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John Weiss

»Der lange Weg zum Holocaust.«

Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich

Berlin 1998, 530 S., DM 32,80

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Der deutsche Sonderweg

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Als im Frühjahr 1996 das Buch Daniel J. Goldhagens „Hitlers willing executioners“ erschien und wenig später auch dessen deutsche Übersetzung in Deutschland die Runde machte, wurde es aus verschiedenen Gründen massiv abgelehnt. Einer dieser war die Goldhagensche Behauptung des „Deutschen Sonderwegs“, das Beharren auf die Kontinuität eines spezifisch deutschen Antisemitismus, der auf direktem Weg nach Auschwitz führe. Diese Herangehensweise, diese Behauptung, so die KritikerInnen, wäre ein Rückfall in die Geschichtsforschung der 50er Jahre.
Bereits im Januar 1996, kurz vor Goldhagens Buch, erschien in den USA das Werk John Weiss’ mit dem Titel: „Ideology of Death. Why the Holocaust
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John Weiss: Der lange Weg zum Holocaust. Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich, Berlin 1998, 530 S., DM 32,80
happend in Germany“. 1997 erschien es auch auf Deutsch unter dem Titel „Der lange Weg zum Holocaust. Die Geschichte der Judenfeindschaft in Deutschland und Österreich“ und ist seit 1998 endlich als Taschenbuch erhältlich. Die Frage, die John Weiss bewegt und die er zu ergründen sucht, ist die, „warum die Deutschen die Vernichtung der Juden geplant und durchgeführt haben.“* Die Terminologie von „den Deutschen“ ist schon hier unverkennbar. Die Phrase von „den Nazis“ auf der einen und „den Deutschen“ auf der anderen Seite, die läßt er nicht gelten. Die Schlüsse der „meisten Historiker..., der Holocaust sei allein das Ergebnis von Entscheidungen einiger fanatischer Nazi-Führer gewesen“ muss John Weiss, in Anbetracht seiner Forschungen, scharf zurückweisen. Für ihn ist der Holocaut nicht Produkt einer Minorität, welche die Majorität der Bevölkerung unterdrückte, um ihren mörderischen Plan aushecken zu können, sondern er ist Produkt einer spezifisch deutschen und deutsch-österreichischen Kultur. Er möchte nachweisen, wie sich der Antisemitismus und der Wille zur Vernichtung der Juden als integraler Bestandteil der deutschen Kultur entwickelte. „Die deutschen Juden wurden die Opfer einer einzigartigen, rassistischen Kultur“. Schuld daran, so meint John Weiss, sei „der einzigartige Verlauf der modernen deutschen Geschichte“. Er möchte die Hitler zugeschriebene Sonderrolle entmystifizieren und zeigen, daß „Hitlers Rassismus charakteristisch für Millionen Deutsche und Deutsch-Österreicher der unteren Mittelschicht war.“
Was John Weiss (wie auch schon Goldhagen) gelingt, ist, das wesentliche Element des Holocaust wieder in den Vordergrund zu stellen. Der völlig fehlgeleitete Kampf zwischen „Intentionalisten“ und „Funktionalisten“, denen, die im Holocaust die Verwirklichung der mörderischen Ideen der Führer des deutschen Nationalsozialismus sehen, und jenen, die im Holcaust vor allem das Ergebnis einer „kumulativen Radikalisierung“ entdecken, hat die Holocaust-Forschung seit Jahrzehnten beschäftigt. Dort will Weiss deutlich und radikal ausbrechen, denn „all diese Erklärungsversuche haben eine gemeinsame Schwäche: Sie neigen dazu, die Wirkung einer antisemitisch gesprägten Kultur auf die deutschen und österreichischen Populisten außer acht zu lassen“. John Weiss möchte „die Diskussion wieder auf den historischen Einfluß des Antisemitismus unter den Deutschen und Österreichern lenken.“
John Weiss füllt mit diesem Werk eine Lücke. Die meisten guten Bücher zur Entstehung des typisch deutschen Antisemitismus, wie z.B. Paul Massings Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, oder Pulzers Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich setzen zum Beginn der Neuzeit, mit der französischen Revolution oder noch später ein. Die einzig wirklich relevante Arbeit zum Antisemitismus in der Geschichte der Menschheit ist Leon Poliakovs Geschichte des Antisemitismus. Diese beschreibt jedoch den Antisemitismus als kulturelles Phänomen der Menschheitsgeschichte und geht auf die besondere Entwicklung des deutschen Antisemitismus nicht ein.
John Weiss jedoch beginnt radikal am Anfang. Er beschreibt die völlig unterschiedliche religiöse Entwicklung der westeuropäischen Länder und setzt (nach einem Vorspann über die Genese des christlichen Antijudaismus) somit bei Luther ein. Mit Martin Luther beginnt, nach John Weiss, der deutsche Sonderweg. Während die Reformatoren anderer Länder den Juden freundlich gesinnt waren, sorgte Luther für die Intensivierung der in der Bevölkerung weit verbreiteten Judenfeindschaft. Luthers Antijudaismus war bösartig und ging schon mit der Vorstellung der Vernichtung einher. „Kein Papst hat die Juden je so niederträchtig beschimpft; selbst Hitlers Mein Kampf wird von Luthers Antisemitismus an Obszönität noch übertroffen.“ Luther war es, der den deutschen Nationalismus mit dem Antisemitismus verband, eine Bindung, die nie wieder gelöst wurde. In den anderen Ländern des Westens entstanden mit der Reformation Kräfte, die fortan „reaktionärem und rassistischem Nationalismus“ entgegentraten, so ging Deutschland genau den gegensätzlichen Weg. „Mit der Reformation hatte Deutschland einen historischen Weg beschritten, auf dem fortan reaktionärer Nationalismus und Antisemitismus eine unheilvolle Verbindung eingehen sollten.“
Intensiver befaßt sich Weiss dann konsequenterweise mit dem deutschen Kaiserreich der Jahre 1871-1918. In diese Zeit (und noch etwas vorher) fällt die Entwicklung des modernen Antisemitismus, Antisemitismus als Welterklärungsmodell und als umfassende Ideologie abseits des klassischen Links-Rechts Schemas. Die Transformation des Antisemitismus zu erklären, das gelingt ihm nicht, ist jedoch auch nicht seine Absicht. Umso gründlicher demontiert er jedoch die klassische deutsche Philosophie, als Wegbereiter des deutschen Nationalismus mit all seinen antisemitischen Implikationen. Nicht nur Fichte und Arndt, auch Hegel, Hamann, Schleiermacher, Kant etc. werden Vorreiterrollen auf dem Weg zur deutschen antisemitischen Nation bescheinigt.
Warum geschah der Holocaust in Deutschland? Diese Frage versucht John Weiss zu klären. Für ihn ist es nicht die Bevölkerung, die er in ihrer Gemeinheit als antisemitisch bezeichnet und somit für den Holocaust verantwortlich macht. Es wäre ausreichend für ein Betrachtung des Holocaust in Deutschland, wie es Goldhagen tat (Auch wenn John Weiss Goldhagens Vorwürfe „einer nahezu kollektiven deutschen Schuld“ zurückweist), nicht jedoch, betrachtete man sich auch den Antisemitismus anderer Länder und versuchte nun die Unterschiede zu markieren. Für John Weiss sind das Entscheidende die Eliten des Deutschen Reichs, beginnend mit Luther über die antiaufklärerische deutsche Philosophie bis zur politisch-kulturellen Elite des Kaiserreichs. Sie hätten den entscheidenden Anteil daran, dass der Antisemitismus nicht zurückgedrängt, sondern im Gegenteil gefördert wurde.
Das besondere des Buches ist der permanente vergleichende Blick in die anderen westeuropäischen Länder (die osteuropäischen sind explizit ausgespaart), der ständige Versuch, Unterschiede zu zeigen, zwischen der Entwicklung westeuropäischer Kultur des Humanismus und der Aufklärung auf der einen und der Entwicklung völkisch-nationalistischer Kultur auf deutschem Boden auf der anderen Seite.
Nicht unterschlagen werden darf, auch wenn jetzt hier nur kurz erwähnt, die Aufmerksamkeit, die Weiss besonders dem österreichischen Antisemitismus widmet. Er findet es „keineswegs überraschend, daß die Beteiligung der Deutschösterreicher am Holocaust vergleichsweise höher lag als die der Deutschen insgesamt.“ Den Beweis dafür bleibt er auch nicht schuldig.
Insgesamt betrachtet ist das Buch tatsächlich der momentan wohl wichtigste Überblick über den deutschen (und österreichischen) Antisemitismus von seiner Entstehung bis zu seiner mörderischen Vollendung. Es zeigt weiterhin die Ursprünge und die Basis deutscher Kultur, welche bis heute nicht hinterfragt werden, als völkisch-nationalistisch und tief antisemitisch. Und so bleibt auch für ihn nach 1945 festzustellen: „Die Nazis waren besiegt, aber ihr Geist lebte weiter.“
Emil

*Alle Zitate sind der Ullstein-Taschenbuchausgabe entnommen


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last modified: 28.3.2007