein Maßstab linker Nationalismuskritik sein. Er bringt uns in einer Diskussion, die auf die Formulierung einer grundsätzlichen Kritik an unemanzipatorischen Ausschlußsystemen (wie sie der Nationalstaat Deutschland und die Europäische Union darstellen) abzielt, keinen Schritt weiter. Notwendig ist daher eine kritische Auseinandersetzung mit Europa im Kontext nationaler Interessen. Teewalds Vorwurf, dass sich zuwenig für Europa interessiert wird, soll deshalb geteilt werden, seine Begründung dafür nicht. saudade

Fußnoten

1 Joschka Fischer „Vom Staatenbund zur Förderation – Gedanken über die Finalität der EU“, in: Integration 3/2000, S. 149; siehe dazu auch Thomas Müller „Intime integration“, Dossier in Jungle World Nr. 34/2000
2 Le Monde 13./14.5.2000, s.13
3 vgl. M. Kreile „Zur nationalen Gebundenheit europapolitischer Visionen: Das Schröder-Papier und die Jospin Rede“, in: Integration 3/2001, S. 250


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last modified: 28.3.2007