home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[31][<<][>>]

vorwort, 23.2k

Boulevard Bio

Mit der Eröffnung des neuen Messegeländes im Norden der Stadt wurde ein weiterer Meilenstein auf Leipzigs Weg zu einer Dienstleistungs- und Handelsmetropole gesetzt. Die Infrastruktur im Norden der Stadt wird in den nächsten Jahren komplett neu gebaut sein. Nachdem die Flughafenerweiterung bald abgeschlossen sein wird, die Autobahnen fertiggestellt sind, die modernste Telekommunikation installiert ist, fehlt nur das I-Tüpfelchen in Form einer begehrenswerten City, um der Mehrheitsgesellschaft, ob zugereist oder aus alten DDR-Oligarchien fossiliert, Raum für ihre Freizeit zu schaffen. Ob diese konsumtiv genutzt wird, sei dahin- aber nicht in Frage gestellt. Die City, von der noch eine breite Milieufront – linksalternativ bis national-konservativ, also Markt 9-Besucher bis Denkmalschützer – schwärmen darf, wird dann ihre Funktion als durchkapitalisierte Zone erfüllen, wo die Maßstäbe für die Aufenthaltsgenehmigung in dieser nach dem Vermögen der jeweiligen Person bestimmt wird. Das Projekt City, begleitet von einer massiven „Pro Innenstadt“-Kampagne seitens der Stadtregierung, wird sich dann von einigen Gruppen, die die Innenstadt derzeit noch nutzen dürfen, verabschieden. Ihr Aufenthalt rechnet sich dann nicht mehr, nicht für die Kaufhaus- und Freßbudenbetreiber, aber auch nicht für die Stadt, weil diese Gruppen imageschädigend und damit investorenfeindlich sind.
Bestrebungen der Stadtregierung, der City ein „freundliches“ Gesicht zu verpassen, gibt es schon seit einigen Jahren. Die Leipziger Polizei leistet ihren Beitrag mit der seit 1995 existierenden „Einsatzgruppe Innenstadt“. Diese wird in der Öffentlichkeit, vor allem in den gleichgeschalteten Medien, als Einsatzgruppe gegen Drogen- und Ausländerkriminalität dargestellt. Für ihre Razzien erhält diese Beifall von allen Seiten. Frauen der alternativen Szene fühlten sich in Innenstadtdiskotheken von Ausländern belästigt, was zu Eintrittsverboten für Nichtdeutsche führte, die Drogenszene wurde mehrmals berazzt, was u.a. zum Zugangsverbot für Nichtdeutsche in die Uni-Cafeteria führte und ein von DDR-Bürgerrechtlern als stalinstisch verfemtes Mittel, die Videoüberwachung, wurde an vielen Punkten der Innenstadt wieder eingeführt.
eiskeller, frueher, 11.6k
Ort zukünftiger Segregation?
Proteste gegen diese erste Welle der Segregation blieben aus.
Aber die genannten repressiven Maßnahmen blieben nicht die einzigen. Die Stadtregierung, die noch politischer Verwalter der City sein darf, reguliert auch andere Ströme. Einspruchslos wurde die Leistungsabteilung des Arbeitsamtes an die Peripherie der Stadt verlegt. Die Arbeitsamtsabteilungen, die in der Innenstadt verblieben sind, befassen sich nur noch mit den potentiellen Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft. Arbeitslosenhilfeempfänger dagegen wird der Zugang in die City verwehrt, sie müssen mehrstündige Fahrtzeiten in Kauf nehmen, um ihre Almosen zu empfangen.
Jetzt trifft es auch die Studenten, eine bis vor kurzem in der City stark umworbene, weil zumindestens leistungsbereite und damit durchschnittlich verdienende Gruppe. Der Umzug aus dem Uni-Hochhaus steht bevor, soziale Einrichtungen wie das Studentenwerk sind davon betroffen. Eine deutsche Bank hat sich im Austausch mit dezentral gelegenen Objekten dem Uni-Hochhaus angenommen und wird dieses im Zuge der Augustusplatzgestaltung auf kapitalintensivere Aufgaben vorbereiten.
Da das Einkommen der Studenten stagniert, rechnet sich die Kapitalverwertung dieser Gruppe in der Innenstadt nicht mehr. Während die Sprengung der Universitätskirche für die Universität Platz schaffte und trotzdem als Beispiel für Unterdrückung im Sozialismus noch Jahrzehnte herhalten wird, ist der allmähliche Rückzug der Universität aus der City und der damit verbundenen Erschwerung des studentischen Alltags kaum Gegenstand von Protesten.

Bios Bahnhof

Ein weiterer öffentlicher Raum in Leipzig, der umgewandelt wird und im Prinzip das Pilotprojekt einer durchkapitalisierten Zone darstellt, ist der Hauptbahnhof am Nordost-Rand der City.
Die Umbaumaßnahmen werden mit dem Ziel getätigt, den Kapitalfluß in dieser Zone beträchtich zu steigern. Der Bahnhof als sozialer Ort wird generell in Frage gestellt.
Ankommende Hilfesuchende werden nicht mehr durch diesen geschleust, soziale Einrichtungen wie die Bahnhofsmission, Wartehallen u.a. werden aufgrund der Zugangserschwernis überflüssig. Als erster Schritt zur Einschränkung der sozialen Funktion wurde der Zugang zum Bahnhof in den Nachtstunden eingeschränkt, indem man einfach die Haupteingänge schloß. Proteste linker Gruppen blieben aus, umso mehr huldigten linke Politiker im Zusammenwirken mit rechtskonservativen der deutschen Ingenieurskunst. Mit mehreren Demonstrationen nahm man sich dem Denkmalsschutz an, wollte man doch den Einbau von Parkdecks in den Bahnhof verhindern. Umwelt-, Denkmalschützer, PDS und DSU bildeten eine völkische Protestfront, die sich vor das Erbe deutscher Baukultur schützend stellte. Das aber ein viel größerer Teil des Bahnhofes, der allgemein öffentliche, zu einem Shopping-Center umgebaut werden sollte, berührte die deutschen Nörgeler nicht.
Die Proteste zeitigten Erfolg, das Parkdeck umfaßt eine Etage weniger – Gratulationen an die PDS müssen aber ausbleiben.
Noch ist der Umbau des Bahnhofs nicht abgeschlossen, man kann hier in Ruhe Zeitschriften wie Drogen kaufen. Für Nichtdeutsche, die aus Innenstadtdiskotheken ausgewiesen werden, ist der Bahnhof und sein Vorplatz ein Ort, wo man ungestört Beziehungen aufbauen kann. Obdachlose und andere Hilfesuchende werden noch von einer im Baudschungel versteckten Bahnhofsmission betreut. Wenn die Umbaumaßnahmen abgeschlossen sind, das Shopping-Center steht, bleibt abzuwarten, wie die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft auf noch anwesende Marginalisierte reagieren. Mit der schon jetzt vorhandenen Kontrolle und der damit verbundenen Verfügung auf diese Personen, kann man den eventuellen Beschluß, diese aus dem Bahnhofsumfeld zu entfernen und den Aufenthalt dort zu verbieten, durchsetzen. Was Neonazis in den Wendejahren in Leipzig – aber dafür in Magdeburg – nicht geschafft haben, kann innerhalb eines Tages Wirklichkeit werden. Der Hauptbahnhof wird ein Ort nur für Deutsche, die in der Mehrheitsgesellschaft aufgegangen sind, Ausländer werden nur aufgrund ihrer Konsuminteressen toleriert. Proteste von linken Gruppen und Parteien gegen diesen Sozialabbau werden abermals ausbleiben. Michael v. K.

home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[31][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007