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Im Sommer verschwand im Leipziger Viertel Reudnitz ein achtjähriges Mädchen und wurde kurz darauf tot aufgefunden. Die Stadt war auf den Beinen und demonstrierte für die „Todesstrafe“ oder, scheinbar harmloser, für „harte Strafen“. Wie solch eine Dynamik zu erklären ist, was hinter dem konsensuellen Ruf nach Todesstrafe für „Kinderschänder“ steht und warum keine vernünftigen Stimmen zu hören sind, wenn Kinder Opfer von Gewalttaten werden, erläutern Andreas Reschke und Mandy S. Dzondi.
dokumentation, 1.1k

L – Eine Stadt
sucht einen Mörder


In der Zeit nach dem Verschwinden und verstärkt nach dem Auffinden der Leiche von Michelle in einem See war Leipzig in einer Art Ausnahmezustand. Überall Polizei, die mit Blaulicht umher jagte. In Reudnitz wurde jeder kritisch angesehen, der sein Kind auf dem Schoß sitzen hatte. Selbst Väter, die ihrem Kind die Hand hielten, machten sich verdächtigt.(1) Kinder wurden und werden noch zum Teil zuhause eingesperrt, aus Angst, der Täter könne wieder zuschlagen. Die regionale Presse berichtete besessen über alle bekannt werdenden Details. Wie etwa die Leipziger Volkszeitung (LVZ), die in einer Slideshow dokumentierte, welche Gärten und welche Kleidercontainer die Polizei am Montag, Dienstag, Mittwoch usw. durchsuchte.
Der Volksmob konnte endlich wieder mit Gebrüll und Transparent auf die Straße gehen, aber diesmal nicht für visafreie Reisen bis nach Shanghai, den Olympiastandort Leipzig oder gegen Hartz IV, sondern gegen „Kinderschänder“. Schon einige Stunden nach dem Leichenfund gab es die erste Demonstration von Nazis und anderen ganz gewöhnlichen Reudnitzern. Auf „YouTube“ kann man sich schlechte Amateurvideos vom Reudnitzer „Unmut“ anschauen und anhören, wie die Demo „Keine Gnade für Kinderschänder“ fordert und am liebsten selbst abdrücken will („Kinderschänder an die Wand“). Mütter ließen ihre Kinder „Todesstrafe für Kinderschänder“ rufen und brüllten selbst mit. Jugendliche Schläger, denen man den Stumpfsinn ansehen konnte, freuten sich im Vorfeld der Demonstration darauf, dass sie „unsere Kinder retten“ dürfen. Völlig aufgeputscht, dass endlich mal was los ist, verbreitete sich die Information, dass die „Antifa die Demo sprengen will“ wie ein Lauffeuer unter den Banden. Doch die hatte Anderes zu tun. In einer Art Konkurrenzveranstaltung zu den – bei diesem Thema glaubwürdigeren – Nazis riefen die Linken einen Abend später zu einer Gedenkkundgebung auf: Am Connewitzer Kreuz sollte dem Mädchen gedacht werden, „ohne eine Politisierung zu betreiben“(2). Durch den ostentativ vorgetragenen Betroffenheitsjargon der Linken(3) wirkt deren Abgrenzung von den Reudnitzer Nazis wie reines Bekennertum. Tatsächlich dürfte es kaum mehr sein.
Die Linken trafen sich also zum kollektiven Trauern mit Hinz und Kunz, politische Forderungen wurden von vornherein ausgeschlossen. Vielleicht versuchte man dem Vorwurf zu entgehen, der den Nazis zunächst auf „Indymedia“, später in den regionalen und überregionalen Medien gemacht wurde: politische Instrumentalisierung. Noch einmal demonstrierten Reudnitzer Eltern mit ihren Kindern – Nazis waren natürlich auch dabei – für die Todesstrafe, bis sie von der Polizei und der Zivilgesellschaft darauf hingewiesen wurden, dass die Rechten doch nicht so dufte sind. Letztere, angeführt von der Bürgerinitiative „Buntes Reudnitz“, traf sich selbst, um gegen die Instrumentalisierung des Gedenkens durch „Rechtsextreme“ einzustehen und forderte dann, kaum verklausuliert, das Gleiche. Die Todesstrafe verurteilt man, aber es gibt ihn doch, den „verständlichen Ruf nach einer harten Bestrafung der Täter“(4). Dass das Bedürfnis der Reudnitzer, sich durch die Teilnahme an dieser Veranstaltung von den Rechten zu distanzieren, eher gering war, ist dabei nur eine Randglosse.

Der Reudnitzer Trumpf

Die Forderung, dass die Todesstrafe für „Kinderschänder“ einzuführen sei, beinhaltet stets den Wunsch, diese selbst umzusetzen. Die Gewalt an „Volksschädlingen“ soll direkt vom Volk ausgeführt werden; die Vermittlung durch Rechtsstaatlichkeit wird dabei als störend empfunden. Solcherart direkte Demokratie mündet letztlich in den autoritären Ruf nach Führer und Volksstaat. Aussagen wie, dass „wir jemanden brauchen, der hier mal kräftig ausmistet“, sind vor allem in Stadtteilen mit hohem Anteil von Hartz-IV-Empfängern und Nazis zu hören, in Stadtteilen wie Reudnitz also.
Als bereits vor anderthalb Jahren ein Kind vergewaltigt und umgebracht wurde, fielen die Reaktionen vergleichsweise moderat aus. Die damalige Suche nach dem Mörder verfolgten viele Leipziger sehr intensiv und interessiert. Eine reaktionäre Bewegung für die Hinrichtung des Täters wie in diesem Sommer gab es allerdings nicht. Dass im Mordfall in diesem Sommer eine regelrechte Hysterie ausbrach, liegt nicht zuletzt an den Reudnitzer Verhältnissen, die beispielhaft für all jene Zonen stehen, wo Menschen hausen, die vom Arbeitsmarkt nichts zu erwarten haben. Es sind jene Viertel, in denen die Bundesagentur für Arbeit der Hauptgeldgeber ist und der Umzug in bessere Gegenden und ein besseres Leben unmöglich scheint.(5) Die meisten dieser Überflüssigen und Chancenlosen, die in der zentrumsnahen Peripherie des Kapitals wohnen, versuchen sich durch demonstrierte Zugehörigkeit zum Volk als unersetzlich unter Beweis zu stellen. Das ist der einzige Trumpf im Leben, den sie zu haben glauben; das Einzige was sie vermeintlich aufwertet. Diese Aufwertung ist allerdings nicht umsonst. Die permanente Verfolgung der anderen, die nicht dazugehören, ist ihr immanent. Dies muss nicht stets durch Gewalt geschehen; sie ist allerdings immer mit angelegt. Oft sind es die sogenannten bildungsfernen Schichten jenseits von Markt und Verwertung, die besonders direkt und unvermittelt agieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass dieser Hass endemisch ist. In anderen Teilen der Gesellschaft wird dieser Vernichtungswunsch lediglich chiffriert als harte Strafe artikuliert.
Würde es Nazis, die bei jeder Gelegenheit die „Todesstrafe für Kinderschänder“ herbeisehnen, und anderen Demonstranten wirklich um das Wohl der Kinder gehen, müssten sie sich für flächendeckende und umfangreiche Therapieangebote einsetzen – das Gegenteil ist der Fall. Das Land Brandenburg findet derzeit noch nicht mal einen Vermieter für eine Therapieeinrichtung für entlassene Sexualstraftäter. In Magdeburg gab es bei einer Ambulanzeröffnung heftige Proteste der Anwohner, in Halle demonstrierten lediglich Nazis gegen das Therapieangebot.
Zu den im Grunde meist eher diffusen und ungerichteten Vernichtungswünschen machen in Leipzig vor allem zwei Umstände die Besonderheit des Falls aus, aufgrund derer sich die Verfolger auf ein konkretes Feindbild fixieren können, das die geballte Wut auf sich vereinigt: 1. Wenn sexuell aufgeladene Themen eine Verfolgung begründen, erhält sie eine eigene Dynamik. 2. Das Opfer ist hier ein Kind. Wesentlich, um das Geschehene zu verstehen, ist eine Betrachtung der Wahrnehmung von Kindern in der Gesellschaft und deren Implikationen.

„Schwanz ab!“ und Kastrationswünsche

Die Rufe nach der „Todesstrafe für Kinderschänder“ griffen schon Adorno et al. in den „Studien zum autoritären Charakter“ auf. Betrogen um die Verwirklichung grundlegender Wünsche durch ein System von Selbstbeschränkung, gilt die eigentliche Kritik der Autorität, zu der der Autoritäre aber nicht in der Lage ist. Seine Aggression richtet sich gegen jene, die die Regeln verletzen. Da die Reudnitzer Mutti und ihr Nazisohn ihren eigenen Gefühlshaushalt als „anständig“ begreifen, externalisieren sie jene sexuellen wie aggressiven Impulse, die als Ich-fremd und unbewusst bestehen bleiben, und richten sie eben auf Fremde, Schwule, Pädophile und Sexualstraftäter: „Eigene, übermächtige Impulse, die man sich nicht einzugestehen wagt, werden zwar erahnt, aber mit aller Macht auf andere projiziert, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.“(6) Die Bekämpfung von angeblichen oder tatsächlichen Übertretern der Sexualmoral ist vor allem eine allgemeine Straflust, die sich an diversen, austauschbaren Gemeinschaftsschädlingen abarbeitet. Die Jagd nach dem Täter stößt auf Beifall bei den Massen und Autoritäten, auch wenn sie, wie im Mordfall des Mädchens Michelle, nur nach harten Strafen rufen. Den Aufruf der Bürgerinitiative Buntes Reudnitz unterschrieben ürigens alle Parteien von der Linken bis zur CDU und der Oberbürgermeister Leipzigs.
Bei sexuell aufgeladenen Themen ergibt sich eine Verschärfung der Verfolgung, da sich der Verfolger im zu Verfolgenden wiedererkennt. Dem „Kinderschänder“ neidet man, dass er – im Gegensatz zu einem selbst – angeblich seinen Trieben freien Lauf lässt. Um Mitgefühl mit den Kindern geht es meistens gar nicht. Das Vernichtungsbedürfnis schlummert nicht einmal unterhalb der Oberfläche, wie die Sprechchöre der Reudnitzer Demonstrationen und die Kommentare auf „Indymedia“ und im LVZ-Forum zeigen. Auf „Indymedia“ wurde diskutiert, ob ein Sexualstraftäter ein „Monster“ oder doch eher ein „Vieh“ sei – also auf keinen Fall ein Mensch. Folgerichtig hat er kein Recht zu leben – ein zentrales Anliegen des Mobs. Im LVZ-Forum forderte etwa „Gerd1054“: „Keine Samthandschuhe für den Mörder“, und „user125“ wünschte sich die Angehörigen als Richter: „Vielleicht sollte man das wieder den nächsten Angehörigen überlassen, denn die spüren ihr ganzes Leben lang den Schmerz und was man ihnen angetan hat.“ Mit diesem Kommentar lässt „user125“ allen Gewaltphantasien der Leser freien Lauf und schränkt sie nicht durch ein konkretes Strafurteil ein. Zugleich verlangt er eine unvermittelte Herrschaft, in der die Familienhorde die Macht innehat. Auf einem bekannten Antifa-Blog imaginierte sich dann „Kopfguerillero“ selbst als Betroffenen und schrieb das nieder, was allen Möchtegern-Vollstreckern in den Köpfen rumspukt: „Ich habe auch eine Tochter. Und ich würde den Typen umbringen, wenn er das mit meiner Kurzen machen würde und ich ihn in die Finger bekäme (nein, ich fordere keine Todesstrafe!).“(7)

Eifrige Fahnder

Menschen, die als zivile Fahnder das Netz nach Kinderpornos durchforsten und dabei eine Leidenschaft entwickeln, die sie in anderen Lebensbereichen nicht aufbringen können, tun dies in den seltensten Fällen, um Kinder tatsächlich vor Missbrauch zu schützen. Es ist vielmehr ein Hobby für sie; sie tun das, auch wenn nicht bewusst, gerne. Die stundenlange Suche nach Bildern und Videos, in denen Kindern sexuelle Gewalt angetan wird, hat ganz offenbar einen Reiz für sie. In Gesprächen, die man im Sommer auf den Reudnitzer Straßen aufschnappen konnte, malten sich die Stadtteilbewohner aus, wie das Kind sexuell missbraucht wurde. Die Beschäftigung mit sexuellen Misshandlungen hat etwas sehr Obsessives. Da aber diese Obsession und die eigenen sexuellen Impulse nicht ausgelebt werden dürfen, werden umso leidenschaftlicher diejenigen verfolgt, die es dennoch tun. Auch in dem Fall reicht ein Blick in die „Studien zum autoritären Charakter“: „der Autoritäre muss die moralische Lässigkeit, die er bei anderen sieht, nicht nur verurteilen; er wird getrieben, sie zu sehen, ob Anhaltspunkte gegeben sind oder nicht“(8). Da verwundern kaum noch die 1,47 Millionen Einträge bei Google zum Stichwort Kinderpornografie und auch nicht die zahlreichen Links zu Websites von privaten Usern, die sich selbst zum Beispiel als APK-Team, also als Antipornografie-Team, bezeichnen und haargenau erklären, was bei einem Fund zu tun sei(9).
Gerade Pädophilen, die mit „Kinderschändern“ in eins gesetzt werden, gilt ein besonders heftiger Hass. Unter „Pädophilie“ wird eine erotisch-sexuelle Neigung verstanden, die sich auf Kinder bezieht. Die große Mehrheit der Pädophilen lebt ihre Phantasie heimlich aus (mit Katalogen für Kinderkleidung o. ä.) und würde nie ein Kind anfassen. Sie haben oft einen großen Leidensdruck und leben häufig sozial isoliert. Sexueller Missbrauch von Kindern, der im Übrigen in seiner übergroßen Mehrheit im familiären Umfeld stattfindet, hat selten etwas mit Pädophilie zu tun. Unterdrückung, Unterwerfung und Macht spielen dabei oft viel mehr eine Rolle als die „Knabenliebe“.
Gemeinhin heißt es, wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Doch der Reudnitzer Lynchmob würde am liebsten das ganze Glashaus zerlegen:
Ein angeblicher Jugendamtsmitarbeiter berichtet auf „Indymedia“ von der Konstitution der Anwohner des Viertels: „Einige dieser Frauen sind besonders schwere Fälle. Ohne Hilfe wären viele ihrer Kinder schon verhungert. Gewalt als Erziehungsmaßnahme gehört in diesen Familien zur Tagesordnung. Immer wieder müssen Kolleginnen von mir Kinder für eine gewisse Zeit aus den Familien nehmen. Oft geht die Gewalt von den Vätern aus. Gerade bei den oben genannten Frauen sind die Kindesväter aus dem rechten Milieu. Sehr oft spielen Alkohol und Drogen eine Rolle bei den Gewaltausbrüchen. Wenn hier von Missbrauch gesprochen wird, dann bitte erst vor der eigenen Tür kehren“. Ob der Autor dieser Zeilen tatsächlich beim Jugendamt arbeitet, ist letztlich egal: Vorstellbar ist es allemal. Kenner des Viertels wissen um den Wahrheitsgehalt dieser Aussage. Es ist vor allem jenes beschriebene Milieu, das besonders unverdrossen und bedrohlich nach dem Mörder Michelles fahndet und diesem nach dem Leben trachtet. Von Michelle wird in der Presse geschrieben, dass sie nicht mit Fremden mitgehen würde. Die Polizei vermutete den Täter im Reudnitzer Milieu. Es sind Leute aus diesem Umfeld, die besonders laut nach dem Tod des vermeintlichen oder tatsächlichen Täters(10) schreien.

Kinder als Projektionsfläche für grenzenlosen Genuss

Während es bei Übertretungen der sexuellen Norm ohnehin große Verfolgungsgelüste gibt, wird der Wahn ungleich größer, wenn Kinder die Opfer sind. Selbst Mitglieder von Antifa-Gruppen, die bei anderen Themen etwas schlauer wirken, als sie offenbar sind, faseln und schreiben so wie die Nazis. Auf „Indymedia“ fiel es sogar den Administratoren schwer zu entscheiden, welche Kommentare unter den Artikeln als „Nazi-Postings“ gelöscht werden sollten und welche aus linker Feder stammen. Wenn Kinder die Opfer von Gewalt sind, setzt jede Vernunft aus. Diese besondere Empfindlichkeit kann allerdings nicht mit der Verletzlichkeit der Kinder selber erklärt werden. Relevant ist vor allem, wie sie von der Gesellschaft wahrgenommen werden. Dabei stellt sich schnell heraus, dass es nicht Fürsorge, Liebe und Schutz für die Kinder sind, die die Menschen umtreiben, sondern häufig der Neid. Kindern werden Attribute zugeschrieben, die man zwar selbst eigentlich gerne hätte, sich aber nicht zu wünschen traut. Sie müssen nichts leisten, nicht arbeiten und können den ganzen Tag das machen, was ihnen gefällt. Sie müssen nichts für ihr Essen tun, ihnen verzeiht man jeglichen Unfug und den Toilettengang müssen zumindest die Kleineren unter ihnen auch nicht in der gewünschten Sterilität vollziehen. Sie dürfen schreien und weinen, wenn sie etwas nicht bekommen, und niemand darf dann sauer auf sie sein. Die Kinder müssen weder für ihr Handeln noch für sich selbst Verantwortung übernehmen. Sie müssen sich also um nichts kümmern, bekommen und dürfen aber alles, was sie wollen und werden obendrein bedingungslos geliebt. Die Situation der meisten Kinder sieht selbstverständlich nicht ganz so rosig aus, wie sie die Erwachsenen gerne sehen. Ihr Kinderbild ist vielmehr eine Projektion eigener Bedürfnisse. Die Eltern möchten nämlich genau das Leben, dass sie ihrem Nachwuchs zuschreiben. Harte Arbeit, Konsequenzen für das eigene Handeln und das Wissen um die eigene Unnützlichkeit behagen selbstverständlich niemandem. Einsicht in das falsche Ganze, also das Wissen um eine Gesellschaft, die sich nur um das Kapital, nicht aber um den Einzelnen dreht, ist leider meistens nicht die Reaktion auf diese unangenehme und feindlich gesinnte Außenwelt. Überwiegend wird auf kindliche Allmachtsphantasien regrediert. Man würde gerne ein Leben ohne Verantwortung und Druck führen. Da dies allerdings nicht geht, bleibt eine Menge Frust über, der eben nicht gegen die schlechten Verhältnisse gerichtet ist, sondern sich autoritär gegen die wendet, denen es vermeintlich besser geht. Unter anderem trifft dies eben die Kinder, die angeblich all das machen und dürfen, was man selbst nicht kann. Dieser Neid bestimmt häufig die Beziehung zu den Kindern. Gerade mit dem Herumlaufen eines „Kinderschänders“ hat man nun etwas gefunden, dass man dem Nachwuchs ständig unter die Nase reiben kann. Ihm wird eingeimpft, dass er auf alles und jeden misstrauisch reagieren soll. In der Schule wird den Kindern erklärt, was man schreien und wohin man treten soll, wenn man von einem Fremden nach dem Weg gefragt wird. Die Kleinen versetzt man in einen permanenten Angstzustand, um ihnen letztlich auch das zu vergällen, was an Kindheit tatsächlich schön und angenehm ist. Die Unbeschwertheit und das Grundvertrauen weichen einer Skepsis und Menschenfeindlichkeit, die den Eltern selbst eigen ist.
Neben den projizierten Attributen kommen noch reale Gründe für die Ablehnung der Kleinen hinzu. Kinder sind die Personifizierung des Endes der Jugend. Nächtelang rumsaufen und lange Weltreisen gehen nun nicht mehr. Windelwechseln, schlafraubendes Geschrei zu jeder Tages- und Nachtzeit und später dann Kampf um die Hausaufgaben und Rumgezicke sind von nun an lebensbestimmender Alltag. Der Nachwuchs schubst einen mit seiner Geburt von der angeblich wilden Jugendzeit in die triste Erwachsenenwelt. Im Job muss es wegen der Kinder zudem Einschränkungen geben und eine Menge Geld geht ebenfalls drauf. Man ist nicht mehr Herr seiner selbst, sondern muss sich immer um die Kleinen kümmern. Die Wut auf die Kinder ist dabei unendlich. Solche Gefühle können allerdings unter keinen Umständen zugelassen werden. Der Druck, eine perfekte Mutter und ein perfekter Vater zu sein, ist in Zeiten der „Super-Nanny“ grenzenlos. Die an sich selbst gestellte Anforderung, man muss mit dem Kind immer alles richtig machen, ihm jeden Wunsch gewähren und es immer und bedingungslos lieben, ist letztlich unerfüllbar. Ab und zu trampeln die Kinder einem so sehr auf den Nerven herum, dass man selbst Gewaltphantasien ausbildet. Solche Affekte sind völlig normal und ungefährlich, da sie nicht in die Tat umgesetzt werden. Problematischer ist es dagegen, wenn man sie verdrängt. Das Schuldgefühl, da man den Unmut ja trotzdem verspürt, steigt ins Unermessliche. Man zweifelt an den eigenen Fähigkeiten als Mutter oder Vater. Die Wut überträgt sich schließlich auf den Grund des Dilemmas: das Kind. Diese Form von Überforderung führt logischerweise häufig zu solchen Kurzschlussreaktionen, wie sie in den letzten Jahren häufiger publik geworden sind.
Das schlechte Gewissen, dass das, was nicht sein darf, trotzdem ist, also dass man die eigenen Kinder hasst und man als Elternteil versagt hat, ist ein wesentlicher Motor bei Dynamiken, wie sie in Leipzig offenbar wurden. Die eigenen Gewaltphantasien werden unterdrückt, dem Täter neidet man insgeheim, dass er mit den gesellschaftlichen Konventionen gebrochen hat. In der Psyche fungiert der Täter als das Es, das die volle Aggression am Kind auslebt. Das bedrohliche Über-Ich verlangt bedingungslosen Einsatz für das Kind. Der Mob zieht los, um das Es mit dem Beelzebub auszutreiben. Er jagt letztlich nicht den Täter, sondern seine eigenen Triebe. Dies ändert allerdings nichts daran, dass man, ohne lange zu zögern, den Täter genüsslich aufknüpfen würde, bekäme man ihn zu fassen.

Andreas Reschke/Mandy S. Dzondi

Anmerkungen

(1) Schon nach wenigen Tagen vermeldeten die Fahnder den Eingang von 600 Hinweisen aus der Bevölkerung. Sie boten allesamt „keine heiße Spur“ („Mitteldeutsche Zeitung“ vom 27.08.), waren wahrscheinlich eher denunziatorischer Natur.

(2) http://leipzig.noblogs.org/post/2008/08/22/kundgebung-heute-21h-connewitzer-kreuz.

(3) Keine Verlautbarung der Leipzig Linken zum Thema kam ohne den Verweis aus, dass dem Mädchen ein schreckliches Schicksal widerfahren sei. Auf „Indymedia“ wurde zum Beispiel ein Text mit dem Bekenntnis begonnen, dass dieser Beitrag keinen Versuch darstelle, „den gewaltsamen Tod eines Kindes zu bagatellisieren, die Tat als solche zu verharmlosen bzw. dem/den Täter(n) Rückhalt zu bieten.“ Selbstverständlichkeiten, wie dass der Sexualmord an dem Mädchen höchst verachtenswert ist, müssten eigentlich gar nicht ausgesprochen werden. Wenn man aber dennoch immer wieder darauf beharrt, liegt die Vermutung nahe, die Leipziger Linken sehen ihre Felle im Buhlen um die Bevölkerung davonschwimmen und adaptieren das Bekennertum und den Verfolgungseifer des Restes der Stadt. [Anmerkung der Redaktion CEE IEH: In den Ausgaben #158 & #159 haben wir zwei Texte zum Thema veröffentlicht, die nicht die hier kritisierte Tendenz aufweisen.]

(4) www.buntes-reudnitz.de/downloads/brief20080829.pdf.

(5) In Reudnitz gibt es zwar regen Zuzug von Studenten, die durch die billigen Wohnungen und die Innenstadtnähe angezogen werden, meist aber sofort wieder verschwinden, sobald sie etwas mehr Geld verdienen. Da es hier überhaupt noch Fluktuation mit anderen Schichten gibt, ist das Viertel bei weitem nicht das Schlimmste. In Leipzig-Stötteritz, Magdeburg-Buckau oder Halle-Trotha landen dagegen kaum Studenten. Hier, wo die Autochthonen regieren, sind die beschriebenen Phänomene noch deutlicher zu sehen.

(6) Adorno, Theodor W., Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1995.

(7) http://leipzig.noblogs.org/post/2008/08/22/kundgebung-heute-21h-connewitzer-kreuz.

(8) Adorno, S. 52.

(9) www.anti-kinderporno.de.

(10) Einige Tage nach dem Verschwinden des Mädchens erschien in der Bild-Zeitung ein Phantombild eines angeblichen Sexualstraftäters. Ob dieser etwas mit dem Fall zu tun hat, war nicht einmal Spekulation, sondern reine Phantasie bzw. Hetze. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn der Reudnitzer Mob auf eine Person getroffen wäre, die der Person auf dem Phantombild auch nur ähnelt. Ein anderer Pädophiler, der im Zuge der Ermittlungen verhört wurde, aber „zu keinem Zeitpunkt als Verdächtiger geführt worden“ sei – wie der MDR schreibt –, hatte kurz nach dem Verhör Selbstmord begangen. Hier kann man sehen, wie hoch der Druck ist, dem pädophile Menschen ausgesetzt sind.





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last modified: 24.3.2009