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Die Versöhnung mit den Nazis

Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke listete im März dieses Jahres, im Rahmen einer kleinen Anfrage an den Bundestag, 24 Morde mit rechtsextremistischem Hintergrund im Zeitraum 1994/95 auf. Die Bundesregierung dementierte und bestritt in den meisten Fällen politische Motive. Stützen kann sie sich dabei auf die Analysen von Sozialwissenschaftlern, die Erklärungsversuche von Medienvertretern und Juristen, denen es mit kruden Theorien gelingt, auch noch den eindeutigsten Nazi zu einem erbarmungswürdigen „Opfer der Verhältnisse“ zu machen. Die Konsequenz der verwendeten Entlastungsstrategien zeigt sich am deutlichsten im offen ausgesprochenen Wunsch, sich nicht zu weit von den nazistischen Überzeugungstätern zu entfernen.

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Solingen, Mai 1993

Rückblick

Schon während der ersten Pogromwelle im wiedervereinten Deutschland, als militante Nazibanden die xenophobe Grundstimmung der Bevölkerungsmehrheit um eine aktivistische und oft tödliche Komponente - den rassistisch motivierten Überfall - ergänzten, versuchten sich die Medien, aber gleichermaßen auch Politiker, Soziologen und Juristen erfolgreich daran, bei der Ursachenforschung zu den Gründen der „ausufernden Gewalt“ vom Wesentlichen abzulenken. Nur in den seltensten Fällen wurde nach den rassistischen und faschistischen Einstellungen der Täter gefragt und schon gar nicht nach deren Kontinuitäten und eliminatorischen Spezifika im Land des Nationalsozialismus. Vielmehr bemühte sich ein interdisziplinärer Zusammenschluß von Entschuldungstheoretikern bei der Heranziehung unpolitischer und ahistorischer Erklärungsmuster. Das dabei gezeigte Engagement, entsprang es auch noch so tief empfundener moralischer Betroffenheit, offenbarte schnell den gesellschafts-funktionalistischen Charakter, sah man es denn im Zusammenhang mit der konservativen Wende in der BRD als ein weiteres Element zu den nationalen Identitätsdiskursen, zum biederen Wohlstandschauvinismus und zu den wiedererwachten Großmachtambitionen. Der Welt und vor allem sich selbst galt es zu beweisen, daß man trotz der in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen sichtbar werdenden Barbarei, Mitglied einer nach ‘45 gründlich zivilisierten - und nach ‘89 endlich auch geeinten - Nation sei.
So bedurfte es der Anstrengung aus den rassisitischen Klatschern am Rande der Aggressionsorgien, also aus den Prototypen der deutschen Normalbürger, die zu recht empörten Protestler zu machen, denen es angesichts der sich abzeichnenden sozialen Restriktionen in einem der reichsten Länder der Welt nicht zuzumuten ist, daß sich ihre „Frustrationen“ am Anblick wirklich ökonomisch und politisch marginalisierter Menschen weiter aufbauschen. „Die haben hingemacht, wo sie gingen und standen“, berichtete empört eine Anwohnerin des Flüchtlingsheims in Rostock und Monate vor dem Ausbruch der rassistischen Gewalt häuften sich im Senat der Hansestadt die Beschwerden über Bettelei, Dreck, Diebstahl und Krach. Auch „Intellektuellen-Magazine“ wie der Spiegel nahmen die Klischees begiehrig auf und reproduzierten sie bildreich wieder: „Roma lagerten lärmend vor dem Tor, plünderten Obstbäume in Vorgärten und hinterließen ihren Unrat.“
Der Unterschied zur Nationalzeitung bestand meistens nur in der Wortwahl und der Radikalität der politischen Intention, die hinter der Berichterstattung stand. Die deutsche Perspektive, das „Asylantenproblem“, war gemeinsamer Ausgangspunkt aller weiteren Interpretationen.
Das größere Kunststück bestand aber darin, die mit Molotowcocktails und Eisenstangen agierenden Nazis vom Vorwurf des Nazismus freizusprechen. Der Einfallsreichtum dabei kannte keine Grenzen. So wurde in den Medien der faschistische Mob zu einer halbwegs akzeptierten, politischen Avantgarde, jedenfalls so lange es keine Toten gab, die auf ihre Weise „Probleme“ löste, „die von den Politikern zu Tode geredet wurden“. Ergänzt um die Jammerei von den Zuständen im Osten, der Tristesse, „der schmerzlich empfundenen sozialen Verunsicherung“ und der deshalb verständlichen „Wut der Einheitsopfer“, redete man den Nazis das Wort und machte sich mit ihnen mehr gemein als mit deren Opfern. Die Sozialwissenschaftler, besonders der in diesem Kontext mit Vorliebe bemühten Heitmeyer-Schule, gingen entsprechend ihrer formalen Qualifikation etwas weitschweifiger an das Thema heran und erzeugten die subtileren Entlastungsstrategien. Die rechtsextremen Orientierungen ließen sich ihrer Meinung nach auf ökonomische Ängste, psychosoziale Probleme im Zuge der Auflösung gewachsener Milieus und des familiären Halts und auf das Gefühl einer globalen Bedrohung durch ökologische Katastrophen zurückführen. Das Ergebnis war in der Essenz das gleiche: Die Täter sind die eigentlichen Opfer. Das praktisch verwirklichte Ressentiment gegenüber Minderheiten entspringt verständniserregenden Motiven. Solidarisierungen sind somit möglich. Die Justiz griff die hinreichend entpolitisierten und enthistorisierten Entlastungsansätze auf, verstärkte je nach Straftatbestand in den Urteilsbegründungen für die in der Regel milden Strafen die individuell-pathologische Komponente und schickte die Täter in die Hände der akzeptierenden Jugendsozialarbeiter. Diese bauten dann mit ihnen zusammen ein weiteres regionales Nazi-Jugendzentrum aus, fuhren gemeinsam in den Abenteuerurlaub oder gar - im Höchstfall politischer Pietätlosigkeit - nach Israel.

Ausblick

Nachdem es mit Hilfe der Asylgesetzgebung gelang, die ärgsten Ausläufer der rassistischen Pogromwelle wieder in ordnungsstaatliche Bahnen zu lenken, schwand auch der Bedarf an den öffentlich vorgetragenen Entlastungsstrategien. Der in Deutschland grassierende Rassismus war jetzt ein Stück mehr institutionalisiert und gesetzlich abgesichert. Die meisten Flüchtlinge sterben jetzt nicht mehr in brenenden Massenunterkünften, sondern bereits an den hochgerüsteten Grenzen der BRD. Der
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München, März 1996
Erklärungsbedarf dafür hält sich - ein nur für eine Minderheit augenscheinliches Zeichen für die Zustände in diesem Land - in Grenzen. Das Schema aber, wie sich Medien, Wissenschaft und Staat bei der Entpolitisierung faschistischer und rassistischer Gewalt gegenseitig geschickt soufflieren, ist jederzeit abrufbar. Sollte sich die Prognose bestätigen, daß die gegenwärtige „Arbeit zuerst für Deutsche“-Kampagne, an der nicht nur Neonazis, sondern auch ein Großteil der Gewerkschaftler, Journalisten und Politiker in trauter Gemeinschaftlichkeit beteiligt sind, das erneute Ansteigen rassistischer Attacken über das „normale“ Niveau im Gepäck führt, wird das bewährte Muster auch wieder breitere Beanspruchung finden. Nichtsdestotrotz bemüht man es ab und zu, denn nicht jede der derzeitigen gewaltsamen Naziaktivitäten läßt sich durch die gängige Klassifizierungs- und Ermittlungspraxis der Polizei, für die Angriffe rechter Schläger, Ausdruck „rivalisierender Jugendbanden“ sind und Brandanschläge ihre Ursache in defekten Kochplatten oder „fremdländisch“ ausgetragenen Familienzwistigkeiten haben, von vornherein vertuschen.

Einblick

Im März ‘97 berichtet der Spiegel über den Prozeß gegen den Neonazi Thomas Lemke. Der Angeklagte wird wegen Mordes in drei Fällen, Vergewaltigung und versuchter Vergewaltigung zu lebenslanger Freiheitsstrafe bei anschließender Sicherheitsverwahrung in einem psychatrischen Krankenhaus verurteilt. Die für die Gerichtsreportage verantwortliche Redakteurin, Gisela Friedrichsen, bekannt bereits durch ihre Porträts von jugendlichen Faschos, die in Hoyerswerda und Rostock agierten, begründet auch in diesem Falle mit viel und regelrecht mitfühlender Phantasie, warum der Mörder Lemke - obwohl als Mitglied der rechten Szene einschlägig überführt - eigentlich kein Nazi, sondern ein Opfer familierer Mißstände, mithin ein Mensch mit schweren seelischen Defekten ist. Lemke macht es ihr nicht einfach, verkündet er auch noch während der Bekanntgabe der Strafe lauthals: „Damit haben die Juden ihren Willen bekommen.“ Teile des anwesenden Publikums, seine Kameraden aus dem Essener Raum quittieren’s prompt mit Beifall. Trotzdem, Lemke bleibt der pathologische Einzeltäter. Mit Begeisterung für die geistige Verwandschaft mit dem Vorsitzenden Richter zitiert Friedrichsen aus dessen Urteilsbegründung als Bestätigung ihrer eigenen These: „Die Kammer muß mit großem Bedauern konstatieren, daß sie die höchstmögliche Strafe gegen Herrn Lemke verhängt hat. Sein Verhalten in der Hauptverhandlung war dafür nicht ursächlich. Es war geprägt von Haß auf sein letztes Opfer, Haß, der sich in fast archaischer Weise auf dessen Familie ausdehnte... Er ist ein in der Seele schwer gestörter Mensch. Das macht es uns erträglicher. Auch wenn er Schreckliches getan hat - er gehört zu uns allen...“ Und hier schwingt schon fast alles mit, was eine gute Entlastungstheorie braucht. Ja noch mehr, man grämt sich gar, in an Auffälligkeit kaum zu überbietender Weise, einen bekennenden Nazi hinter Gitter bringen zu müssen, wäre er doch bei etwas unauffälligerer Verwirklichung seiner Herrenmenschenideologie und darauf beruhten letztendlich alle seine Taten, für diese Gesellschaft noch zu retten gewesen. Von ähnlichem Mitgefühl bei der Verurteilung von Mitgliedern der RAF - auch wenn der Vergleich in mancherlei Hinsicht hinkt, so wurde hier jedenfalls knallhart politisch geurteilt - ist nichts bekannt. Aber Lemke war ja nur krank, angesteckt von quasi-natürlichem Haß. Als gelte es zu beweisen, daß sich Sadismus und rechte Ideologie ausschließen, werden die praktischen Details der von Lemke verübten Morde und seine diesbezüglichen Selbstdarstellungen ausgewalzt, um dann aus der sich aufzeigenden Differenz den Schluß zu ziehen, es handle sich bei dem Täter um einen nicht zurechnungsfähigen, also auch in gewissem Sinne unschuldigen Menschen: „Wenn Lemke über seine Taten spricht, so scheint es, als genieße er es, besonders böse und gemein zu wirken und Reaktionen des Entsetzens auszulösen. So erging er sich in der Befragung durch die psychologische Sachverständige... in der Schilderung, wie aus dem Bauch seines letzten Opfers die Därme hervorquollen. Doch tatsächlich hatte er Martin Kemming in die Brust geschossen.“
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Thomas Lemke
Die ständigen Selbstbezichtigungen Lemkes - er selber streitet nie ab, Protagonist der nationalsozialistischen Ideologie zu sein - wertet die Journalistin um so mehr als eine Strategie des Angeklagten, seine schwere Krankheit zu verbergen. Diese resultiere aus der schmerzhaften Erfahrung der Vaterlosigkeit. Und so sei seine Zuwendung zu alten und neuen Nazis - Lemke verbindet ein enges Verhältnis zu A.N. Luisetti, einem ehemaligen Waffen-SS’ler und jetzigen Schatzmeister der NPD in Bottrop, und er war Mitglied der mittlerweile verbotenen Wiking-Jugend - nur die Wiederspiegelung seines Wunsches nach einer Vaterbeziehung. Da diese Kontakte auf nichts anderes als einen faschistischen Überzeugungstäter hindeuten, wird der Altnazi Luisetti auch gleich zu einem „Opfer... einer rechtsgerichteten Bewegung..., der er sich ebenfalls im Alter von 14 schon angeschlossen hatte.“ Auch Luisetti, der über ein halbes Jahrhundert die Ziele des Nationalsozialismus propagierte, wird bei Friedrichsen zum bemitleidenswerten Menschen, der seine persönlichen „Defizite“ hinter einer faschistischen Ideologie versteckt. Bei soviel Interpretationsvermögen spielt es dann wahrlich keine Rolle mehr, daß das zweite Opfer Lemkes aufgrund eines „Gegen Nazis“-Aufnähers umgebracht wurde und der Mörder dies mit den Worten kommentierte: „Linke haben kein Recht zu leben.“ Die politische Dimension der Taten Lemkes wird konsequent ausgeblendet, denn diese wäre nur „der Vordergrund, die Tarnung, die Maske, hinter der sich eine gescheiterte Kindheit und Jugend verberge.“ Das letzte Opfer des Nazi-Killers, Martin Kemming, war einer seiner Kameraden. Spätestens damit müßte doch klar werden, daß Lemke nicht aus politischen Motiven gehandelt haben kann. Die Fakten sprechen aber auch hier für das genaue Gegenteil. Denn Lemke saß wegen einer Aussage Kemmings zwei Jahre im Knast. „Das war Verrat. Und das ist das Niederträchtigste, was man tun kann“, schrie der Angeklagte der Mutter Kemmings während der Verhandlung ins Gesicht. Ein Tor, wer hier die Kontinuität des faschistischen Ehrenkodex wiederentdeckt und sich an von der SS aufgenknüpfte Wehrmachtssoldaten und Zivilisten erinnert, denen man noch ein Schild mit der Aufschrift „Verräter“ um den Hals gebunden hatte. Das Fazit der Berichterstattung von Frierichsen u.a. ist, daß so lange Entlastungsstrategien aneinandergereiht werden, bis kein Täter mehr übrig bleibt, sondern nur noch ein Patient. Im selben Duktus sekundierte der Vorsitzende Richter: „Es kann aber sein, daß er (Lemke) sich eines Tages zu einem Menschen entwickelt, der therapierbar ist.“ Nun, bei etwas intensiveren Engagement solcher Führsprecher braucht Lemke nicht mehr viel dazutun, er sollte so bleiben wie er ist, und müßte trotzdem nicht mehr lange auf seine Rehabilitation warten. ulle

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last modified: 28.3.2007