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deportation, 20.8k

Babenhausen.

1997

Die Zahl der Anschläge auf Zeichen jüdischen Lebens, auf Friedhöfe, auf Synagogen ist Legion. Antisemitismus/Rassismus jeder Art, ob sozialdarwinistisch, ob „wissenschaftlich“ unterlegt oder wirtschaftlich begründet oder aber als dumpfes Vorurteil grassierend.
Die Volksgemeinschaft steht wieder fest zusammen und ist gewillt, den Standort Deutschland gegen alles Fremde zu verteidigen. Gute (wirtschaftlich erfolgreich und assimiliert) und schlechte Ausländer, gute (möglichst weit weg) und schlechte (im eigenen Dorf) Juden.

1942 im Frühling wird der kleine Ort Babenhausen (hier könnte auch Grimma, Taucha... stehen) als judenfrei gemeldet. Die Bevölkerung jüdischen Glaubens, die nicht rechtzeitig emigrieren konnte, wurde deportiert und vernichtet.

Unausrottbare Gefühle und Ressentiments des christlichen Abendlandes drücken sich von nun an in einem neuen Vokabular aus. In Deutschland, wo die Emanzipation der Juden doppelt unpopulär war, weil sie unter der französischen Besatzung erfolgte, mußte der germanomane Patriotismus, wenn auch sekundär, eine antisemitische Färbung annehmen.
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1953 kam die Familie Merin, der Vater Widerstandskämpfer in Polen, die Mutter das KZ schwerbeschädigt überstanden und der 7-jährige Sohn Tony Abraham Merin nach Babenhausen. Damals bereits begannen die Schikanen und die antisemitische Hetze.
Angesichts der Vereinzelung der Anmache, wurden sie vom jungen Merin erst später als solche wahrgenommen.

Der Beginn des „modernen Antisemitismus“ kann in der Zeit um 1848, die Zeit der Bürgerlichen Revolution in Deutschland, verortet werden: Jacob Grimm als einflußreichster Propagandist des indogermanisch/arischen Mythos und mit diesem eng verflochten der moderne Rassismus, Richard Wagner der mit seinem mythologischen Vorstellungen die wichtigsten Element der antisemitischen Apokalypse zusammenfügte, die da wären: „der schädliche Jude“ und der Kampf der rassisch höherstehenden Völker gegen dieses Element.
Andere Namen tauchen in diesem Zusammenhang auf: von Balzac, für dessen Alter Ego die „Bücher Moses den Stempel des Schreckens tragen“, bis hin zu den Anfängen sozialistischer Bewegungen, den Anhängern Saint Simons und der Ikone der Anarchisten, Proudhon.

1988 zur Einweihung eines Denkmals für die Opfer des Holocaust in Babenhausen wird die Familie Merin nicht eingeladen. Ehemalige jüdische Mitbürger im In- und Ausland werden eingeladen. Das mutmaßliche Motto: Was von weit weg kommt, geht auch wieder.

Weitere Wegbereiter bei der Ausformung des Antisemitismus von dumpfen religiösen/sozialen Ressentiments hin zu einer quasiwissenschaftlichen Theorie, und im Endeffekt zu seiner eliminatorischen deutschen Ausprägung, wären Gobineau, Renan und Max Müller, die letzteren zwei eher mit ihrer germanisch/arischen Überlegenheitstheorie.

1992 erstattet Merin Anzeige, um zu verhindern, daß die Republikaner ihre Wahlkampfkosten vom Staat erstattet bekommen – ohne Erfolg. Die Antwort der Republikaner: Sie brachten an seinem Hof ein Plakat mit der Aufschrift >>Wir sagen, was ihr denkt<<, an.

Nochmal Gobineau, der im Prinzip nur den Bildungsstand seiner Zeit zusammenfaßte (auf den Gebieten der Philologie und der Anthropologie) und dieses Konglomerat mit seinen persönlichen Ressentiments gegen Revolutionen und Demokratie und gegen Juden vermischte. „Ich sage den Leuten nicht: Ihr seid entschuldbar oder verurteilenswert; ich sage ihnen: Ihr sterbt“. Gobineau war es auch, der den Begriff „Rasseninstinkt“ in die Terminologie des Rassismus einführte. Während Renan und Saint Simon hofften, eine allgemeine „Rassenverschmelzung“ würde die erdachten Unterschiede zwischen denselben aufheben und ein Zeitalter der Glückseligkeit einläuten, wurde Gobineau zum „grossen Herold des biologisch gefärbten Rassismus“.

1992, am Vatertag wurde nicht nur in Schönau gefeiert: Zwei Dutzend Jugendliche fuhren mit Traktor und Anhang vor Merins Haus auf und ab, „Juda verrecke“ brüllend und den deutschen, den Hitlergruß, zeigend.

Selbst bei Marx und Engels lassen sich rassistische und antisemitische Ausfälle konstatieren.
„Es ist mir völlig klar, daß er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen... Nur diese Verschmelzung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz... Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft...“
Marx an Engels über F. Lassale, 7.8.1866.

1993 versuchten Unbekannte, ihn durch das Lösen der Radmuttern an seinem Wagen umzubringen. Es folgen anonyme Anrufe mit Beschimpfungen und Drohungen.

Paul Lagarde träumte davon, die Juden nach Madagaskar auszusiedeln. In diesem Zusammenhang schrieb er, daß man mit Trichinen und Bazillen nicht verhandele, sondern sie vernichte (1942 griff Hitler dieses Motiv in einer Rede wieder auf, indem er bemerkte, der Kampf der Nationalsozialisten gegen die jüdischen Untermenschen sei von derselben Natur wie jener von Koch und Pasteur).
Lagarde hatte noch vor Hitler und Rosenberg etliche Bewunderer – von Thomas Carlyle bis Thomas Mann (der ihn als praeceptor Germaniae bezeichtete).
Wir erkennen hier ein für das endende 19. Jahrhundert typisches Geistesklima...
In Deutschland war die Suche nach einer neuen Religion zu einem endemischen Phänomen geworden. Einige Titel genügen, um die Atmosphäre wiederzugeben.
„Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres und die Ausscheidung alles Judäertums durch den modernen Völkergeist“ von Eugen Dühring,
„Die Armanenschaft der Ario-Germanen“ von Guido von List (vielleicht einer der esoterischen Ideengeber der Nationalsozialisten),
„Die Germanenbibel“ von Wilm Schwaner (ein Freund Walther Rathenaus).
Ansonsten stellten Offenbarungen aller Art (die entdeckten Geheimnisse der Heiligen Schrift, der Runen oder gar des Paradieses) einen beträchtlichen Teil der deutschen Druckproduktion dar. Gewiß, die meisten dieser Versuche lassen sich unter die okkulten, spiritistischen und theosophischen Spinnereien und Spekulationen verbuchen. Im Deutschland aber, vor und nach dem ersten Weltkrieg, wiesen diese einen extrem nationalistischen, neuheidnischen und völkischen Anstrich auf.

1993. Die Stadt Babenhausen versucht Tony Merin loszuwerden. Die Mittel reichen von kleinlichen bürokratischen Schikanen bis Angeboten, seine Grundstücke weit unter Wert an die Kommune zu verkaufen. Tony Merin lehnt dies als „Kristallnachtspreis“ ab.

Houston Stewart Chamberlain, Schwiegersohn Wagners, schuf eines der Standardwerke des Antisemitismus, „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, später von Alfred Rosenberg in Teilen als der „Mythos des 19. Jahrhunderts“ wiederaufgegriffen. Kurzes Textbeispiel: „Der Geldbesitz an und für sich ist aber das wenigste, unsere Regierung unsere Justizpflege, unsere Wissenschaften... so ziemlich alle Lebenszweige sind mehr oder weniger freiwillige Sklaven der Juden geworden“.

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1993. Tony Merin ahnt, daß die Zuspitzung unausweichlich ist. „Bevor sie mit Benzinkanistern kommen, haue ich lieber ab“. Der letzte noch lebende Jude aus Babenhausen emigriert in die USA.

Im Frühjahr 1922 ermorden Mitglieder der ultrarechten Terrorgruppe Organisation Consul den Außenminister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, eigentlich ein Bewunderer alles arisch/germanischen – das erste symbolträchtige Opfer des arischen Mythos. Die Organisation Consul geht später vollständig in der SS auf.

1997, am ersten Mai, werden die Häuser Tony Merins niedergebrannt. In den Ruinen entdeckt man antisemitische Schmierereien. Babenhausen ist wieder judenfrei, es ist judenrein.

Bevor die Ariertheorie soweit erstarkt war, stand sie mindestens ein Jahrhundert lang, bis zu jenem unsäglichen Tiefpunkt (der Shoa) in direkter Verbindung mit dem Fortschritt der Wissenschaften. Sie schien durch sprachwissenschaftliche Fakten erhärtet zu sein.

Dieser Kampf um die „Reinerhaltung des arischen Blutes“ begann unter dem Deckmantel der tastenden Wissenschaft der Aufklärung und führte schließlich über historische und soziale Vermittlungen aller Art zu einem Vernichtungskrieg gegen Menschen.

Die Herausbildung ethnischer Identität als Selbstbild arbeitet sich am Bild des Fremden ab, das zugleich als Gegenbild, Projektionsfläche und Bestätigung eigener Überlegenheit dient.
Der Rassist braucht das Zerrbild des „Negers“ oder des Juden, um sich seiner selbst sicher zu sein.
Die Mythen bleiben lebendig. Um zu verstehen, was passierte und was heute noch/wieder an antisemitischen und rassistischem Müll, an Vorstellungen von Volksgemeinschaft und von Blut und Boden in den Köpfen herumgeistert und das Handeln weiter Teile des „deutschen Volkes“ bestimmt, um zu verstehen, nach welchen atavistischen Denkmustern der wiedererstarkte deutsche Staat funktioniert, und um dem etwas entgegensetzen zu wollen und zu können, ist es notwendig, sich in ihnen auszukennen. Kay

Quellen:

  • Die Redebeiträge der Gruppe Café Morgenland zur Demo in Babenhausen am 18.05.1997
  • Leon Poliakov „Der Arische Mythos“

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last modified: 28.3.2007