Erfahrung im GepäckNaked Lunch. Chromosome 86.
Mit dem Begriff Alternative zu hantieren, hat
sich ja wohl unter ernstzunehmenden Leuten schon vor Jahren erledigt. Naked
Lunch wissen das ziemlich gut. Schließlich haben sie schon ende der
Achtziger/Anfang der Neunziger auf dem damaligen Big Store Label (heute
Community) eine Eigenart von dem entwickelt, was mitte der achtziger Jahre in
den Staaten College Rock geschimpft wurde. In dieser Post-Punk-Variante
spiegelte sich die Bündelung von Mersey Beat der sechziger Jahre,
Nach-Hippie-Psych-Rock, Metal, Punk und Hardcore wider. Im Ergebnis dieser
Soundentwicklung gingen auch Naked Lunch an den Start. Parallel zum Erstarken
der HC-Szene Europas und dem Auslaufen von Punk saßen sie mit aller Macht
zwischen den Stühlen der Jugendbewegungen Westeuropas. Nicht zuletzt das
veranlaßte sie, die Sache für einige Jährchen ruhen zu lassen -
wohlgemerkt mit einer guten Portion Erfahrung im Gepäck.
Zurück in die Gegenwart kommen sie mit dem Album Superstardom,
das ihnen in Fachkreisen einen Lorbeerkranz für essentielle Pop-Musik einbrachte.
Obschon abgenervt von den hartnäckigen permanenten Smashing
Pumpkins-Vergleichen, scheuen sie im Gegenzug nicht die Eigenverortung in der
Nähe von Blur, die ihnen nach Eigenaussage als einzige Band überhaupt musikalisch nahe kommt.
Neben den großen Produzenten Roli Mosimann (The The, New Order und - naja
- Smashing Pumpkins) sowie Alan Moulder (The Jesus & Mary Chain und - naja
- Smashing Pumpkins) zeichnete das feste vierte Bandmitglied Opal für die meisten Stücke verantwortlich.
Als Metapher komme der Albumtitel Superstardom daher.
Er stehe für Entschiedenheit und für ein besseres,
schnelleres, aufregenderes Leben, teilen sie mit. Das klingt alles ein
bißchen zu sehr nach Rock n Roll-Kult (oder nach Techno-Anleihe),
sollte uns aber nicht davon abhalten, ihre großen Ohrwürmer ins
Gehör kriechen zu lassen. Denn sonst entginge einem beispielsweise gar die
hysterisch interpretierte Cover-Variante des Army Of Lovers-Song
Obsession. Und das muß ja wohl nicht sein. Ein, wie sie
sagen, Gitarren-dominierter Trio-Sound spricht da bände. Lange
war der musikalische Horizont nicht von so emotionaler Breitwand:
melodiös wie heftig, lärmend wie zerbrechlich,
himmelhochjauchzend, Selbstauslöschung, honig-süße
Vokalharmonien, stoisches Punk-Rock-Gewummer - So weit ich mich erinnere, letztmalig bei Notwist...
Chromosome 86 Doch was neues aus Leipzig: netter Name, nette Idee, nette Leute. Ganz
der Klasse von 86 verpflichtet, die einstmals in England den Gitarrenpop
zurück-entdeckte, steht diese Band für das inzwischen zeitlos
richtige gitarriger Pop-Musik. Trotz des Brit-Pop-Hypes kommen die Liebhaber
der schnörkellosen 86er Zeit selten, zu selten, aus ihrer Nische heraus,
die in hiesigen Breiten nur durch das nette, kompromißlose Döbelner
Fanzine Fieberkurve eine Heimstatt kennt. Übrigens nannte man
das, was da um 1986 in England passierte, auch Noise-Pop - mit der Betonung auf
Pop. Und das ist immer eine gute Sache. Vorausgesetzt, man liebt die Musik, die
man hört und macht. Daran kann bei den Dreien aus Leipzig jedoch kein Zweifel bestehen. Ralf |