Was ist Dein erster Gedanke wenn Du morgens
aufwachst?
Rick: Wieviel Uhr es wohl sein mag, wie glücklich ich bin, das ich nicht
zur Arbeit gehen muß, mit Leuten die mein Aussehen nicht akzeptieren, die
die Musik, die ich höre, nicht verstehen. Ich will einfach das machen, was
ich liebe. Ich trage meine Piercings und möchte so aussehen, wie Ich es
mag.
Ja, ich finde das sollte für jeden wichtig sein, ich meine individuell
zu sein.
Rick: Ja, schon. Ich möchte einfach nicht meine Haare schneiden, meine
Piercings herausnehmen, nur um einen Job zu bekommen und um Geld zu verdienen.
Verstehst Du, was ich meine? Geld beherrscht nicht meine Welt. Ich verdiene
mein Geld eben durch das Touren. Und eben dieses Geld stecke Ich wieder in mein
Label Back ta Basics. Ich habe auch nicht viele Ausgaben. Ich lebe bei meiner
Mutter und alles, was ich benötige, bekomme ich auf den HC-Shows. Es gibt
Essen, eine Dusche. Ich liebe eben auch das viele Reisen, die vielen
Länder, die ich sehe, die vielen Menschen die ich kennenlerne. Viele Leute
möchten so lange es geht auf die Schule gehen, um dann einen
möglichst guten Job zu bekommen. Später bauen Sie sich dann ihr Haus
und kaufen sich ihr Auto. Aber bevor du es überhaupt bemerkst, ist dein
Leben zu Ende. Ich könnte zwar jederzeit einen normalen Job haben, aber
ich möchte nun mal meine eigenen Entscheidungen treffen.
Ja, aber so leicht ist es nun auch wieder nicht, aus der
normalen Gesellschaft auszubrechen. Du brauchst das Geld
schließlich zum Leben. Am liebsten würde ich natürlich auch nur
das machen, wozu ich Lust habe.
Rick: Die ganzen Dinge wie Comin Correct, 25 ta Life, Back ta Basics... daran
hätte ich früher nicht einmal im Traum gedacht. Doch nun habe ich die
Möglichkeit, all die Dinge zu tun, die ich schon immer machen wollte. Es
sind sogar Dinge, die ich jeden Tag mache. Ich stecke soviel Zeit in all die
Dinge und es geht nicht um Geld! Ich bin einfach happy, mit dem was ich
mache.
Machen Piercings individuell wenn ja, reicht das?
Als ich auf dieses Interview stieß (welches hier nur auszugsweise
dokumentiert ist) stellte sich mir genau eine Frage. Es schoß mir durch
den Kopf: Welcher von beiden der Interviewer oder Rick ist mehr
verblendet. Auf der einen Seite steht Mr. Du darfst schon mal individuell
sein und trotzdem mußt auch du arbeiten gehen und auf der anderen
Seite Mr. Meine Pircings machen mich so individuell, dass die Arbeit,
welche ich täglich verrichte, mir schon richtig Spaß macht.
Das ist doch alles gar nicht erschreckend, werden einige meinen. Aussagen wie
eben jene sind zumindest nichts Neues oder Außergewöhnliches, was
sie nicht minder bedenklich macht. In einem Punkt treffen sich beide nicht
scheinbar, sondern absolut. Um was mag es wohl jetzt wieder gehen? Um die
Arbeit! Und damit mein geistiges Tun nicht zu Arbeit mutiert,
übergebe ich das Wort an Norbert Trenkle. Sein Text wurde zuerst
veröffentlicht in der Zeitschrift Juridikum 2/98 (Wien).
mausi
Terrorismus der Arbeit
Arbeit ist für den westlich sozialisierten Menschen die
selbstverständlichste Sache der Welt; so selbstverständlich,
daß er im allgemeinen gar keinen Gedanken darauf verschwendet, um was es
sich eigentlich dabei handelt. Fragt man ihn, so wird er ungefähr
antworten, Arbeit sei nichts anderes als zweckorientiertes, anstrengendes
körperliches oder geistiges Tun und als solches ewige Notwendigkeit des
menschlichen Daseins. Vielleicht geht er gar so weit, in der Arbeit das Wesen
des Menschseins zu sehen, also das, was ihn vom Tier unterscheidet und aus der
Natur heraushebt. Eine Schrift mit dem Titel Anteil der Arbeit an der
Menschwerdung des Affens, wie sie Friedrich Engels am Ende des 19.
Jahrhunderts verfaßte, mag den Heutigen ein wenig zu pathetisch klingen,
dennoch bringt sie den immer noch herrschenden Bewußtseinszustand auf den
Punkt. Verräterischerweise zählt in linken Kreisen des
Deutschen Gewerkschaftsbundes ausgerechnet diese Schrift zu den bewahrenswerten
Texten des Marxismus.
Nun wäre es absurd, abzustreiten, daß zur Erhaltung und zur
angenehmen Gestaltung des Lebens allerlei nützliche Dinge produziert und
die unterschiedlichsten Tätigkeiten verrichtet werden müssen. Wenn
Menschen essen wollen, müssen sie Getreide, Gemüse und Obst anbauen,
Tiere züchten; müssen sie Kochen und überhaupt erst einmal
Felder angelegt, Stallungen, Lagerräume und Küchen gebaut und
ausgestattet haben; müssen sie gelernt haben, wie man all dies tut;
müssen sie sich darüber einigen, wer was und wann tut und wie die
hergestellten Dinge verteilt werden usw. usf. Daran wird sich
grundsätzlich nie etwas ändern, auch wenn mit Hilfe von Wissen und
Technik der notwendige Zeitaufwand reduziert werden mag. Doch wieso werden
solche völlig unterschiedlichen Tätigkeiten in der bürgerlichen
Gesellschaft eigentlich unter einer einzigen Abstraktion der
Arbeit subsumiert?
Zunächst einmal könnte es so scheinen, als sei dies eine bloße
Denkabstraktion, die nur der begrifflichen Erfassung der Wirklichkeit und der
leichteren Verständigung dient, ganz so, wie wir Baum sagen
können, wenn wir Buche, Eiche oder Birke meinen. Doch gibt es einen
wesentlichen Unterschied. Die Abstraktion Arbeit bezieht sich
nämlich nicht auf die Inhalte der gemeinten Tätigkeiten, sondern
allein auf die gesellschaftliche Form in der sie verrichtet werden. Was als
Arbeit gilt, darüber entscheiden nicht stofflich-sinnliche
Kriterien, wie etwa die Frage danach, welche Handgriffe verrichtet und welche
Produkte hergestellt werden oder welchen konkreten Nutzen sie für die
Menschen haben. Entscheidend ist nur, ob eine Tätigkeit unmittelbar in den
abstrakt-gesellschaftlichen Zusammenhang der Warenproduktion eingeht: und das
Merkmal hierfür ist, ob sie für Geld verrichtet wird oder nicht.
Deshalb kann auch eine bestimmte Tätigkeit, je nach Kontext, einmal als
Arbeit gelten und ein anderes Mal nicht. Niemand wird beispielsweise den
Unterschied leugnen können, der zwischen dem Tapezieren und Streichen des
eigenen Wohnzimmers und derselben Tätigkeit als Angestellter eines
Malerbetriebs besteht. Der Tätigkeitsinhalt ist beide Male exakt der
gleiche. Aber im ersten Fall geht es mir um die Befriedigung eines ganz
bestimmten sinnlichen Bedürfnisses (dem nach einem schöneren
Wohnzimmer); im zweiten Fall dagegen stehe ich im Dienste eines völlig
unsinnlichen Zwangs: dem gesellschaftlich-totalitären Zwang zum
Geldverdienen. Vor diesem Zwang sind alle Tätigkeiten gleich, ganz
unabhängig von ihrem Inhalt. Was zählt ist nur ihre
Marktgängigkeit. Erst dadurch werden sie zur Arbeit.
Im sogenannten finsteren Mittelalter wäre niemand auf die absurde Idee
verfallen, die Aktivitäten eines Schmiedes, einer Bäuerin, eines
Ritters oder einer Nonne unter eine einzige abstrakt-allgemeine Kategorie zu
subsummieren. Das macht erst dort Sinn, wo die Menschen dazu gezwungen werden,
ihre Lebensenergie als Arbeitskraft für einen ihnen
gleichgültigen und äußerlichen Zweck zu verkaufen: den blinden
Selbstzweck der Kapitalakkumulation. Im Marxismus figurierte die Arbeit immer
als Gegensatz des Kapitals. Sie ist dies auch, aber nur insofern sie einen
Interessenpol innerhalb des gemeinsamen Bezugssystems der kapitalistischen
Warenproduktion repräsentiert. Wenn Arbeit die Form ist, in
der die Menschen ihre Lebensenergie verkaufen müssen um zu überleben,
dann muß ihnen der konkrete Inhalt ihres Tuns letztlich genauso
gleichgültig sein, wie dem Kapitalisten, der sie anheuert. Ob sie
Pestizide herstellen oder Autobahnen bauen, Bettler aus der
Fußgängerzone vertreiben oder Soap-Operas drehen es ist ihr
Job und der muß getan werden. Das schließt
persönliche Vorlieben und ethische Skrupel natürlich keinesfalls aus.
Aber das gilt für die Kapitalisten genauso. Immer wird es welche geben,
die keine Waffen produzieren wollen, aber immer finden sich auch genug andere,
die gerne ihr Geld damit verdienen. Die viel beschworene moderne Wahlfreiheit
bezieht sich immer nur auf Optionen innerhalb des vorausgesetzten
Fetischsystems von Arbeit und Kapital.
Wenn der Zwangscharakter der Arbeit den Meisten heute gar nicht mehr
bewußt wird, dann verweist dies nur darauf, wie sehr er bereits
verinnerlicht ist. Man sollte aber nie vergessen, daß es auch in Europa
über Jahrhunderte hinweg offener Gewaltanwendung, ja eines regelrechten
Krieges gegen die Bevölkerungsmehrheit bedurfte, bis die Menschen bereit
waren, regelmäßig ihre Lebensenergie in den Manufakturen und
Fabriken abzuliefern. Derselbe blutige Prozeß wiederholte sich dann mit
einiger Zeitverzögerung in den Kolonien und in den Ländern
nachholender Weltmarktmodernisierung ohne dort jedoch die gleiche
Tiefendimension der Verinnerlichung zu erreichen wie in Mitteleuropa. Hier ist
den Menschen die Arbeit so sehr zur zweiten Natur geworden,
daß sie sich kaum noch eine andere Form gesellschaftlicher
Reichtumsproduktion vorstellen können. Ein erschreckendes Indiz
hierfür ist, daß so ziemlich alle Tätigkeiten (auch solche, die
keinesfalls direkt der Warenproduktion dienen) mittlerweile wie
selbstverständlich als Arbeit wahrgenommen werden. Selbst noch
die Auseinandersetzung mit einer geliebten Person wird zur
Beziehungsarbeit und sogar im Schlaf verrichten wir
Traumarbeit. Das sind nicht nur sprachliche Ausrutscher, sondern
Hinweise darauf, wie tief die gesellschaftlich dominante Struktur bis in die
individuelle Psyche reicht. Deshalb erweisen sich auch in der Krise der
Arbeitsgesellschaft die kapitalistisch geprägten Subjekte als das
vielleicht größte Hindernis für die Aufhebung des herrschenden
Fetischsystems. Sie wollen nicht aufhören zu arbeiten, auch wenn
längst offen zutage liegt, daß die Kapitalakkumulation an ihre
absoluten Grenzen stößt.
Das Verrückte an dieser fundamentalen Krise ist, daß sie keinesfalls
auf materiellen Mangel zurückgeht, sondern im Gegenteil auf eine ungeheuer
fortgeschrittene Produktivität. Unter anderen gesellschaftlichen
Bedingungen könnte diese ohne weiteres dafür genutzt werden, alle
Menschen der Welt in ausreichendem Maße mit materiellen Gütern zu
versorgen und außerdem noch einen gewaltigen Zeitfonds für
Muße und kreativ-spielerische Betätigung jeder Art freizusetzen.
Unter dem Zwangssystem der Warenproduktion und der abstrakten Arbeit jedoch
führt der erreichte Stand der Produktivkraft unweigerlich zum
Ausschluß einer immer größeren Zahl von Menschen vom Zugang zu
den elementarsten Existenzmitteln. Jede noch so gut gemeinte Absicht der
Umverteilung ist unter den gegebenen Bedingungen letzlich zum
Scheitern verurteilt, weil das Kriterium zur Beteiligung am gesellschaftlichen
Produkt die Verausgabung von Arbeit bleibt. Darum kommen auch Gedanken wie etwa
die eines Grundeinkommens oder Bürgergeldes nicht
herum, denn sie setzen die Abschöpfung von Wert aus dem
betriebswirtschaftlichen Vernutzungsprozeß lebendiger Arbeitskraft in der
Warenproduktion voraus. Soll dieser Prozeß nicht abgewürgt werden
(und das wäre das Ende der ganzen Münchhausiade), kann die
monetäre Umverteilung in der Praxis nur auf eine Almosenzuteilung noch
unter Sozialhilfeniveau hinauslaufen. Und auch eine Arbeitszeitverkürzung
oder -flexibilisierung (in welcher Variante auch immer) kann allenfalls einen
kleinen Teil der Herausgefallenen temporär wieder ins System der Arbeit
integrieren und dies meist nur bei erheblich verschlechtertem
Geldeinkommen.
All dies läßt sich auf den fundamentalen und immanent
unlösbaren Grundwiderspruch der modernen Warenproduktion
zurückführen, der darin besteht, daß sie einerseits auf das
massenhafte In-Bewegung-Setzen von Arbeit angewiesen ist, weil sie ihren
verrückten, unsinnlichen Sinn der Kapitalakkumulation nur auf
diese Weise erfüllen kann. Denn das Kapital ist nichts anderes als die
fetischistische Darstellung von vergangener oder toter Arbeit
(Marx), von Arbeit, die im betriebswirtschaftlichen Verwertungsprozeß
verausgabt wurde. Andererseits erzwingt aber die Marktkonkurrenz eine
permanente Steigerung des betriebswirtschaftlichen Produktivitätsniveaus,
also gerade ein Überflüssigmachen von Arbeitskraft, und
untergräbt so ständig die eigene ökonomische Existenzgrundlage.
Bis in die siebziger Jahre konnte der Kapitalismus diesen Grundwiderspruch
durch territoriale Expansion und durch die Erschließung neuer
arbeitsintensiver Branchen und Bereiche entschärfen (z.B. Autoproduktion).
Mit dem Ende des Fordismus ist jedoch diese Aufschubstrategie an ihre Grenzen
gestoßen; denn die mikroelektronischen und informationstechnologischen
Produktivitätspotentiale sorgen für ein massives Abschmelzen der
Arbeit in den produktiven Kernsektoren der Verwertung, für die es keine
auch nur annähernde Kompensation mehr gibt. Die angeblich neuen
zukunftsträchtigen Sektoren der Beschäftigung,
insbesondere im sogenannten Dienstleistungsbreich, erweisen sich bei
näherem Hinsehen sehr schnell als Chimäre.
Soweit dort tatsächlich eine Expansion stattgefunden hat und nicht nur
durch statistische Tricks vorgetäuscht wird, ist das keinesfalls ein
Anzeichen für eine auch nur temporäre Lösung des
kapitalistischen Dilemmas. Erstens basieren die
Beschäftigungserfolge teils direkt, teils indirekt auf der
enormen Aufblähung des Kredit- und Spekulationsbereichs, der längst
zum Hauptmotor der Weltkonjunktur geworden ist. Entgegen der landläufigen
Meinung stellt die Abwanderung von Kapital in diese Sphäre nämlich
nicht etwa ein Hemmnis für produktive Investitionen dar, sondern bietet
primär eine willkommene Ausweichmöglichkeit für Gelder, die in
der Realwirtschaft nicht mehr rentabel angelegt werden können.
Die basale Verwertungskrise wird zwar auf diese Weise nicht gelöst, aber
dennoch für eine Weile aufgeschoben. Je länger freilich dieser
Aufschub währt, je mehr sich die Spekulation verselbständigt, desto
gewaltiger wird auch der Rückschlag auf die Realakkumulation, die
Sozialsysteme und die Staatsfinanzen sein (die Ereignisse in Südostasien
sind nur ein schwacher Vorschein hiervon).
Solange das Spiel allerdings noch funktioniert, tragen die Rückflüsse
wesentlich zum Erhalt und zur Schaffung von Arbeitsplätzen
bei, die ansonsten niemals finanziert werden könnten. Dies gilt nicht nur
für den Staatssektor, der längst auf Gedeih und Verderb am
Kredittropf hängt, sondern ebenso und in zunehmendem Maße für
einen großen Teil der privat-kapitalistischen
Beschäftigung; denn die Spekulationsgewinne werden ja
teilweise auch wieder für den Kauf von Konsumgütern, Gebäuden
und Dienstleistungen verausgabt und setzen damit Arbeit in Bewegung. Vor allem
in den USA, wo viele Kleinanleger ihr Vermögen in Aktien angelegt haben,
sind die Börsengewinne in den letzten Jahre ein entscheidender Konsummotor
gewesen. Und wenn der US-Staatshaushalt 1999 zum ersten Mal seit 30 Jahren ein
leichtes Plus aufweisen wird, dann liegt das vor allem an den
abgeschöpften Spekulationsgewinnen. Wie der ehemalige
US-Notenbankgouverneur Lawrence Lindsey vorgerechnete, hat die
Clinton-Regierung insgesamt 225 Mrd. Dollar entsprechender Zusatzeinnahmen bis
zum Jahr 2002 fest eingeplant (vgl. Wirtschaftswoche 13.11.97). Manna vom
Himmel nennt Lindsey dies ironisch; allerdings handelt es sich um einem
höchst profanen Himmel, der ziemlich bald einstürzen dürfte.
Zweitens sind aber bekanntlich die meisten neuen Arbeitsplätze
insbesondere im tertiären Sektor nur deshalb überhaupt
konkurrenzfähig, weil die Löhne extrem niedrig sind, die sozialen und
arbeitsrechtlichen Sicherungen weitgehend oder völlig ausgebaut wurden und
kaum noch Steuern und Abgaben gezahlt werden. Die mangelnde ökonomische
Produktivität wird so durch eine extreme Ausbeutung der Arbeitskraft und
durch die Verschiebung von Kosten auf den Staat oberflächlich (und nur
partiell) auf der monetären Ebene ausgeglichen. Doch der die Krise
induzierende Grundwiderspruch kann dadurch nicht gelöst werden. Denn vom
Standpunkt der Kapitalverwertung zählt nicht einfach, daß
überhaupt Arbeitskraft verausgabt wird, sondern ob und wieviel Wert sie
darstellt. Das Kriterium dafür ist die auf dem gegebeben Stand der
Produktivkraft gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit für die Herstellung
eines bestimmten Produkts. Daher wird der Maßstab des Werts von den
produktiven Kernsektoren der Weltmarktproduktion bestimmt. Dem kann sich auch
der Billiglohnsektor nicht entziehen, der immer dieser Konkurrenz ausgesetzt
bleibt.
So können etwa 500 Arbeitsstunden einer Stoff-Zuschneiderin in einer
Hinterhof-Schwitzbude durchaus weniger Stückzahlen abwerfen und daher auch
weniger Wert darstellen, als eine einzige Arbeitsstunde an einem
laserbestückten Textilroboter. Analoges gilt für den breiten Bereich
kommerzieller Dienstleistungen, die zwar selbst keinen Wert
produzieren, aber dennoch systemisch unentbehrlich sind, weil Waren
nun einmal auch verkauft werden müssen. Der gesamte Kleinst- und
Straßenhandel, der vor allem in den Ländern der Dritten
Welt einen großen Teil des informellen Sektors ausmacht, muß
sich letztlich an den durchrationalisierten Supermarktketten messen lassen, die
mit einem Bruchteil des Personal einen viel höheren Warenumschlag
tätigen. In der entwicklungstheoretischen Diskussion der 70er Jahre war
dieses Phänomen als versteckte Arbeitslosigkeit bekannt, weil
hier, volkswirtschaftlich gesehen, überflüssige Arbeitszeit
verausgabt wird. Es galt als Übergangsphänomen in den Ländern
der Dritten Welt, das im Zuge einer anvisierten (und mittlerweile
gescheiterten) kapitalistischen Modernisierung verschwinden sollte. Im Zynismus
des neoliberalen Diskurses hingegen gilt es als das höchste der
Gefühle, wenn nun auch in den westlichen Metropolen die Menschen zunehmend
dazu gezwungen werden, ihre Arbeitskraft kapitalistisch unterproduktiv und
daher zu den miserabelsten Bedingungen zu verkaufen. Hauptsache sie arbeiten
überhaupt.
Dieser Terrorismus der Arbeit kann zwar ökonomisch letztlich nicht
aufgehen, doch als Krisenverwaltungsstrategie ist er momentan in erschreckendem
Maße erfolgreich. Wie zu Beginn der kapitalistischen Warenproduktion wird
der Arbeitszwang wieder ganz offen propagiert und eingesetzt, nun aber nicht
mehr, um den Menschen die Fabrikdisziplin einzubleuen und sie für die
Armeen der Arbeit zu rekrutieren, sondern als
Disziplinierungsmittel für eine Bevölkerung, die vom Standpunkt der
Verwertung eigentlich überflüssig ist. Dienten die neuzeitlichen
Arbeitshäuser der Durchsetzung einer neuen Form gesellschaftlicher
Reproduktion gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung, so
hat der aktuelle von Neoliberalen, Sozialdemokraten und Rechtsradikalen
gleichermaßen propagierte Zwang zur Arbeit keinen anderen Zweck, als die
Aufrechterhaltung dieser historisch längst überholten Form. Das
Schlimmste ist, daß damit offenbar ein tiefverwurzeltes
Massenbedürfnis bedient wird. Wo sich überhaupt Proteste regen,
stehen die Menschen nicht gegen, sondern für die Arbeit auf soweit
sich ihre Wut nicht gleich in rassistischen, antisemitischen und
sozialdarwinistischen Projektionen äußert. Während die Krise
unaufhaltsam voranschreitet, klammern sie sich verzweifelt an die
masochistische Illusion, ihre Lebensenergie weiterhin zu immer miserableren
Bedingungen verkaufen zu dürfen. Wenn es nicht gelingt, diese fatale
Fixierung aufzubrechen und ein Bewußtsein dafür zu schaffen,
daß die historisch geschaffenen Potentiale gesellschaftlicher
Reichtumserzeugung aus den fetischistischen Formen von Arbeit und Kapital
herausgelöst werden müssen, wird die Krise der Arbeitsgesellschaft
die sozialen und natürlichen Lebensgrundlagen restlos zerstören.
Norbert Trenkle
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