Rund 7 000 Menschen haben trotz des absoluten Versammlungsverbotes am ersten
Februar-Wochenende in München gegen eine Nato-Sicherheitskonferenz
demonstriert. Abertausende mehr sind wegen des Verbots gar nicht erst
angereist. Anläßlich des Nato-Krieges gegen Jugoslawien gab es so
etwas komischerweise nicht. Was die Demonstranten nach München zog bzw.
bewog, ist unter anderem Gegenstand des folgenden Textes. Er geht
außerdem aktuell dem Grund für eine antiimperialistische Zweiteilung
der Welt im Zeitalter ihrer ideologischen Reproduzierbarkeit nach.
Von Sören Pünjer
Während die Elite erfolgreich daran arbeitet, das moralische
Guthaben, das ihr der Einsturz des World Trade Centers einbrachte, zu
verbrauchen, haben die Globalisierungskritiker Boden gut gemacht.
(taz vom 06.02.2002)
(...) Die erklärten Freunde des Orients akzeptieren in Wahrheit
das okzidental verzerrte Bild des orientalischen Menschen wenn auch in
einer positiven Verkehrung. Sie schlägt sich in der Bereitschaft nieder,
die Menschen im Orient, die dort vorherrschenden gesellschaftlichen
Verhältnisse und vor allem die von ihnen getragenen Regime der Kritik zu
entziehen so, als seien sie nicht von dieser Welt. Man meint, andere
Standards müßten bei der Beurteilung angelegt werden. Damit ist eine
Gleichbehandlung in durchaus bewußter Anerkenntnis kultureller
Unterschiede allerdings ausgeschlossen. Die Folge ist eine neuerliche
Infantilisierung, Desavouierung und zivilisatorische Invalidisierung des
Orients.
(Dan Diner)
Die entscheidende Frage hinsichtlich der anfang Februar geplanten und
teilweise trotz Verbots auch durchgeführten Proteste gegen die in
München von der BMW-nahen Herbert-Quandt-Stiftung
ausgerichtete Konferenz für Sicherheitspolitik lautet wie
folgt: Hätten die Proteste gegen das Treffen von dutzenden Außen-
und Verteidigungsministern ohne die Anschläge am 11. September
überhaupt stattgefunden? Und hätten sie darüberhinaus auch noch
die breite Unterstützung von Links erfahren, wie es im Vorfeld der Tagung
der Fall war? Anhand der Aufrufe gegen die Konferenz läßt sich die
Frage leicht und zugleich verheerend beantworten: Nein, die Proteste hätte
es gar nicht erst gegeben. Der zentrale Aufruf des Anti-NATO Komitee
München, dem sich dutzende linke Gruppen und Initiativen
anschlossen, verrät es genauso wie ein gemeinsamer Aufruf der
Göttinger Antifa (M) und dem Leipziger Bündnis gegen Rechts
(BgR).(1) So stellen erstere unverblümt auf die unsägliche
antiamerikanisch-deutschpatriotischen Proteste vergangener Bewegungstage ab und
knüpfen auch im Jargon des antiimperialistischen Linkssprech genau dort
an: Der bewaffnete Arm der imperialistischen Staaten (gemeint ist die
Nato S.P.) ist nicht erst seit heute Projektionspunkt von Widerstand und
Protest. (...) Anknüpfen an vergangene Kämpfe heißt, dem
Handlanger des Kapitals die Stirn zu bieten München ist ein
geeigneter Ansatzpunkt. Der Aufruf von Antifa (M) und BgR stellt dann in
seiner inhaltlichen Ausrichtung nur noch eine notwendige Ergänzung dar:
Gerade nach dem 11. September und dessen Folgen gehört die
Militärpolitik der imperialistischen Staaten wieder zurück ins
Zentrum der Kritik einer linksradikalen Bewegung.
Bei letzterem Zitat ist jedoch leider nicht die Kritik einer
linksradikalen Bewegung gemeint, wie es die Syntax nahe legt, sondern
gerade das Gegenteil. Daß man die Objektwahl des Protestes allen ernstes
als Projektionspunkt klassifiziert, spricht im übrigen allein
schon verräterisch genug für sich. Denn Sprache ist gerade innerhalb
einer bewegungsfixierten Linken ein untrügliches Zeichen jenes
ideologischen Eigentlichkeitsschaumes, der dort seit Jahrzehnten geschlagen
wird. Oder anders formuliert: nichts weiter als eine formale Aneinanderreihung
von Worthülsen, die eine in der Sache selbst angelegte offene
Verblödung durch Milieuverhaftung zum Ausdruck bringt, bei der die
gegenseitig züchtigende Verkehrsform sogenannter Szene-Gesetze jenes
Paralleluniversum eines Staates im Staate ist, die im Zweifelsfall auch
wirklich jeglichen Inhalt auszutreiben vermag und an deren Stelle ein
ressentimentgeladenes Überwachen und Strafen setzt. Und dieses wiederum
verrät nur die wahre autoritäre Charakterstruktur einer
Bewegungsszene, die mit emanzipatorischem Verständnis ungefähr so
viel zu tun hat, wie ein Knastaufseher mit seinem Häftlingsklientel. So
wird mangels Argumenten die Moral zum geistigen Schützengraben gemacht,
von dem aus die Waffen des gemeinschaftlichen Abstrafens der für
aussätzig erklärten Individuen in Stellung gebracht werden, weil die
Unterwürfigkeit das erste und wichtigste Szene-Gebot zu sein hat und der
Verstoß dagegen der Sündenfall im Szene-Paradies ist: Das Naschen
vom Baum der Erkenntnis steht grundsätzlich unter Strafe, wenn es nicht
vom kollektiven Willen getragen wird.
Herrschaft, Gleichheit, Gerechtigkeit
Man muß sich die obigen Zitate nicht erst auf der Zunge zergehen lassen,
um ihre bittere Substanz herauszuschmecken. Wer zum Beispiel vom
bewaffneten Arm der imperialistischen Staaten und vom
Handlanger des Kapitals redet und dabei Kapital und das
Militär als Form der Staatsgewalt säuberlich voneinander trennt, ohne
die Notwendigkeit der logisch-dialektischen Beziehung beider in den Mittelpunkt
der Kritik zu rücken, verfehlt die Kritik nicht nur, sondern liefert die
falsche.(2) Staat und Staatsgewalt sind eine untrennbare Einheit. Jede
Form Staat ist allgemein Gewalt, denn es ist der unaufhebbare Inhalt jeglicher
dieser Formen. Die besonderen Formbestimmungen als Militär, Polizei oder
Justiz sind Ausdruck genereller Unterworfenheit des Staates unter das
Akkumulationsgesetz des Kapitals. So betrachtet wird der Staat selbst nur zur
Form, dessen Inhalt nichts weiter ist als das sich selbstverwertende Kapital.
Die Bedingungen, unter denen es sich verwertet, bestimmt der Staat. In seiner
unauflöslichen Bindung an das Kapital aber kann er nicht darüber
verfügen, ob überhaupt verwertet wird, sondern nur wie und
zum Teil sogar was und was eben nicht. Staat ist grundsätzlich nichts
weiter als ein Erfüllungsgehilfe. Seine Aufgabe ist die ideelle, immer
relative Aufrechterhaltung der Grundbedingungen des
Kapitalverhältnisses also Eigentumssicherung von Grund, Boden,
Arbeit und Wissenschaft, die Garantie des kapitalistischen
Produktionsverhältnisses durch Heranzüchtung (Bildung) und Stellung
der Produzenten zu ihren Arbeitsprodukten als doppelt freie (frei von
Feudalverhältnissen und frei von Produktionsmitteln) sowie die Sicherung
der Reproduktionsbedingungen der Ware Arbeitskraft (z.B. Familie oder
Sozialversorgung).
Das generell verhängte Verbot von Protest gegen die geplanten
Demonstrationen und Kundgebungen in München sowie dessen juristischer
zweiinstanzlicher Bestätigung anläßlich der Konferenz zur
Sicherheitspolitik unter der fadenscheinigen Vorgabe der
Nichtgarantierbarkeit sogenannter öffentlicher Ruhe und Ordnung
verführt einmal mehr dazu, das Hinterfragen von Strategien zur Herstellung
sogenannter äußerer und innerer Sicherheit nur noch unter dem
Gesichtspunkt von bürgerlichen Menschenrechtsidealen (Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit) zu bewerkstelligen. Dabei ist die Versuchung
groß, im moralisch gerechtfertigten Protest gegen unmittelbare
Betroffenheit von Verboten und Polizeiaktionen endgültig und für
immer in der Suche nach Antworten auf bürgerliche Menschenrechtsfragen
einzuschnappen. Ein Hinterfragen, was Menschenrechte und das
Gleichheitspostulat unter bürgerlicher Herrschaft nur bedeuten
können, nämlich festere Bindung des Subjekts an das Objektive
bürgerlicher Herrschaft und deren subjektiver Vergeistigung zur zweiten
Natur, wird unter derlei Vorzeichen zu einem Weg, der gleichzeitig
reformistisches Ziel ist und deshalb bürgerliche Herrschaft nur
verdoppelt. Ein wesentlicher Grundsatz kritischer Gesellschaftsheorie im Sinne
Horkheimers und Adornos ist das Auseinanderfallen, die Unvereinbarkeit von
Gerechtigkeit und Freiheit und deren wechselseitiger Bedingung.(3)
Die Beachtung dessen wiegt um so schwerer, wenn man tatsächlich in der
Kritik des linksbürgerlichen Gleichheitspostulats das Ziel verfolgt,
Bedingungen anzustreben, unter denen allgemeine Menschheit ohne Angst
voneinander verschieden sein kann, wie Adorno es einst formulierte.
Die Zunahme unmittelbarer und gesellschaftlich vermittelter Repression gegen
oppositionelle Proteste von Rechts bis Links, gegen Sexgangster und
Schwarzfahrer, Eierdiebe oder Heiratsschwindler, ist Ausdruck des Rückbaus
des Sozialstaates und somit vielmehr Ausdruck von Umbau des Staates unter dem
Eindruck technologischer Möglichkeiten im Zuge der mikroelektronischen
Revolution und der damit einhergehenden tendenziell endgültigen
Verüberverflüssigung des Menschen. Die völlig
durchautomatisierte Gesellschaft, die Horkheimer/Adorno prognostisch als
total verwaltete Welt begriffen haben, kennt schon lange keine
Menschen mehr, sondern nur noch Problemfälle des Abweichens vom
gesellschaftlichen Automatismus zwingend gleichlaufenden Funktionierens. Der
Mensch als Subjekt, als vergeistigtes, zur Vernunft befähigtes Tier, ist
nur noch Störfaktor einer völlig anonymisierten Gesellschaft, die auf
Menschen im Sinne autonomer Handlungsfähigkeit längst verzichten
könnte. Menschliches Zombietum ist keine Fiktion, sondern längst Teil
der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Unterschied zwischen einem
Bundeskanzler, Künstler, einer Hausfrau oder einem Müllfahrer ist
allgemein so marginal, daß seine pure Benennung die Realität der
hergestellten Gleichheit schon zu verfälschen droht.
Was Peter Brückner und Johannes Agnoli in der sogenannten Bibel der 68er,
in ihrem Buch die Transformation der Demokratie, zu Papier
brachten, vermag den immerfort dynamischen und nicht etwa statischen Charakter
der Form Staat ausreichend auf den Begriff zu bringen.(4) Die
dynamische Transformationsfähigkeit des Staates als Gebilde ist nicht etwa
die immanente Bewegung zur Selbstaufhebung als irgend geartetes Absterben
desselben (Engels), sondern pures Ideologiegebläse der treuesten
Staatspropagandisten: So ist die Bejammerung eines schlanken Staates vielmehr
die dickste Lüge über ihn. Sein sogenannter deregulierender Um- oder
Rückbau ist die endgültige Öffnung für die Entfaltung einst
faschistischer Implikationen, die den Staatskapitalismus postfaschistischen
Typs zur globalen Entfaltung verhilft.(5)
Eine Kritik des Staates ohne Kritik als Gewaltverhältnis, das er im
Ganzen verkörpert, ist ebenso keine richtige wie eine Staatskritik keine
ist, die nicht zugleich eine Kritik der Politik liefert, welche
entscheidendes Mittel zur allgemeinen Herrschaftssicherung ist: Politik, ob
gerecht oder ungerecht, ist und bleibt Herrschaftsmittel und ist so
antiemanzipatorisch.
Es geht nicht mehr darum, die Verfälschung der Norm durch die
Politik aufzuzeigen. Vielmehr wird die politische Norm zur Diskussion und zur
Destruktion gestellt, schreibt Johannes Agnoli(6), der seine
Kritik der Politik immer als die Fortsetzung der Kritik der politischen
Ökonomie in die Kritik der Politik insofern verstand, als daß
sich dadurch das Ökonomische ins Politische übersetzen
ließe.(7)
Was ist Kritik?
Das permanente Verharren in der Kritik auf der Ebene des Besonderen vermag das
Ganze als Falsches nicht zusammen zu denken. Selbst dann nicht, wenn das
Allgemeine Ganze vorgeblich den Hintergrund für die Kritik des Besonderen
abgeben soll. Das Abstrakte aber ist nicht die Begleitmusik des konkreten,
sondern unwiderruflich Teil des Besonderen genauso umgedreht. Somit ist
Kritik die geistige Reflexion auf die dialektische Einheit von beidem. Ohne dem
Hegelschen Aufsteigen als methodisches Denken, auf welches dann erst die Kritik
dieser Methode folgen kann und nicht etwa die Kritik der Methode die Methode
vorwegzunehmen im Stande wäre, weil sie dann ja auch nur Methode
wäre, die ebenso einer Methodenkritik unterzogen werden müßte,
verkommt Kritik zur phänotypischen Beschreibung, zur wissenschaftlichen
Disziplin der Deskription. Ohne dialektische Denkbewegung ist Kritik keine
Kritik. Festzuhalten ist, daß die geistige Logik die Logik des
menschlichen Geistes ist. Die Logik des Geistes ist somit die Subsumtionslogik
des Denkens überhaupt. Und genau das ist nicht das Problem des
Wahrheitsgehaltes von Kritik, sondern die objektiv gesellschaftlich vermittelte
Tendenz der Aufspaltung von Wirklichkeit als ganzer. Insofern besteht objektiv
die materialistische Herausforderung für Kritik nicht darin, den
Gegenstand von Kritik getrennt zu betrachten, sondern die Gegenstände der
Kritik umfassend zusammen zu denken. Hier hat eine Kritik der Erkenntnis
anzusetzen, und nicht an der Logik des kritischen Denkens selbst, das als
gebrandmarkter Logozentrismus (Derrida) wohl ersatzlos ausgetrieben
werden soll und durch den Wortschwall einer Metaphysikkritik als
gesellschaftskritische Mogelpackung so auf nicht gerade wenigen linken
WG-Küchen-Tischen landet, um dort gruppentherapeutisch im Rahmen des
Philosophiestudiums zur Freude des lieben Uni-Professorchens dekonstruierend
jener inneren Logik logisch auf die Schliche zu kommen, die die
ursprüngliche Logik der Logik des Logozentrismus nun aber wirklich
ausmacht.
Die Verwissenschaftlichung der Kritik ist ihre Austreibung. Kritik hat zu
erfassen, daß sie objektiv unter dem Bann von bürgerlicher
Herrschaft der Auftrennung in geistige und körperliche Arbeit unterliegt
und so zur Verwissenschaftlichung neigt. Die gesellschaftliche
Wirkungsmächtigkeit der Realabstraktion also der gesellschaftlich
vermittelten menschlichen Tätigkeit inklusive seinem Denken als Produkt
eines Handelns verschleiert den immerwährenden Stoffwechsel des
Menschen mit Natur, deren Teil er auf immer und ewig bleibt, solange er
menschliches Wesen ist. Unter dieser Voraussetzung des Scheins wirklicher
Verhältnisse treibt menschliche Tätigkeit zur falschen
Spezialisierung gegen wirkliche Individualität. Spezialisierung
wird so zur Selbstbeschränkung geistig-reflexiver Fähigkeiten. Die
Fähigkeit zum kritischen Bewußtsein verkümmert so notwendig, es
wird zum viel zitierten notwendig falschen. Kritik kommt im Stande dieser
objektiven Verhältnisse also auf den Hund, wenn sie sich nicht selbst zu
schützen vermag, in dem sie auf das Objektive reflektiert, dessen Teil das
eigene Denken unwiderruflich ist und deshalb auch nicht ungeschoren vom
Objektiven davonkommen kann. Grundlage der Selbstreflexion ist die Erkenntnis,
daß Denken nicht auf Denken in Begriffen verzichten kann, für das es
keine anderen Begriffe gibt. Kritische Theorie unterscheidet sich dabei von der
traditionellen gerade darin, daß sie nicht dazu übergeht, sich
Begriffe frei Schnauze aus den Fingern zu saugen, sondern die gesellschaftlich
Bestehenden bestehen läßt, um daran die Kritik zu formulieren und zu
schärfen.(8) Darin aber lauert zugleich die Gefahr, sich in den
Begriffen zu verfangen. Diese Gefahr ist objektiv. Selbstreflexion kommt
deshalb die Aufgabe zu, die Verfangenheit immer wieder aufs Neue aufzusprengen,
ohne sie wirklich überwinden zu können.
Verstaatung und Natur
Herbert Marcuses Begriff von der repressiven Toleranz vermag längst nicht
mehr ausreichend zu erfassen, wie sehr der Konformitätszwang von innen und
außen in seiner totalen gesellschaftlichen Vermitteltheit das
bürgerliche Subjekt in der Formgestalt des
Bourgeois-Citoyen-Verhältnisses zurichtet. (Ein Gerede von
Panoptismus Foucault oder einer Kontrollgesellschaft
Deleuze unter dem bewußten Verzicht auf Dialektik und
stattdessen unter Anwendung einer post-strukturalistischen
Zustands-Beschreibung fällt allerdings weit hinter Marcuse zurück.)
Die dialektische Beziehung von sozialer Ruhigstellung und unmittelbarer
repressiver Erfahrung synthetisiert sich in der Form Staat, den man zwingend
denkt, weil man es gar nicht anders kennen kann und es die Vorstellungskraft
menschlichen Verstandes übersteigt, sich wirklich anderes wie ein
staatliches Gemeinwesen auszumalen. Ein untrügliches Zeichen einer
verkürzten oder falschen Staatskritik ist unter solch einem Gesichtspunkt
die Behauptung, man könnte ein Denken jenseits der Form Staat
aufrechterhalten und sich so eine konkretere Vorstellung davon machen, wie ein
Leben ohne Staat möglich ist. Verkannt wird dabei nämlich der
Umstand, daß die Identifikation mit einem Über-Ich nicht als
Bewußtsein von Kollektiv-Zugehörigkeit, sondern als
unbewußte Verinnerlichung von Herrschaft im einzelnen Subjekt vor
sich geht und diese in dem Maße zunimmt, wie der Zerfall der
bürgerlichen Klein-Familie, und damit ihrer gesellschaftlichen Funktion
als Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft, voranschreitet. Wirkliche
Staatskritik im Sinne Agnolis meint gerade auch die Kritik an der Verfangenheit
des eigenen Denkens im Fetisch Staat. Grundsätzlich ist davon auszugehen,
daß menschliches Denken in einem Maße im Subjekt verstaatet
(Agnoli) ist, daß Staatskritik nur die Negation als Element der
Befreiung bedeuten kann.(9) Zu bedenken ist dabei aber,
daß eine Kritik des Überwachens und Strafens durch eine
strukturalistische Systemtheorie à la Foucault oder eine
strukturalistische Marx-Interpretation à la Althusser das wirkliche
Verhältnis von Disziplinierung und Kontrolle allein schon deshalb nicht
fassen kann, weil ein systematisierender Blick ausschließlich auf das
Äußerliche des Zusammenhanges von Gesellschaft und Subjekt wohl kaum
hinreichend zu erklären vermag, warum das Interesse des Subjekts statt die
Konfrontation mit dem Zwang durch Herrschaft zu suchen, diese Herrschaft
geradezu herbeisehnt.(10) Der adornitische Begriff der Verblendung und
dessen Zusammenhang etwa ist im Gegensatz zur strukturalistischen Theorie nicht
etwa nur ein x-beliebiger für ideologische Indoktrination und
Manipulation, sondern ein gänzlich anderer. Ihm liegt statt der Frage nach
der Ordnung der Dinge als System, in dem etwas vor sich geht, vielmehr die
Frage danach zu Grunde, was darin vorgeht und wie: Es geht also
nicht ausschließlich um die Frage nach der strukturellen Art und Weise
der formalen Reflexion gesellschaftlicher Vermittlung, sondern um den Vorgang
der substanziellen Verinnerlichung dieser im Subjekt. Strukturalistische
Systemtheoretiker, inklusive ihrer Epigonen, die statt großer
Metastrukturen überall nur noch Mikrostrukturen aufspüren wollen, und
an dessen Schnittstelle des Übergangs nicht zufällig Foucault
anzusiedeln ist, interessiert das entscheidende Verhältnis des Subjekts zu
seiner inneren und äußeren Natur schon deshalb nicht, weil es ihnen
ihre Begriffswelt verunmöglicht, sich überhaupt einen Begriff davon
zu machen.(11) Subjekt ist ihnen ausschließlich unlebendige,
unnatürliche Körper-Masse, die nur von außen geleitet und
geformt würde und deren Inneres somit schnurzpiepegal sei
beherrscht von einer Bio-Macht eben, wie Foucault es nannte.
Das entscheidende Moment einer kritischen Subjekttheorie ist im Gegensatz zur
strukturalistischen Systemtheorie das begriffliche Erfassen von Natur und Geist
als geschichtliche Subjekt-Objekt-Beziehung. Der immerwährende Vorrang des
Objekts als nichtidentisches Verhältnis von Begriff (Subjekt) und Sache
(Objekt) ist das unumstößliche Auseinanderfallen von Stoff (Materie)
und Form (Formung der Materie): so sehr man sich auch anzustrengen gedenkt, man
kann die Sache selbst nicht denken, sondern sie nur auf den Begriff bringen und
damit formen (form-ulieren). Historischer Materialismus heißt
dementsprechend nicht nur zufällig so, weil es sich um eine atheistische
Lehre, also um eine Theorie zur geistigen Gottesaustreibung, handeln
würde, sondern weil die geschichtliche Formung von Materie ein ganz
bestimmtes Verhältnis des Menschen zur Natur und der darauf errichteten
gesellschaftlichen Konstruktion menschlichen Zusammenlebens ausdrückt,
deren Verständnis und Bewußtwerdung nichts weniger als die wirkliche
Voraussetzung aller Emanzipation von Herrschaft bedeutet.
Antiimperialismus und Gesellschaftskritik
Die fortschreitende Entwicklung einer ausschließlich selbstzweckhaften
gesellschaftlichen Produktionsweise hat die Personifikation ökonomischer
Verhältnisse insofern obsolet gemacht, als die Marxsche Charaktermaske
Kapitalist nicht nur zusehends anonymisierter wurde, sondern gänzlich
für das Funktionieren der kapitalistischen Gesellschaft
überflüssig: an die Stelle kapitalistischer Charaktermasken sind
vielmehr tatsächlich jene Cliquen und Banden getreten, die nur noch als
staatliche oder private Verwaltungsangestellte einer totalen Produktionsweise
funktionieren. Nicht nur also, daß der Kapitalist im
Fortschreiten der Produktivkraftentwicklung gar nicht mehr existieren kann,
nein, auch die Herrschaftsmittel selbst haben sich endgültig jeglicher
ökonomischen Maskerade entledigt. An ihre Stelle ist tatsächlich das
von Horkheimer benannte Racketwesen getreten jene Cliquen und Banden,
die mal besser, mal schlechter das krisenhafte Elend des Kapitalismus als
konkurrierende Machtfragen verwalten.
Verheerend nimmt sich eine Diktion aus, die gerade nach dem 11.
September, wie es so schön im Aufruf von Antifa (M) und BgR
heißt (s.o.), nicht die postkoloniale Brille von den Augen und die mit
Antiimperialismus getränkten Ohrstöpsel aus den Hörorganen zu
nehmen gedenkt, um sich der Wirklichkeit fern altbackener linker Ideologie zu
stellen und so den durchweg antisemitischen Charakter der Anschläge vom
11.September in der Form maßloser Vernichtung endlich zu erkennen.
Daß die Anschläge zwar sprichwörtlich aus heiterem Himmel
erfolgten, heißt noch lange nicht, daß man ihren Charakter damit
nicht im Kontext einer reflexionslosen, in Mythologie verharrenden massenhaften
islamistischen Gottesgläubigkeit begreifen muß. Der Selbstzweck der
Anschläge und der damit verbundene Vorsatz maßloser Vernichtung
läßt mittels pathischer Projektion Form und Inhalt ineinanderfallen.
Nicht umsonst haben Adorno/Horkheimer einst darauf verwiesen, daß z.B.
eine Verwüstung jüdischer Friedhöfe keine Ausschreitung des
Antisemitismus ist, sondern nichts weiter als er selbst. Es ist somit dem
Mathias Küntzel beizupflichten, der darauf beharrt, daß hinsichtlich
des 11. September die Tat selbst entscheidend ist, weil es kein eindeutigeres
Indiz für eines der wesentlichsten Elemente des Antisemitismus geben kann.
Das neue alte geflügelte Wort Imperialismus wird von Links wieder in
Stellung gebracht. Und es steht zu vermuten, daß es in seiner
sinnentleerten Falschheit nach und nach den 90er Begriffsfeudel namens
Rassismus ersetzen wird. Einen sehr eindeutigen Hinweis fand man erst
jüngst auf dem konkret-Kongress am letzten Januar-Wochenende in
Hamburg. Die Schlagworte vom imperialen Interesse und von
imperialistischen Mächten machten die Runde, ohne daß
man auch nur auf die Idee gekommen wäre, das Herumwedeln mit dem Begriff
des Imperialismus an seine jahrelange völlig richtige und notwendige
Kritik rückzubinden. Einzig Jungle World- und konkret-Autor
Thomas von der Osten-Sacken verwies auf die bittere Notwendigkeit und
verzweifelte Aktualität einer schonunglosen Kritik der Ideologie des
Antiimperialismus in Zeiten seiner geistigen Reproduktion als linkes
Allerlei.
Warum die dichotomisierende Ideologie des Antiimperialismus ähnlich der
ihres Ziehkindes Antirassismus ein Problem darstellt, liegt in aller erster
Linie in der Zweiteilung der Welt in Unterdrücker und Unterdrückte,
Böse und Gute. Das Denkmuster einer durch die sogenannten Herrschenden
böswillig zerstörten natürlichen und harmonischen Weltordnung
findet seinen Ausdruck in dem Bejammern einer angeblichen Entwurzelung der
Menschen, das dann, im Jargon des Antirassismus gesprochen, als
(Flucht-)Ursache der Migrationsströme anzusehen sei: Es ist das
tatsächliche Unverständnis bezüglich einer Herrschaftsform
namens Kapitalismus, die sich durch die Totalität der Produktionsweise
nichts als Selbstzweck ist. Man verrät so, daß man die wesentliche
Qualität kapitalistischer Herrschaft nicht begreift. Denn nicht Menschen
über Menschen, sondern ein Verhältnis der Produktion, das die
Menschen als Mittel statt als Zweck begreift, ist Wurzel allen kapitalistischen
Übels und damit allen menschlichen Elends. Zu bedenken ist dabei,
daß das Kapital als gesellschaftliches Verhältnis nicht einfach
gedacht werden kann, wie man eine Sache selbst zu denken gedenkt. Nur die
dialektische Vermittlung als Verhältnis läßt sich verdinglicht
in Formgestalt denken. Die Bestimmungen dieser Formgestalt
ergeben sich aber nicht aus sich selbst, sondern nur durch das Ergründen
ihres gesellschaftlich vermittelten Zusammenhanges. Wo man dies verkennt, und
die Sache selbst zu denken denkt, ideologisiert man die gesellschaftliche
Vermittlung. Eine Identität der Dinge als im Verhältnis zueinander
stehend, ist niemals die Identität der Dinge an sich, sondern immer im
Verhältnis von an sich und für sich. Das ist die wichtigste
Erkenntnis des historischen Materialismus und als solcher die konsequente
geschichtliche Materialisierung der Hegelschen Identitätsdefinition der
Identität von Identität und Nichtidentität und dessen absoluten
Geist.
Im Aufruf des Anti-Nato Komitee München kommt die
materialistische Unkenntnis über die objektive Wirklichkeit
kapitalistischer Produktionsverhältnisse so zum Ausdruck:
Während der letzten Jahre konzentrierte sich immer mehr
ökonomische und politische Macht in den Händen der reichsten und
mächtigsten Staaten und Konzerne. (...) Menschen, die im Weg stehen,
werden mit zunehmender Durchkapitalisierung gewaltsam beiseite geschafft.
Was laut Marx Voraussetzung einer Kritik von Staat und Kapital ist,
nämlich die Menschen aus der feudalen Herr-Knecht-Ordnung in die doppelt
freie Lohnarbeiterschaft der allgemein konkurrierenden gleichen Besitzer ihrer
Ware Arbeitskraft zu reißen und als solche in der Konkurrenz der
Einzelkapitalien die entscheidende Variable zur Niederringung auf dem Markt
darzustellen, wird im Aufruf gegen die Münchner Konferenz für
Sicherheitspolitik zur Voraussetzung einer Verschwörungstheorie von
der Allmächtigkeit einer Cliquenwirtschaft, die damit nichts als der
Ausdruck einer Unfähigkeit davon ist, sich ein wirklich subjektives
Problembewußtsein über das Wesen der eigenen individuellen
objektiven Existenzweise anzueignen. Sie ist die besinnungslose Projektion des
falschen Eigenen auf das halluzinierte Andere. Ein typisch bewegungslinker
Vorgang, der von Wolfgang Pohrt einst so auf den Punkt gebracht wurde:
Die Sympathie für die Unterprivilegierten ist (...) nur ein billiger
Vorwand, sich die Einsicht in das Ausmaß der Verwüstung zu ersparen,
von der man zu allererst selbst betroffen ist.(12)
Kapital ist nicht eine Personifikation des bösen Willens zur Macht,
sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses, welches zwar
einen Klassencharakter trägt, aber durch die schier mystische
Angelegenheit einer fetischistischen warenproduzierenden Welt-Gesellschaft den
nur unmittelbaren, keineswegs allgemeinen Interessengegensatz
zweier Klassen nicht etwa neutralisiert, sondern als Bedingung verdinglichter
Abstraktion von konkreter Qualität unterschiedlichster menschlicher
Arbeiten zur notwendig gesellschaftlich vermittelten Existenzbedingung von
beidem versteinert: Das ganze Verhältnis als
Kapitalverhältnis von Lohnarbeit und Kapital, Produktion und Reproduktion
ist also das Falsche, der einzigste Antagonismus zur befreiten
Gesellschaft, und nicht etwa nur ein interessegeleitetes Klassensubjekt oder
gar eine Klasse von böswilligen Subjekten, deren einzigster Zweck darin
bestünde, das zwangsweise anonyme Schöpfen von Mehrwert zur
Unterdrückung einer anderen Klasse durchzuführen, um sich dergestalt
materiellen Reichtum anzueignen. Alleiniger Ausgangspunkt radikaler Kritik hat
die Kapitallogik der Selbstverwertung des Werts zu sein und nicht ihre zwingend
notwendige Form. Die Unlogik abstrakter Herrschaft allein bedarf konkreter
Kritik vom materialistischen Standpunkt der Versöhnung von Mensch und
Natur aus, denn nur so läßt sich zumindest annähernd das
Problem begrifflich an der sachlichen Wurzel packen, wie es Marx Kritik
der politischen Ökonomie nicht von ungefähr zum Maßstab
einzigst radikaler Kritik erhob. Jeglicher Versuch von Kritik, der dies nicht
zum einzigst möglichen Ausgangspunkt nimmt, muß zur falschen werden.
Insofern bezieht negative Dialektik praktisch einen Standpunkt, nur eben nicht
theoretisch vorweg.(13) Denn der bodenlose Gedanke ist nichts als
seine reflexionslose Selbstverleugnung und deshalb kann es ihn nicht geben,
schon gar nicht als kritischen.
Der/Die Be/Weg/ung ist das Ziel
Das Perfide an den geplanten Anti-Nato-Massenprotesten von München besteht
gerade darin, daß ein Protest gegen die Nato-Politik ohne die
Anschläge vom 11. September im Großen und Ganzen ausgeblieben
wäre. Das ist umso erschreckender, als dies die Abwesenheit eines linken
Protestes gegen die Bombardierung Jugoslawiens durch die Nato explizit
einschließt und erklären kann. Tatsächlich wird hier also mit
den Protesten etwas instrumentalisiert, dessen Hintergrund sich mittels der
Wahrnehmung der Proteste und den Aufrufen dazu erschliessen läßt:
Die Aktionen gegen die Münchener Konferenz für
Sicherheitspolitik sind (...) eine notwendige Erweiterung der
Konfrontationslinie der sogenannten Antiglobalisierungsbewegung (...),
mit der letztlich schon eine gemeinsame radikale Praxis gefunden
scheint, schreiben Antifa (M) und BgR. Und das Münchener
Bündnis meint: Unser Ziel muß es heute sein, eine neue
internationale Bewegung aufzubauen, die in der Lage ist, radikale Alternativen
zur ökonomischen, politischen und sozialen Weltordnung
aufzuzeigen.
Unumwunden geben beide erwähnten Aufrufe also zu verstehen, daß der
Protest nur als Instrumentarium zur eigenen identitären Selbstfindung
dient, es also gar nicht um den Gegenstand des Protestes geht, sondern um die
Konstitution von sich selbst als sogenannte Bewegung. Genau hier verrät
linke Bewegungspolitik ihren wahren Charakter: Sie pflegt zu allem und jedem
einschließlich zu sich selbst und ihrer Leidenschaft ein instrumentelles
Verhältnis und verkommt so zur Tautologie, zum blanken Selbstzweck der
Zwecklosigkeit. Im Mittelpunkt steht das aussichtslose Unterfangen der
Begründung einer linken Massenbewegung sie ist einzig und allein
der Weg als Ziel. Verkannt wird dabei folgenschwer, daß sich neue soziale
Bewegungen nicht nur durch das diffuse Unbehagen in der Gesellschaft
konstituieren, sondern auch bedeutend in Abgrenzung zu einer
institutionalisierten Linken ob nun Partei, Verein, Gruppe oder
Strömung ist dabei völlig unerheblich. Damit offenbart sich zugleich
die Aussichtslosigkeit eines linken Unterfangens, nicht nur anerkannter Part
einer irgendwie gearteten Bewegung zu werden, sondern diese darüberhinaus
auch noch initiieren und in Struktur gießen zu wollen.
Unter der fortwährenden Beachtung dieser weitreichenden Erkenntnis findet
Kritik einen weiteren Maßstab ihres Wahrheitsgehaltes: Wenn Hans
Jürgen Krahl der Kritischen Theorie einst vorwarf, daß ihr Elend im
Unvermögen bestünde, die Organisationsfrage zu stellen, so ist heute
ein mal mehr festzustellen, daß genau dieses Unvermögen nur ein
untrügliches Zeichen ihrer verzweifelten Aktualität sein
kann.(14)
Es wird ein Geheimnis derer bleiben, die nach München mit der durchaus
respektablen Absicht fahren wollten, sich nicht mit vor Ort propagiertem
Antiamerikanismus, Antizionismus und Antisemitismus gemein zu machen, wie sie
dies wohl zu bewerkstelligen dachten. Allein die unzähligen stolzen
Besitzer der sogenannten Palitücher dürften ein solches Unterfangen
ungemein erschweren, zumal in den meisten Fällen sich ja tatsächlich
die Gesinnung im Tragen des Tuches vergegenständlicht. Daß solche
sogenannten Events derlei Linke nicht nur wie Fliegen anzieht, sondern diese
meistens schon tiefgehend in die Vorbereitungen solcher Proteste involviert
sind, könnte man durchaus als Allgemeinplatz bezeichnen. Und so scheint
eine wirkliche Abgrenzung von derlei linkem Klientel schier unmöglich zu
sein.
Allein unmittelbare Anwesenheit der Polizei oder direkte staatliche
Einschüchterungs- und Verbotsversuche verhelfen regelmäßig dem
linken Gemeinschaftsgeist zum jeweils endgültigen Durchbruch von
gegenseitiger Akzeptanz und Solidarität. Ein übriges tut dabei immer
wieder der theoretische Hintergrund eines notorisch falschen Gewaltbegriffes,
der in Kreisen linker Bewegungsdenker statt einer Kritik des objektiven
Gewaltverhältnisses von Staat und Kapital nur eine Kritik der einzelnen
Staatsgewalten (Bullenstaat, Für
Demonstrationsfreiheit, Gegen Staatsterrorismus, Gegen
Repression usf.) zu leisten vermag und so das bürgerliche
Verständnis von Gewalt unfreiwillig affirmiert anstatt es als Kritik
vorzusingen, wie Marx es einst zum Maßstab jeglicher Kritik erhob.
Die Affirmation pluralistischer Bewegungen bedeutet letztlich immer auch die
Duldung von Antisemitismus, Antizionismus und Antiamerikanismus. Denn die
jeweilige Identifikation erfolgt ausschließlich über das Objekt des
Protestes. Ausgegrenzt wird demzufolge nur, was beispielsweise als formal
Rechts gilt, nicht aber, was inhaltlich unerträglich zu sein hätte.
Der radikalen Bewegungslinken liebstes Kind ist bekanntlich die Militanz. Sie
aber ist letztlich nichts weiter als der Versuch, mittels eines militanten
Protest-Habitus Distinktionsgewinne einzufahren. Somit ist Militanz nicht etwa
Ausdruck von besonders radikaler Kritik der Verhältnisse, sondern vielmehr
deren Ersatz. Man tappt damit quasi von einer Bewegungsfalle in die
nächste. Denn unter dem Vorzeichen sogenannter militanter Praxis wird
gerade nicht die Bewegung instrumentalisiert, sondern umgekehrt, die Bewegung
instrumentalisiert die Militanz und wendet sie gegen sich selbst und ihre
Protagonisten: So wird verständliche Triebumleitung, die einem Mittel wie
Hooliganismus völlig wesengleich ist, durch eine soziale Bewegung zur
repressiven Entsublimierung kanalisiert.
Weder die Instrumentalisierung einer Bewegung noch die Instrumentalisierung
durch eine Bewegung ist der Zweck radikaler Kritik der
Verhältnisse. Jener besteht vielmehr darin, eine kritische Aneignung von
Bewußtsein zu befördern. Ein Bewußtsein, das an die Stelle der
Besinnungslosigkeit gegenüber den Verhältnissen die Selbstreflexion
zu setzen vermag und nicht die alleinige Projektion als Akt der
Verdrängung eigenen Leidens.
Anmerkungen:
1 Mit Erschrecken mußte der Autor feststellen, daß dieser
gemeinsame Aufruf von Antifa (M) und BgR Leipzig im weiteren noch
Unterstützung seitens der Antifaschistischen Aktion Berlin und von ATAG
(Autonome Thüringer Antifa-Gruppen) im dokumentierten Nachdruck in der
bewegungslinken Zeitschrift Phase 2erfuhr in einem Blatt mit
bürgerlichem Pluralismus-Anspruch der Meinungsvielfalt, hinter der sich
die Macher mangels abwesender wirklicher Positionierung verstecken: da man
allgemein davon ausgehen kann, daß das durchschnittliche analytische
Niveau in Bewegungsblättern dort endet, wo man eigentlich anzufängen
hätte, tritt am Beispiel dieses Aufrufs allerdings deutlich zutage, wie
vorsichtig man mit einer vorschnellen Verharmlosung des Inhalts solcher
Pamphlete zu sein hat. Es zeigt sich, daß die
Unbedenklichkeitsbescheinigung auf Grund inhaltlicher Harmlosigkeit sich
durchaus als schwerer Fehler erweisen kann. Das, was in solchen Aufrufen als
Pseudo-Analyse der Form nach erscheint, weil dort Analyse mit dem bloßen
Nacherzählen von Geschehnissen und Umschreiben von bekannten
Zeitungsmeldungen verwechselt wird, hat einen bedenklichen Inhalt. Dieser
besteht in der fortwährenden Reproduktion formaler Begriffe, die einfach
an die Stelle gesetzt werden, wo vormals die aus den bürgerlichen Medien
zu finden waren. So wird zum Beispiel aus einem humanitären
Einsatz ein Kriegseinsatz oder imperialistische
Machtpolitik und fertig soll die Kritik sein. Der innere dialektische
Zusammenhang von Mittel und Zweck oder der von der Notwendigkeit der Sache nach
interessiert so gar nicht erst.
2 Einen solchen Vorwurf muß man insbesondere auch dem populären
Post-Operaisten Antonio Negri und seiner ihm auf den Leim gehenden stetig
wachsenden Anhängerschar machen. In der gesellschaftkritischen Zumutung
namens Subtropen (Ausgabe 08/Dezember 2001) zum Beispiel, einer
monatlich der Wochenzeitung Jungle World beigelegten bodenlosen
Frechheit, in der nichts weiter als der geistige Müll aus vergangenen
Beute-Tagen recycelt wird, erklärt Negri im Interview folgendes:
Seiner Meinung nach können momentan drei Krisen unterschieden
werden, die multiple Krisen seien. Diese Krisen, so
Negri weiter, berühren unmittelbar den Charakter der imperialen
Souveränität. Die erste Krise betrifft das militärische Moment.
Die Krise besteht darin, dass die enorme militärische Macht der USA sich
von Selbstmordattentaten herausgefordert sieht. Die Souveränität, die
sich bislang durch die Verfügungsgewalt über Leben und Tod
definierte, bis zum Paroxysmus der nuklearen Vernichtung, existiert so nicht
mehr. Tausende könnten sich entscheiden, diese Macht anzugreifen, und
könnten freiwillig in den Tod gehen. Es handelt sich hier um einen
Widerspruch, der, wie auch immer, nach einer Lösung verlangt. Die zweite
Krise betrifft das Geld. Souveränität bedeutet auch Macht über
monetäre Prozesse, die Macht über das Geld. Die große Krise
geht auf die neoliberale Ideologie zurück, auf die Lex mercatoria, also
darauf, dass der private Sektor in die Lage versetzt wurde, monetäre
Krisen zu produzieren. Die monetäre Regulation geht nicht mehr über
den Staat, sie läuft zu 80 Prozent direkt über die Privatwirtschaft.
Jetzt, nach diesen Attentaten, sieht man die Probleme, etwa bei der Garantie
der Assekuranzen. Die dritte Krise ist die der Kommunikation. Die Krise der
Souveränität ist verbunden mit der Zirkulation von Sinn, und dabei
mit einem atemberaubenden Zerfasern der Kommunikation. Das ist eine absolut
dramatische Entwicklung. Die Krise der Kommunikation ist eine Katastrophe
für die Souveränität. In der Situation nach dem 11. September
zerfaserte die Kommunikation derart, dass die Krise nicht mehr beherrschbar
ist.
Das Problem einer solchen Negrischen Denkbewegung als Methode der Deskription
ist grundsätzlich, daß sie formal ihren bewußt nicht
vorhandenen dialektischen Tiefgang im Vokabular verschleiert. Wer diese
Hürde erst einmal genommen hat, sich also darauf einläßt, die
merkwürdigen tautologischen Begriffsdeutungen wie zum Beispiel
Souveränität bedeutet auch Macht, imperiale
Souveränität, militärisches Moment,
Macht über das Geld, Zirkulation von Sinn oder
Zerfasern der Kommunikation gelten zu lassen, der findet Gefallen
an dieser Form von Dichtung, wie es Georg Fülberth so treffend benannte,
die dann Begriffe wie Empire oder immaterielle Arbeit
parat hält. Mit der Kritik der Wirklichkeit aber hat das Ganze
Begriffswirrwarr eines Negri nur bedingt zu tun. Ähnlich wie dem
cineastischen Philosophen Slavoj Zizek, der sich vorgenommen hat, das
cartesianische Subjekt des Idealismus wieder zur Geltung zu bringen
(vgl. sein Buch Die Tücke des Subjekts), um darin das
identische Moment von Sein und Denken für die Philosophie wieder zu
entdecken, ist letztlich Negri erst die Erzeugung einer Kommunikationskrise
durch bewußte halbvolle bzw. halbleere effekthaschende
Begriffshülsen zu unterstellen.
Die Wirklichkeit wird nicht etwa darstellend kritisiert, sondern ähnlich
wie in der bürgerlichen Wissenschaft zerissen, zerlegt und so
ideologisiert. Im Mittelpunkt soll im Kantischen Sinne die Sache selbst stehen,
um dann großkotzig darzulegen, daß sie doch gar nicht die Sache
selbst sei. Anstatt also die Beziehung der Form-alen Sachen zueinander, ihre
gegenseitige Vermitteltheit und Durchdringung in den Mittelpunkt einer Kritik
des Gegenstandes zu stellen, wird die Sache selbst zum Gegenstand einer so auch
noch zu allem Überfluß für transzendental gehaltenen Kritik
gemacht. Was im Hegelschen Sinne einer Formbestimmung der geistigen
Durchdringung nicht mit der Sache selbst identisch ist, und deshalb als
durchweg dialektische Beziehung zu begreifen ist, welche Marx bekanntlich
materialistisch erdete, in dem er sie gesellschaftlich-historisch faßte,
verkommt bei Leuten wie Negri und Zizek zum Denkverbot, von Gesellschaft als
einer durchweg vermittelten überhaupt auszugehen: Die dialektische
Beziehung als Totalität soll nicht sein, weil sie nicht sein darf. Die
Form, die für den Inhalt von zum Beispiel Geld, Militär und
Kommunikation gehalten wird, wird von ihrer inneren Beziehung zum Inhalt
abgeschnitten. Gesellschaftliche Zusammenhänge als vermittelte verkommen
so zu subjektlosen Strukturproblemen auf einer zusammenhanglosen Mikroebene:
Unterm Mikroskop aber verschwinden die wahren Zusammenhänge und
können, wie Deleuze/Guattari es nennen, nur noch Fluchtlinien
konstruiert werden.
3 So sagte Horkheimer 1970 vor Studenten: Es ist das, was
Marx schließlich von der richtigen Gesellschaft erwartete, wahrscheinlich
schon deshalb falsch, weil und dieser Satz ist wichtig für die
Kritische Theorie Freiheit und Gerechtigkeit ebenso verbunden sind, wie
sie Gegensätze sind; je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit. Wenn
es gerecht zugehen soll, muß man den Menschen sehr viele Dinge verbieten,
vor allem, sich nicht über den anderen hinaufzuschwingen. Aber je mehr
Freiheit es gibt, um so mehr wird derjenige, der seine Kräfte entfaltet
und gescheiter ist als der andere, den anderen schließlich zu unterjochen
fähig sein, umso weniger Gerechtigkeit jedoch wird es dann geben.
(vgl. ders., Kritische Theorie gestern und heute, in: ders., Gesellschaft im
Übergang, Frankfurt am Main 1981, S. 165)
4 Agnoli schreibt zur Charakterisierung der Transformation der Demokratie:
Sie ist sowohl Modernisierung des Staates im Sinne einer Angleichung an
neue Formen des kollektiven Lebens (an die sogenannte Massengesellschaft), als
auch Verbesserung im Sinne der Modernisierung von Herrschaftsmitteln. in:
Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990, S.24
5 Wärmstens empfohlen sei in diesem Zusammenhang schon vorab die im
Frühjahr beim Ca Ira-Verlag erscheinende Aufsatzsammlung
Transformation des Postfaschismus, hg. von Stephan Grigat.
6 Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990, S.16
7 ebd. S.20
8 Empfohlen sei damit einmal mehr Horkheimers grundlegender Aufsatz
Traditionelle und kritische Theorie, in denen er die oben
erwähnten originären Gedanken ausführte.
9 vgl. Johannes Agnoli, Die Transformation der Demokratie, Freiburg 1990,
S.218
10 Neben Foucaults bekannter Einlassung, daß ihm die zeitigere Kenntnis
über die Kritische Theorie viel Arbeit erspart hätte, sei darauf
verwiesen, daß Foucault erst in Gebrauch der Lüste 1984
(Sexualität und Wahrheit 2) das historische Subjekt überhaupt zum
Leben erweckt. So konstatiert er ebenda eine theoretische
Verschiebung, die sich ihm aufgedrängt hätte,
um das zu analysieren, was man oft als den Fortschritt der Erkenntnisse
bezeichnet: (...) Spiele des Wahren und des Falschen, in denen sich das Sein
historisch als Erfahrung konstituiert, das heißt als eines, das gedacht
werden kann und muß. (vgl. Michel Foucault, Modifizierungen, in:
ders., Gebrauch der Lüste, Frankfurt/Main 1989, S.9-21.)
Bei Louis Althusser wird das Marxsche Werk strukturalisiert, als eine
ideologische Periode und eine wissenschaftliche
systematisch gefaßt (vgl. Louis Althusser, Für Marx,
Frankfurt/Main, 1968).
Der Autor hält sich bei der Kritik am Strukturalismus unter anderem an
Jean Amery, der 1973 bezüglich des Strukturalismus schrieb: Das
System ist alles. Der Mensch ist nichts. Die Wirklichkeit ist wenig.
Dieses System oder dieser Diskurs ist nicht historisch
erklärbar, man kann ihn nur feststellen. Es hat die verschiedenartigsten
spezifischen Züge: bei Levi-Strauss sind es die strukturalen Relationen
von Verwandtschaft und Mythos. Bei Lacan ist es die Struktur der
unbewußten Rede, bei Althusser das System der Ökonomie,
bei Foucault seine episteme. Der gemeinsame Nenner, auf den wir
schließlich kommen, ist die totale Formalisierung unseres Wissens,
einfacher gesagt: der Vorrang der Form vor dem Inhalt. (vgl. Jean Amery,
Wider den Strukturalismus, in: ders., Weiterleben aber wie?, Stuttgart
1982, S.115)
11 Im übrigen geht der Autor davon aus, daß der sogenannte
Poststrukturalismus nicht die Überwindung des Strukturalismus ist, wie
seine Protagonisten gern behaupten, sondern vielmehr seine Verdoppelung als
Problem: von der gesellschaftlichen Makro- auf die Mikroebene.
12 Wolfgang Pohrt, Theorie des Gebrauchswerts, Frankfurt am Main 1976, S.23
13 Adorno, der seine Dialektik als die nur einzigst mögliche bezeichnet,
und mit dieser somit nicht etwa nur einen Platz an der Seite von Hegel oder
Marx beansprucht, sondern generell den Platz von beiden, benannte seine
negative Dialektik so: Dialektik ist das konsequente Bewußtsein von
Nichtidenität. Sie bezieht nicht vorweg einen Standpunkt. (Theodor
W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1975, S.17)
14 vgl. Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt am
Main 1971, S.254; siehe ebd. auch seinen aufschlußreichen
Diskussionsbeitrag auf dem Berliner Vietnam-Kongress (S.145 bis
148), der sich mit der Rolle der Nato im Gefolge des Vietnam-Krieges
beschäftigt. Krahl beklagte dort, was man fast eins zu eins in die
gegenwärtigen Anti-Nato-Aufrufe übernehmen könnte: Die
Nato soll umfunktioniert werden in den Kampf gegen die
sozialrevolutionären Bewegungen der Dritten Welt. Die europäischen
Nato-Länder sollen die Funktion einer jederzeit einesetzbaren
militärischen Reservearmee zur blutigen Zerschlagung des
sozialrevolutionären Befreiumgskampfes erfüllen. Diese Zitate
lesen sich wie ein Textbaustein antiimperialistischer Ideologie. Haben sie
damals in den 60ern ihre emanzipatorische Berechtigung aus dem Umstand
gerechtfertigter Hoffnung auf Befreiung bezogen, so ist ihre heutige fast
wortwörtliche geistige Reproduktion abzüglich zwar der
sozialrevolutiönären Adjektivierung, nicht aber deren Substanz
in zahlreichen Aufrufen unter den Bedingungen des endgültigen Scheiterns
aller Blütenträume sogenannter nationaler Befreiung als ein
qualitatives Umschlagen zu brandmarken: Das durchaus emanzipatorische
Koordinatensystem von einst ist heute als Wiederkehr des nur Verdrängten
nichts weiter als eine reaktionäre Tragödie, die bekämpft
gehört. Dieser Wiederholungszwang, der in einer unbewältigten
antiimperialistischen Ideologie begründet ist, ist endgültig vom Teil
der Lösung zum Teil des Problems mutiert. Als vergegenständlichtes
Bewußtsein ist er der unentschuldbare Fetisch der gefährlich dummen
Kerls verdinglichtes Trauma objektiver Verhältnisse, das statt als
reflexive psychoanalytische Praxis von Übertragung und
Rückübertragung auf der Couch bewältigt zu werden, lieber den
direkten Weg ins Gottesnest des islamistischen Wahnsinns suchen
läßt, um dort mit den heiligen Kriegern gemeinschaftlich-romantisch
zu kuscheln und einen Fanon-Lesekreis seines Schinkens von den Verdammten
dieser Erde unter der Fragestellung, ob eine andere Welt nun möglich ist
oder nicht, zu bilden.
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