Prophasen im eigenen Land
Und, wie haben Sie die Einführung des Euro erlebt?
Oder sollte man besser die Etikette überleben zur Anwendung
gelangen lassen? Schließlich, so wurde uns vermittels einer geschickt
inszenierten Proklamation verdeutlicht, wäre das Geld, unser
Geld versteht sich, nur noch die Hälfte wert. Und diese sei das
Gegenteil vom Doppelten. Was machen, fragt man sich. Schmalhans als
Küchenmeister begrüßen, der Initiative Pro-DM bei
der demnächst anstehenden Wahl zum deutschen Bundestag zum Sieg verhelfen,
die, ob man es glauben möchte oder nicht, allen rechtsstaatlichen (wie
nunmehr auch europäischen) Gegebenheiten, das Gesetzgebungsverfahren
betreffend, zum Trotz, ihr Heil im wiederholten Male in der Naivität der
Bevölkerung sucht? Doch schon hier werden Grenzen deutlich, welche der
theoretischen Erörterung des Wertbegriffs eine neue Richtung vorgeben.
Eine solche scheint mithin nur noch im Hinblick auf den Zweckverband der
Europäischen Union geboten zu sein.
Nationalstaat vs. Staatennation
Die Bürger feiern den Euro und kümmern sich den Teufel um all die,
die es sich auf ihre Fahnen geschrieben hatten, uns vorm Untergang des
Abendlandes zu warnen. Aber nun, als es soweit war: Was verkündeten
selbige zum Anbruch der neuen Zeit? Sie beschworen, sieghaft lächelnd, die
Wiedergeburt des Nationalstaates, der doch auf dem besten Wege schien, in
Vergessenheit zu geraten.
Es gibt ihn noch, kein Zweifel, er ist noch immer eine staats- und
völkerrechtliche Realität obschon längst von der
bestimmenden Wirklichkeit der Europäischen Union überwuchert, wie ja
selbst der Ministerpräsident von Bayern bezeugte, als er scharfen
Misstrauens darauf hinwies, dass an die siebzig Prozent aller Entscheidungen,
die unseren Alltag prägen, in Brüssel getroffen würden. Also
hält auch der Kanzlerkandidat, ganz im Sinne der Idee Kants vom
ewigen Frieden, insgeheim den Nationalstaat für ein
Auslaufmodell? Doch Stoiber ist nicht Kant, und Europa zum Unbill
desselben auch nicht der in Aussicht gestellte Weltstaat. Es ist
vielmehr ein sentimentales und pathetisches Gespenst, ein virtuelles Wesen, das
vor allem von unseren rhetorischen Gewohnheiten lebt?
Die Magie ist noch nicht völlig erloschen. Sie hat nicht alle Macht
über die Seelen verloren, sie zwingt zumal die Zeitkritiker, die
Großjournalisten, die Intellektuellen, die man als die geistigen
Ausbilder der Gesellschaft bezeichnen könnte, immer wieder in ihren Bann.
Eines aber sei gewiss, war kürzlich in der WELT, der gleichnamigen
Zeitung wohlgemerkt, zu konstatieren, der Nationalstaat werde wieder eine
stärkere Rolle spielen. Der Krieg in Afghanistan zeige es auf brutale
Weise: Nicht die Vereinten Nationen, nicht die Europäische Union
vermögen es, Kriege zu führen und Konflikte beizulegen. Es seien die
souveränen Staaten, einzeln oder im Verbund. Sie entschieden alles und
darüber hinaus noch viel mehr. Souverän ist mithin der, welcher
Kriege führt.
Auch die FAZ ließ es sich nicht nehmen, die
Wiederauferstehung des Nationalstaates zu proklamieren. Mit recht
starkem Tobak stellte sie fest, dass der Umwertung aller Werte auch
die Europäische Union nicht entgangen sei (neben der NATO, die sich de
facto aufgelöst habe), und im Gebälk dieses bundesstaatlichen
Staatenbundes habe es bedenklich gekracht. Selbiges Blatt es
verglich den Konflikt in Afghanistan aus eher dunklen Gründen mit dem
Krimkrieg von 1853 sprach von einer Demontage Europas; die
Union interessiere niemand mehr von Belang. Das so
hochtönende Projekt Europa offenbare sich als
Subventionsrennen zwischen Mazedonien und Zypern, und Brüssel sei
mit einem Schlage nicht mehr eines der Zentren der Weltpolitik, sondern
eine Kleinstaatmetropole voller überflüssiger
Bürokraten.
Die ZEIT, es versteht sich, trat mit eindrucksvoller Autorität auf
den Plan: Der 500 Jahre alte Nationalstaat lebt und floriert,
konstatierte man in Hamburg mit keiner kleineren Prise der Genugtuung. Ein
halbes Jahrtausend? Was könnte der Gründungsakt gewesen sein? Der
Reichstag zu Worms? Der erste oder der zweite? Das Konkordat Franz I. von
Frankreich mit dem Papst? Karl V.? Der Machtantritt der Tudors? Aber weiter: Es
habe sich gezeigt, dass nationenüberwölbende Institutionen wie
NATO und EU, die seit fünfzig Jahren die Macht der Staaten zu
vergemeinschaften versuchen, in die Defensive gerutscht sind. Entschieden und
gehandelt haben die Staaten, und zwar die großen: Amerika, England,
Frankreich und Deutschland. Agiert haben nicht die Funktionäre der Union,
Kommissionschef Romano Prodi oder der diplomatische Handelsreisende Javier
Solana, sondern die Herren Regierungs- und Staatschefs Blair, Chirac und
Schröder.
Das ist Henry Kissinger pur. Das ist, im Kern, unverfälschter Bismarck.
Freilich hätten beide gezögert, die mittleren Mächte England,
Frankreich und Deutschland in einem Atemzug mit der Supermacht Amerika zu
nennen. Den Zitierten mag das schmeicheln, aber in Wirklichkeit haben sie sich
am afghanischen Krieg nur mit einigen Gesten beteiligt, die das moralische
Getöse in unseren Blättern kaum lohnten. Sie dienen mit ihren
Hundertschaften der Sicherung einer fragilen Waffenruhe im wilden Land der
Clan-Diktaturen und Stammesfehden. Es ist wahr: Nicht die viel gepriesene
EU-Eingreiftruppe übernimmt den Oberbefehl über die Friedensmission
in Afghanistan, sondern ein Staat namens Großbritannien. Und dieser
ist, wie bekannt, dem Projekt Zweckverband nicht eben
aufgeschlossen.
Die Eingreiftruppe, muss leider gesagt werden, kann es nicht, den Oberbefehl zu
führen, weil es sie nicht gibt. Noch nicht. Ihr Aufbau braucht drei bis
vier Jahre Zeit. Auch sie wird die Europäische Union keineswegs als eine
klassische Großmacht etablieren, die mit einer einzigen Weltmacht Amerika
konkurrieren könnte oder sollte. Aber sie wird eine Außenpolitik der
Union fordern, die den Namen verdient. Sie wird eine Antwort auf die
Gretchenfrage nach der Autorität der gemeinsamen Institutionen verlangen.
Mit anderen Worten: Sie akzentuiert wie die gemeinsame Währung und,
mehr noch, der Wille zur demokratischen Legitimierung die Notwendigkeit
einer europäischen Verfassung, mit der die Aufgaben, die Befugnisse, die
Schranken und die innere Ordnung der Union definiert werden.
Keiner der Todesboten, die sich ohne sichtbaren Gram über die vermeintlich
verwesende Gesellschaft beugten, fand die beschlossene Gründung eines
Verfassungskonvents auch nur einer beiläufigen Erwähnung wert. Sie
allesamt aber verknüpfen den Begriff der Staatlichkeit mit der Nation, von
der sie hartnäckig behaupten, sie sei souverän. In
Wirklichkeit existieren sie längst die eine Supermacht Amerika,
vielleicht auch China, Indien und Russland ausgenommen in einem System
der Abhängigkeiten, dem sie sich nur unter Lebensgefahr entziehen
könnten. Ohne den Großen Bruder sind sie bloß beschränkt
handlungsfähig (und ohne seine Logistik kaum bewegungsfähig): Schon
darum wird die NATO nicht untergehen. Sie bietet den kleinen und mittleren
Mächten eine (begrenzte) Garantie, dass sie nicht nur Diadochen, nicht nur
Satelliten, nicht nur politische Zwerge in der neuen Weltordnung der Pax
Americana sind, wie uns das Orakel der FAZ zurief, sondern Partner
einer Allianz, die immerhin in den balkanischen Wirren bewies, dass sie sehr
wohl gemeinsam agieren können, auch wenn es die Vereinigten Staaten waren,
die als militärische und technische Vormacht die Kriege geführt und
entschieden haben.
Die hellsichtigen unter unseren französischen Nachbarn erkennen die
Europäische Union längst als eine Bündelung der
Souveränität. Die Förderung von Nationalstaaten
nach Jacques Delors und Joschka Fischers listiger Formel
hebt die supranationalen Realitäten keineswegs auf: die gemeinsame
Währung, das Eurocorps als ersten Ansatz zu einer europäischen Armee,
der Europäische Gerichtshof, der sich Tag für Tag als ein wahrer
Segen erweist, das europäische Wahlrecht, das als ein bescheidener Schritt
zu einer europäischen Staatsbürgerschaft verstanden werden kann, das
Europäische Parlament, dessen demokratische Rechte im wachsen begriffen
sind, Elemente einer europäischen Polizeimacht, einschließlich des
transnationalen Haftbefehls, die über die internationalen Kartelle des
Terrors und der Kriminalität zu wachen versucht. Umrisse einer
europäischen Staatlichkeit zwischen dem traditionellen Nationalstaat und
der supranationalen Föderation sind längst sichtbar geworden. Der
Zwang zu einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik wird früher oder
später das Fundament sozialer Sicherheiten sein, die keiner der
Mitgliedstaaten für sich allein mehr zu schützen vermag. Und die
Institutionen werden, wie immer die Verfassung beschaffen sein mag, in einer
demokratischen Willensbildung verankert. In der Mitte des angebrochenen
Jahrhunderts wird man von einem europäischen Staatsvolk reden.
Europa ist wir wissen es und vergessen es immer wieder seit den
Tagen der Montanunion nur von Krise zu Krise nach vorn gestolpert. Es ist
dennoch eine Geschichte des Erfolgs. Keiner scharrt unruhig mit den
Füßen. Im Gegenteil: Viele blasen zum Rückmarsch. Sie sehnen
sich nach dem Nationalstaat zurück, der keineswegs die schlichtende,
ausbalancierte Ordnungsmacht war, Garantie der Freiheit, des inneren Friedens,
der Solidarität, wie es ihm nun so oft voller Eifer bescheinigt wird: Er
war viel mehr, bis zur europäischen Zähmung, ein Monster, ein
menschenfressendes Ungeheuer, das seine Kinder jeglichem Wahn geopfert hat, die
Völker von einem Vernichtungskrieg zum nächsten treibend. An diesen
barbarischen Mythos, es ist nicht zu fassen, klammern sich die gebildetsten,
die kultiviertesten Geister unserer Gesellschaft.
Dies ist die rätselhafte Wahrheit: Europa die große Aufgabe
der Nachkriegsgeneration hat die Mehrheit der Deutschen
gleichgültig gelassen. Auch das Gros der Wissenschaftler begegnete ihm mit
einer erstaunlichen Indifferenz. Kein deutscher Stand hat sich weniger um
Europa geschert als der unserer Intellektuellen. Sie haben für Europa
keinen Finger, keine Feder gerührt. Man hat sich mithin einzugestehen: Die
Politiker handelten dagegen als eine engagierte, aufgeklärte, couragierte
Schar weitsichtiger Bürger. Sie haben Europa gebaut, was man nun auch
immer davon halten mag.
Teewald
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