Mit jedem Verfassungsschutzbericht wird er aufs neue
kolportiert. Eingebettet in die Totalitarismustheorie, die sich hierzulande
ungebrochener Beliebtheit erfreut, dient er nicht nur der wissenschaftlichen
Legitimation des Bundesinnenministeriums, sondern ist vielmehr zu einem
weiterreichenden ideologischen Instrument des nationalen Politikmainstreams
avanciert. Die kaum zu verschleiernde Stoßrichtung, die sich hinter dem
Begriff verbirgt, lautet Anti-Kommunismus und Anti-Antifaschismus. Wie
erfolgreich es mittlerweile gelingt, in diskreditierender Absicht links gleich
rechts zu setzen, zeigt sich aber nicht nur in den Statements der deutschen
Politik-Elite. Wenn aus alternativen Literaturkreisen gegenüber linken
Aktivisten der Vorwurf des Linksfaschismus laut wird, bedeutet
dies, daß auch hier die betreffende Lektion gefressen wurde.
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Der Begriff Totalitarismus stammt ursprünglich aus Italien. Es waren
Antifaschisten, die damit in den 20er Jahren Mussolinis Ansinnen, den totalen
Staat zu verwirklichen, bezeichneten. Vertreter der katholischen Volkspartei
nahmen den Begriff auf und wendeten ihn im Sinne ihrer eigenen politischen
Positionierung. Sie erklärten, daß der Faschismus ein
Rechtsbolschewismus und der Bolschewismus nichts anderes als
Linksfaschismus sei. Als vermeintlich gemeinsames Element wurde die
Ablehnung der parlamentarischen Demokratie analysiert. Schon hier zeigte sich
die ideologische Implementierung des Begriffs, die auch im Zuge der Wandlung
von einem politischen Kampfbegriff zu einer politologischen Theorie nie
verschwand. Zwar gab es auch ernstzunehmende Versuche, wie der von Hannah
Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zu
analysieren, doch der Boom der Totalitarismustheorie im Zuge des kalten Krieges
spricht eben nicht nur für die Suche nach Erklärungen von
Nationalsozialismus und Stalinismus nach dem Ende des II. Weltkrieges. Der
Vergleich der NS-Zeit und des Faschismus mit dem Realsozialismus offenbarte
unverkennbar seine politischen Beweggründe. Mit Hilfe der
Totalitarismustheorie gelang es die Verbrechen, die ein deutscher, aber eben
auch kapitalistischer Staat zu verantworten hatte, dem Sozialismus in die
Schuhe zu schieben. Im Zuge dieser Revision wurde der Nationalsozialismus zu
einer nur unwesentlich differenten Variante des Stalinismus, dieser aber zum
Wesen des Sozialismus.
Zu Beginn der 80er Jahre galt die Theorie selbst zwar als widerlegt, die auf
ihr ruhenden politischen Intentionen waren aber im Nachkriegsdeutschland
kontinuierlich präsent. Und auch die Theorie sollte hierzulande eine
Renaissance erleben. Im Nachzug der außerparlamentarischen Opposition
sprachen sich Politologen für die Etablierung einer sogenannten
Extremismusforschung aus, die auf der klassischen Totalitarismustheorie beruhte
und der rechts-konservative Historiker Ernst Nolte radikalisierte letztere mit
seiner Behauptung, daß der Archipel Gulag ursprünglicher als
Auschwitz war, mithin der Stalinismus nicht nur eher, sondern auch
aggressiver als der Nationalsozialismus war. Daraus folgernd wurde der
Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion als
verständlicher Präventivschlag gegen den Kommunismus interpretiert.
Der jüngste Anwendungsschub der Theorie und ihrer praktisch-politischen
Komponente setzte mit der Aufarbeitung der DDR-Geschichte und den
Verschleierungsversuchen der rassistischen Pogrome im wiedervereinten
Deutschland ein.
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Die von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebene
Wochenzeitung Das Parlament widmete dem neuerlichen Sieg der
Theorie und ihrer Anwendung vor drei Jahren eine Sonderausgabe. Die erste Seite
ist geziert von einem Kopf mit zwei ineinandergehenden Gesichtshälften.
Die Bildunterschrift lautet: Stalin und Hitler zwei Seiten einer
Medaille. Im Titelbeitrag verkündet dann ein Jürgen Braun den
Sieg der Totalitarismustheorie: Der mit dem welthistorischen
Zusammenbruch des Sozialismus verbundene Zerfall des SED-Regimes 1989/90 hat
die wissenschaftliche Kritik am Totalitarismus-Begriff verstummen lassen.
Paradoxerweise klagt er nicht viel weiter, daß der Begriff
Faschismus bereits wieder die Totalitarismuskonzeption
überlagert: Fremdenfeindliche Gewalttaten werden nicht als
antitotalitär bekämpft, sondern bieten den Anlaß, die
Klärung der Hinterlassenschaften des zweiten totalitären Staates in
Deutschland unter dem jahrzehntelang von der SED gepflegten
Schlagwort Antifa wegzuschieben. Auch Sachsens Justizminister Steffen
Heitmann weiß, wie auf der Grundlage des besagten theoretischen
Rüstzeugs heute Geschichte gemacht wird: Die DDR wird keinen Deut
besser, wenn Sie sie mit der nationalsozialistischen Diktatur vergleichen.
Menschenverachtende Regime waren beide. Soll man sagen, die DDR war nur deshalb
besser, weil sie Juden nicht in die Gaskammer geschickt hat. Nach diesem
Schema arbeiten so ziemlich alle wesentlichen Größen in diesem Land
DDR-Geschichte auf, vorallem aber die nationalsozialistische Vergangenheit ab.
Und quasi nebenbei gelingt es vermittels selben Theoriegerüstes
rassistische und neofaschistische Übergriffe zu bagatellisieren bei
gleichzeitiger Diskreditierung der Rudimente antifaschistischer Gegenwehr.
Eines der krudesten Beispiele für diese Strategie liegt schon eine Weile
zurück am Anfang der Pogromwelle -, verdeutlicht aber recht
anschaulich mit welcher Unverfrorenheit das Paradigma der Totalitarismus- und
Extremismus-Ansätze bemüht wurde. Bei einer Sondersitzung des
Bundestags-Innenausschusses, die am 31. August 92 wegen der rassistischen
Angriffe in Rostock-Lichtenhagen einberufen wurde, erklärte der damalige
Innenminister Seiters: Bei den Ausschreitungen in Rostock habe es auch
erste Anzeichen für ein gemeinsames Zusammenwirken von linksextremen
Autonomen und rechtsextremen Skinheads gegeben, die gemeinsam gegen die Polizei
vorgegangen seien. Und der damalige parlamentarische
Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen
Rüttgers, setzte wenig später nach: Kriminelle Horden, die
Asylbewerber angreifen, Polizisten mit Steinen bewerfen oder Gedenkstätten
der Judenvernichtung anzünden, greifen den Kern unseres Gemeinwesens an.
Hier rotten sich rechte und linke Extremisten zusammen. Einen Monat
später hieß es dann in der Antwort der Bundesregierung auf eine
kleine Anfrage der PDS: Nach heutigem Erkenntnisstand kann von einer
Zusammenarbeit von Autonomen und rechtsextremistischen/fremdenfeindlich
motivierten Straftätern nicht ausgegangen werden. Gemeinsame Aktionen und
damit ein Zusammenwirken sind nicht belegt. Die faktische Richtigstellung
blieb natürlich völlig unbeachtet und selbst bei mehr Aufmerksamkeit,
die ihr von wem auch immer zuteil geworden wäre, durch den
allgegenwärtig postulierten antitotalitären Grundkonsens
gelang es, auch noch die mörderischste rechte Schandtat irgendwie mit der
Linken in Verbindung zu bringen. (Ähnlich spektakulär war
übrigens auch die Erklärung der Brandanschläge gegen
Ausländer von Klaus Rainer Röhl, ehemaliger konkret-Herausgeber und
Renegat der radikalen Linken, der dafür in einem Beitrag der FAZ mit der
Überschrift Lebenslüge Antifaschismus die Stasi
verantwortlich machte: Warum sollte es keine MfS-Kader geben, die
Einflüsse auf psychisch labile, verwahrloste und ohnehin gewaltbereite
Jugendliche ausüben, wenn sie es für opportun halten?) Genauso
erfolgreich und ebenso von der Wahrheit entfernt, sollte auch im Folgenden das,
was bestenfalls noch als Rechtsextremismus bezeichnet wurde, auf den Nenner
Extremismus gekürzt werden. Und der gefährlichste Extremist ist in
Deutschland spätestens seit Bismarcks Sozialistengesetz der
Linksextremist. Natürlich war damals eine solche Bezeichnung
ungebräuchlich. Daß sie heute den Demokraten so leicht über die
Lippen geht, hat nicht zuletzt seinen Grund in dem unermüdlichen Forschen
sogenannter Extremismusexperten, denen es gelang, die klassische
Totalitarismustheorie den zeitlichen Erfordernissen anzupassen und für
alle, die sich ihrer bedienen wollen, schlicht, einfach und griffig zu
machen.
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Der exponierteste Vertreter dieser Richtung ist der an der TU Chemnitz/Zwickau
lehrende Professor der Politikwissenschaften, Eckhard Jesse. Zusammen mit
seinem Freund und Kollegen Uwe Backes (beide verband schon ein Stipendium der
CDU-nahen Konrad Adenauer-Stiftung) hat er das Definitionsrecht für
politischen Extremismus seit einigen Jahren an sich gerissen. Sehr zur Freude
der Bundeszentrale für politische Bildung, die das von beiden verbrochene
Standardwerk Politischer Extremismus in der BRD in alle Landesteile
kostenlos verschleudert, damit auch noch der letzte Dorfschullehrer kapiert,
daß der Nazi kein Nazi ist, der Punk und der bekennende PDS-Genosse aber
die Kalaschnikow zumindestens im Kopf haben. Die theoretische Erkenntnis der
beiden ist auch von ihnen selber schnell auf den Punkt gebracht: Der
Begriff des politischen Extremismus soll als Sammelbezeichnung für
unterschiedliche politische Gesinnungen und Bestrebungen fungieren, die sich in
der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen
Werte und Spielregeln einig wissen... Selbstverständlich füllen
sie mit dem im Wissenschaftsbetrieb verlangten Firlefanz, der eine konstatierte
These einbettet, ganze Bücher und nicht zuletzt Broschüren des
Bundesinnenministeriums. Was ihnen aber nicht gelingt, ist die Leugnung ihrer
politischen Selbsteinordnung, die angenehm offensichtlich die Intentionen ihres
Forscherdrangs erhellt. Noch 1993 vermerken die beiden Experten im oben
genannten Buch die aktive Rolle des Gründers der rechten Monatszeitschrift
Mut, Bernhard C. Wintzek, bei der Organisation der Aktion
Widerstand, welche die Revisionistenfront gegen die Ost-Politik Willy
Brandts anführte. Damals kam es zu den größten Aufmärschen
von alten und neuen Nazis seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Jesse und
Backes kommen nicht umhin auch von den gewalttätigen Aktionen der
Mitglieder besagter Gruppe zu berichten. Ein Jahr später schreibt
Jesse dann höchstpersönlich für Mut. In seinem
Artikel beschwert er sich, daß es keine anerkannte und
koalitionsfähige Partei rechts neben der CDU gäbe, die Grünen
aber als linke Partei neben der SPD akzeptiert werden. Die angebliche Toleranz
gegenüber dem linken Politikspektrum wird nach Jesses Meinung von einer zu
harten Repression gegen die Rechte konterkariert. Diese Halluzination findet
sich bei dem Extremismusforscher, der sich seine geliebte Bezeichnung schon
lange selber ans Revers heften kann, immer wieder. Neulich in der FAZ:
Die extreme Rechte sieht sich einem ganz anderen Verfolgungsdruck
ausgesetzt. Seit fast dreißig Jahren wurde keine linksextremistische
deutsche Organisation mehr verboten, hingegen eine Vielzahl von
rechtsaußen. Und deshalb sollte der Verfassungsschutz auch nicht
mehr die Junge Freiheit, die Wochenzeitschrift der Neuen
Rechten, sondern die Berliner Tageszeitung junge Welt, ein
ohnehin klar linksextremistisches Organ, in die alljährlichen
Berichte aufnehmen. Auch die PDS müsse endlich in allen Berichten des
Verfassungsschutzes erwähnt werden, denn die Anzahl ihrer
Wählerstimmen im Osten sieht er als Beleg für die akute Bedrohung der
wehr- und werthaften Demokratie an. Die Auswertung des
Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern wäre dagegen
unverhältnismäßig, suggeriere diese doch ständig ein hohes
Niveau des rechtsextremen Potentials, obwohl die entsprechenden Parteien nur
geringe Wahlerfolge zu verzeichnen hätten. Es zeigt sich, daß die
Chronik rassistischer und neofaschistischer Übergriffe für ihn keine
Rolle spielt. Mit dem Selbstbewußtsein eines Professors, dessen rechte
Gesinnung in diesem Land niemand so richtig anstößig findet, kann er
es sich leisten, an den Fakten vorbei zu polemisieren. Jesses Kritik an seiner
staatlichen Lieblingsbehörde bleibt aber konstruktiv, auch wenn sie
derzeit die angeblich wesentlich größere Gefahr durch die Linke
nicht so wahrnehme, wie er es gerne hätte. Mit dem selben Hintergrund
hatte er schon kurz vor der Bundestagswahl 1994 mit anderen Vertretern der
rechts-konservativen Intelligenzia im Berliner Appell vor dem
Zerbrechen des nach 1989 kurzzeitig wiedergewonnenen antitotalitären
Grundkonsens gewarnt: Vier Jahre nach der Wiedervereinigung erlebt
der Sozialismus in Deutschland eine Wiederkehr. So ist denn Jesse in
erster Linie ein gesinnungstüchtiger Ideologe. Einer, der die Kritiker von
Ernst Nolte als Hysteriker beschimpft, der schon 1993 in dem Ullstein-Band
gegen die Westbindung der BRD die nationalmasochistischen
Strömungen in Deutschland geißelte, einer der ganz tief in die
rechten Gesprächskreise und Denkzirkel eingebunden ist, und der es
versteht, daß von ihm entworfene theoretische Konzept
Extremismus, der rechten Intelligenz anzudienen, um es gemeinsam
gegen die vermeintliche Linke anwenden zu können.
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Die Totalitarismustheorie hat durch den Extremismus-Ansatz eine
Fortführung erfahren, deren ideologischer Gehalt offen zu Tage tritt. Mit
ihrer Anwendung ließ sich schon in der Vergangenheit nicht das Wesen von
Faschismus und Nationalsozialismus beschreiben und heute muß sie bei der
Erklärung des Rassismus und Neofaschismus versagen. Trotzdem wird der aus
der Totalitarismustheorie hervorgangene Begriff Rechtsextremismus
auch in antifaschistischen Kreisen häufig verwendet (vgl. Handbuch
deutscher Rechtsextremismus), was den Blick auf die Tatsache verstellt,
daß der Rassismus und andere Elemente des Neofaschismus nicht vom Rand,
sondern aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Die Theorie an sich ist
natürlich bei der intellektuellen Rechten gut aufgehoben, sei es bei
anerkannten Politikwissenschaftlern oder bei Renegaten ehemals
linksradikale Aktivisten, die ins rechte Spektrum wechselten - welche in den
Medien aufgrund ihrer Vergangenheit als glaubwürdige Zeitzeugen des
Linkstotalitarismus gelten. Von hier aus führt sie ihren
Siegeszug weiter, findet ungebrochenen Beifall von den Grünen bis zu den
Sozialdemokraten, von Christen und verkappten Faschisten. Das fortwährende
Gerede von wehrhafter Demokratie und dem antitotalitären
Konsens verschleiert kaum die anti-antifaschistische Interpretation der
Geschichte und der Gegenwart. Wem der Vorwurf des Linksfaschisten
o.ä. leicht von den Lippen geht, der ist dem Mainstream näher als er
vielleicht glaubt und verbaut sich vorallem eins nicht eine Karriere in
diesem Land. ulle
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