Don DeLillo:
"Körperzeit"
Kiepenheuer & Witsch, Köln: 2001 140 S., 29,90 DM
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Der neuste Roman des US amerikanischen Schriftstellers DeLillo behandelt
ein Ereignis, mit denen die meisten Menschen schon einmal konfrontiert
wurden: Er erzählt von Lauren Hartke, einer Perfomancekünstlerin
(body artist, so auch der englische Originaltitel), die den Tod
ihres Ehemannes, Rey Nobles nicht verkraftet. Dass DeLillo nach mehreren
gesellschaftskritischen Romanen den Blick auf das Innenleben einer einzigen
Person lenkt, macht dies zu einem außergewöhnlichen Buch in der
langen Reihe seiner Romane. DeLillo wurde 1936 in New York geboren und wuchs
unter italienischen EinwanderInnen auf. Er arbeitete lange Zeit als
freischaffender Journalist und gilt als äußerst zurückhaltend,
hält kaum Lesungen und gibt selten Interviews, auf gar keinen Fall im
Fernsehen. In einem seiner wenigen Interviews gab er zu verstehen, dass er
Genugtuung aus der Tatsache ziehe, dass er so wenig gelesen werde.
Vielleicht ist es eben diese Schroffheit dem Publikum gegenüber, der
DeLillo seine inzwischen zahlreichen LeserInnen verdankt.
In dem nur 140 Seiten umfassenden Roman Körperzeit
erzählt DeLillo eine handlungsarme, aber virtuos und mit viel Liebe zum
Detail erzählte Geschichte der Verwandlungskünstlerin Lauren Hartke,
die sich durch möglichst viel Arbeit und das genaue Vorausplanen eines
jeden Tages, keine Gelegenheit geben will, über ihren verstorbenen Ehemann
nachzudenken. Der Tod ihres Ehemannes, der sich durch einen Kopfschuss selbst
umbringt, kommt absolut überraschend und wirft Lauren aus ihrem gewohnten
Alltagstrott. Das Eheleben der beiden war geprägt von Routine und
aneinander-vorbei-leben. Den einzigen direkten Einblick, den die
LeserInnen in diese Ehe bekommen, ist das letzte gemeinsame Frühstück
der beiden in ihrem einsamen Ferienhaus an der See. Auf den ersten 20 Seiten
schildert DeLillo diese letzte Mahlzeit minutiös, auch das kleinste Detail
ist es wert, erwähnt zu werden. Um mit den Worten Martin Lüdkes von
der Zeit zu sprechen: Die Genauigkeit seiner Beschreibung
steht im umgekehrten Verhältnis zur Trivialität des
Geschehenen.(1)
So zum Beispiel das Haar, das Lauren in ihrem Mund findet während sie
Milch trinkt, welche Geräusche eine Orangensaftpackung beim Schütteln
macht und wie Sojagranulat nun genau riecht. Doch trotzdem kommt beim Lesen
dieser Frühstücksszene keine Langeweile auf, denn es ist eben gerade
dieses genaue Hinsehen bei alltäglichen Handlungen, die normalerweise
schon fast unbewußt von der Hand gehen, das diese ersten 20 Seiten so
spannend macht. Übersehenes rückt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Wer
von uns hat nicht schon oft dieses Erlebnis gehabt, Was? zu fragen und im
selben Moment zu verstehen, was der Mensch gegenüber gerade gesagt hat.
Oder dass ein Lied, das mensch während des Frühstücks mit nur
halben Ohr im Radio gehört hat, einen den ganzen Tag als Ohrwurm verfolgt.
Oder aber plötzlich wegen einer in diesem Moment unheimlich wichtigen
Erkenntnis vom Zeitunglesen und Cornflakes löffeln aufzuschrecken, so zum
Beispiel zu glauben, mensch habe nun doch ein Wort gefunden, um den Geruch von
Sojagranulat zu beschreiben, nur um dann zu erkennen, dass es wie ein
Hauch Füße doch nicht wirklich trifft und diese Erkenntnis
auch schon eine halbe Stunde später wieder vergessen zu haben. Diese
Detailverliebtheit ist auch Ausdruck von Laurens unbedingtem Interesse, sich an
jede Einzelheit des letzten gemeinsamen Frühstückes zu erinnern, um
sich der Illusion hinzugeben, dass ihre Erinnerung an Rey nicht verblassen
wird.
Es war nach eben diesem Frühstück, dass Rey, ein erfolgreicher
Filmregisseur, in das Haus seiner ersten Ehefrau fährt und sich
erschiesst. Lauren kehrt entgegen den Ratschlägen ihrer FreundInnen nach
der Beerdigung in das grosse, leere und einsame Haus an der Küste
zurück. Dort kann sie schon aufgrund mangelnder Ablenkung an kaum etwas
anderes denken als an ihren verstorbenen Ehemann. Das Alleinsein und das
Nichtgelingen der Trauerarbeit treibt Lauren letztendlich in den Wahnsinn. Sie
versucht krampfhaft ihr Leben neu zu strukturieren. Sie stürzt sich in
ihre Arbeit als Verwandlungskünstlerin und entwirft ein neues Programm,
das ihre Erfahrung mit Verlust verarbeiten soll. Eines Tages jedoch
hört sie Geräusche im oberen Geschoss des Hauses, schaut nach und
sieht einen Fremden im Schlafzimmer sitzen. Der Mann, den sie dort findet, ist
nur eingeschränkt fähig zu kommunizieren. Da er auch seinen Namen
nicht sagt, tauft Lauren ihn Mr Tuttle. Mr Tuttle ist
nur in der Lage, Worte anderer zu wiederholen, diese aber bis in die kleinste
Phrasierung genau, in erster Linie die Rey Robles, aber auch die Laurens. Es
ist, als ob Lauren durch ihre starke Sehnsucht Rey wieder auferstehen
läßt. Durch die Wiederholung aller Gespräche, die sie mit Rey
geführt hat, werden Erinnerungen wach, die sie glaubte, vergessen zu
haben. Lauren allerdings kommt all das nicht merkwürdig vor, sie
interpretiert Mr Tuttle als aus der Zeitfolge gefallen. Für ihn gibt es
die Einteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht. Auch wenn die
meisten KritikerInnen diese Absage DeLillos an Zeit als ein chronologisches
Konzept und die philosophischen Betrachtungen zum Phänomen Zeit als die
herausragenden Momente dieses Romans beschreiben, bleibt die Vorstellung eines
Menschen ohne Vergangenheit eine gruselige Angelegenheit (und läßt
sich der Roman auch ohne vollständig hinter DeLillos philosophische
Betrachtungen zu Gleichzeitigkeit, Tod als Ende der Zeit und Identität zu
steigen, gut lesen). Mr Tuttle erinnert an einen Alzheimer Patienten, der jede
Situation als neu erlebt, weil er die Fähigkeit, sich zu erinnern, fast
völlig verloren hat. Keine Vergangenheit zu haben bedeutet auch
identitätslos zu sein. Es bleibt unklar, ob Mr Tuttle lediglich Laurens
Einbildung entspringt, geboren aus ihren Wünschen und Vorstellungen, ob
er, so wie der Roman auf der offensichtlichen Ebene glauben machen will, ein
entlaufener Patient aus einer Heilanstalt für psychisch Kranke ist, eine
geisterhafte Erscheinung oder ein Medium, mit dessen Hilfe Lauren Kontakt zu
ihrem verstorbenen Ehemann aufnimmt. Letztere Lesart scheint am
unwahrscheinlichsten. Dass Lauren beim ersten Anblick Tuttles nicht erschrickt
und dass niemand anderes von der Existenz Tuttles etwas mitbekommt, deutet sehr
stark darauf hin, dass er nur in Laurens Phantasiewelt existiert.
Das Motiv des leeren Sprechens, das sich in der verständnislosen
Wiederholung von nicht selbst geführten Gesprächen bei Mr Tuttle
äußert, kehrt auch an anderen Stellen in dem Roman wieder. Zum einen
in Laurens Freude, die mechanische Stimme des Anrufbeantworters einer guten
Freundin abzuhören, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Zum anderen,
ausgeweitet auf Zeit und Raum durch eine Webcam-Übertragung von einer
verlassenen Strassenkreuzung in Kotka, einem kleinen Ort irgendwo in Finnland.
Sich diese Übertragung im Internet anzuschauen, ist eines der
täglichen Rituale, an die sich Lauren klammert und das ihr scheinbar
innere Ruhe verschafft.
Darüber hinaus versucht Lauren, wie schon angedeutet, mit Hilfe einer
Bühnenshow, den Tod ihres Mannes zu überwinden. Dafür entwirft
sie nicht nur eine Choreographie, sondern verwandelt sich selbst Stück
für Stück, in dem sie sich die Haare und ihren Körper bleicht
und ihren Körper penibel säubert. Sie reinigt ihren Körper
von Zeichen der Identität(2) und läßt
immer weniger, wie es in dem Roman heißt, von ihrem eigenem
Leben übrig. Mit anderen Worten, sie wird autoaggressiv, fügt sich
selbst Schmerz zu. Außerdem wird sie abhängig von
Fliessensäuberungsmittel, das sie regelmäßig einatmet.
In einem Zeitungsartikel einer befreundeten Journalistin über den ersten
Auftritt Laurens nach Reys Tod wird deutlich, dass sowohl diese Freundin als
auch mit großer Wahrscheinlichkeit das restliche Publikum, diese
Bühnenshow ausschließlich als Kunst versteht und das elende Aussehen
Laurens nicht als Folge des nicht mit dem Tod ihres Mannes umgehen zu
können, betrachtet. Doch der Versuch der Selbstdisziplinierung und des
krampfhaften Beschäftigtseins schlägt fehl. Mr Tuttle verschwindet
zwar wieder aus Laurens Leben, aber sie hat den Tod ihres Mannes immer noch
nicht verkraftet, sie fristet auch nach dem Verschwinden Tuttles ein einsames
Dasein in dem großen Haus am Meer ohne direkten Kontakt zur
Außenwelt.
Die Frage, die sich mir nach dem Lesen des Buches gestellt hat, war, ob diese
Geschichte genauso funktionieren würde, wenn nicht die Frau, sondern der
Mann nach dem Tod der Partnerin allein zurückbleibt. Die Antwort muss wohl
nein lauten, denn es entspricht nicht der traditionellen
Vorstellung von Männlichkeit, an dem Verlust eines
nahestehenden Menschen kaputt zu gehen. Nicht, dass in der Literatur
ausschließlich traditionelle Geschlechterrollen transportiert werden,
natürlich gibt es genügend Beispiele, in denen mit diesen Rollen
gespielt und sie aufgebrochen werden. Doch DeLillo hat eine Frau als
Protagonistin gewählt und das sicher nicht ohne Grund. Und obwohl die
Schilderung der Trauerarbeit nach dem Tod eines nahestehenden Menschen und
deren Nichtgelingen sehr eindrucksvoll und beängstigend ist, bleibt der
fade Beigeschmack, dass sich der Autor (bewußt oder unbewußt)
für die (einfachere) Variante einer weiblichen Hauptdarstellerin
entschieden hat und somit (gewollt oder ungewollt) gängige
Vorstellungen von Weiblichkeit, wie emotionale Instabilität und
Emotionaliät gleich weiblich, reproduziert.
Trotzdem lohnt es sich, den kurzen Roman zu lesen. Und auch die verdichtete,
lyrische Sprache in Körperzeit, die im Verlauf des Romans
anstrengend und weniger spannend wird und das Ende, das offen läßt,
ob Lauren den Tod ihres Ehemanns überwinden kann oder nicht, sollte nicht
von der Lektüre des Buches abhalten. Denn, um noch einmal mit den Worten
Martin Lüdkes von der Zeit zu sprechen: Am Ende sind
seine [DeLillos] Leser nicht einmal klüger geworden. Aber mächtig
irritiert. Und nachhaltig beeindruckt.
Blaubeere
Fußnoten
(1) Lüdke, Martin: DasLeben, der Tod, die Kunst. Don DeLillos
neuer, schmaler, dafür großer Roman Körperzeit in:
Die Zeit 14/2001. http://www.zeit.de/2001/14/Kultur/200114_l-delillo.html
(2) Willman, Thomas: stream of uncousciousness. 9.4.2001.
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/buch/7343/1.html
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