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Warum Notzionismus?

Referat auf der Veranstaltung „Warum Israelsolidarität“ anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung des Staates Israel, gehalten am 16.05.2008 im Conne Island.

Chinesische Banknote, 72.7k

Jean Améry schrieb in seinem Aufsatz „Der ehrbare Antisemitismus" über Israel: „Meine persönlichen Beziehungen zu diesem Land, von dem Thomas Mann in der Josefs-Tetralogie gesagt hat, es sei ein „Mittelmeer-Land, nicht gerade heimatlich, etwas staubig und steinig", sind quasi null: Ich habe es niemals besucht, spreche seine Sprache nicht, seine Kultur ist mir auf geradezu schmähliche Weise fremd, seine Religion ist nicht die meine. Dennoch ist das Bestehen dieses Staatswesens mir wichtiger als irgendeines anderen." Améry hatte sich in seiner Jugend nicht dafür interessiert, dass er Jude ist. Erst die Nazis haben ihm sein Jude-Sein aufgezwungen. So verhält es sich auch mit Israel: Der Antisemitismus hat diesen Staat erzwungen. Er wurde zwingend notwendig. Der Literaturkritiker Hans Mayer, dem seine jüdische Herkunft ebenfalls aufgezwungen wurde, reklamierte für sich die Position des „Notzionismus". Diesen grenzte er von anderen Formen des Zionismus ab, beispielsweise von religiösem oder nationalistischem Zionismus.

Ein solcher Notzionismus, d.h. eine Parteinahme für Israel aufgrund von Antisemitismus und insbesondere Auschwitz, schließt die Traurigkeit und Verbitterung darüber ein, in einer Welt leben zu müssen, in der Israel notwendig ist. Dieser Unterschied zwischen Notzionismus und einem Zionismus, der den Staat Israel verklärt, kennzeichnet den Unterschied zwischen einer Parteinahme für Israel, die in einer utopischen universalistischen Tradition steht, und einer Parteinahme für Israel, die aus dem tragischen Umstand, dass der Staat Israel notwendig geworden ist, eine Tugend macht. Eine Parteinahme für Israel, die aus Israel eine Tugend macht, ist im Grunde zynisch. Sie verklärt die Zusammenpferchung der Juden in einer Wüstengegend zu etwas Positivem, sie verklärt die unumgängliche Reaktion auf die Vernichtung des europäischen Judentums zu etwas Schönem. Gegen einen solchen zynischen Nationalismus muss der Notzionismus stark gemacht werden – überall, auch in Israel. Gerade in Israel muss das Bewusstsein, dass Israel eine Reaktion auf den Antisemitismus und kein positiver jüdischer Lebensentwurf ist, wach gehalten werden – beispielsweise gegen einen Nationalismus, der 1967 per Manifest verbreitet wurde. Damals erklärte eine sogenannte „Bewegung für das ganze Land Israel", dass Israel und seine Gebietsgewinne legitim seien, weil das Land „das eingewurzelte und unveräußerliche Recht unseres Volkes seit Anbeginn seiner Geschichte verkörpert". Diesen religiösen und völkischen Quark unterschrieben damals auch zahlreiche israelische Persönlichkeiten. Ein solcher Zionismus ist falsch – zum einen, weil er ein Vergessen um die besondere Bedeutung Israels einschließt, zum anderen, weil er in keiner universalistischen Tradition steht und sich wie so viele nationalistische Ideologien an irgendwelchen Böden, Wurzeln und Vorvätern ergötzt.

Nun stellt sich freilich die Frage: Wie kann ein Notzionismus für Israel Partei ergreifen und zugleich dem Universalismus die Treue halten? Die Antwort lautet: praktisch gar nicht. Die Existenz Israels kommt einem Eingeständnis gleich, dass ein konsequenter Kosmopolitismus, also eine Welt ohne Staaten, Nationalismus und religiöse Borniertheit, gescheitert ist. Israel ist der Beweis dafür, dass Zerstreuung und Assimilation nicht funktioniert haben. Der Notzionismus weiß um dieses Scheitern und die Tragik des Umstands, dass es Israel geben muss. Nur in diesem Wissen, also rein theoretisch, kann und will er der Einheit der Menschheit die größtmögliche Treue halten. Zugleich hält er den Israelis die Treue, indem er nicht behauptet, dass eine eingezäunte, abgeschottete Wüstenexistenz das Maß aller Dinge ist. Um diese tragische Existenz zu verdeutlichen, muss man sich nur vor Augen halten, was die Existenz Israels bedeutet:

  1. Mit der Staatsgründung Israels wurde die Diaspora, die besonders im 19. Jahrhundert ein wichtiger Nährboden für viele Zivilisationsleistungen war, weitgehend beendet.
  2. Mit der Staatsgründung Israels wurde – aus der Not – die herrschende Gestalt der Welt und deren katastrophales Prinzip, wonach jedes Volk seinen Platz hat und einen eigenen Staat braucht, zementiert.
  3. Die Staatsgründung Israels hat für viele Palästinenser Leid, beispielsweise das der Vertreibung, bedeutet. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Dieses Leid ist das notwendig kleinere Übel. Es kommt zwar darauf an, dieses Leid so gering wie möglich zu halten. Aber damit Israel seine Funktion erfüllen kann, die Juden weltweit zu schützen, darf es keinesfalls ein binationaler oder multikultureller Staat werden. Es muss summa summarum ein Staat mit einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit bleiben.
  4. Jugendliche in Israel sind gezwungen – und auch dazu gibt es keine Alternative –, mehrere Jahre Militärdienst abzuleisten, also die potentiell aufregendsten Jahre ihres Lebens kaserniert und in der Bereitschaft zu verbringen, andere zu töten und sich selbst zu opfern.
Man könnte noch weitere Punkte nennen. Sie alle verdeutlichen, dass Israel kein Vorschein auf eine befreite Gesellschaft ist, sondern das realpolitisch dringend erforderliche Eingeständnis ihres Scheiterns. Dieser Umstand muss dringend reflektiert werden, wenn der 60. Geburtstag Israel begangen wird. 60 Jahre Israel haben 60 Jahre Verteidigungszustand, mehrere Kriege und den schweißtreibenden Aufbau eines Landes in einer kargen Landschaft bedeutet. Man kann feiern, dass und wie Israel diese 60 Jahre überstanden hat. Aber 60 weitere solche Jahre wünscht man niemandem an den Hals. Israel ist kein Spaß, sondern Ernst. Und das muss sich auch in der Ästhetik einer Parteinahme für Israel widerspiegeln. Israelsolidarität ist nicht glamourös, sondern notwendig.

Hannes Gießler



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last modified: 8.7.2008