Veranstaltungsreihe
"Die Enttäuschung"
Letztes Jahr haben wir, die Gruppe in Gründung, in
einer Veranstaltungsreihe dargelegt, dass es mit einer Kritik der
kapitalistischen Produktionsweise nicht getan ist, da es Schlimmeres als die
kapitalistische Gesellschaft gegeben hat und gibt. Dazu gehören auch die
Versuche der Umsetzung des Kommunismus. Im Unterschied zu Nationalsozialismus
und Islamismus war der Kommunismus humanistischen Zielen verpflichtet. Doch
nachdem vor 90 Jahren mit der russischen Revolution die Realisierung des
Kommunismus begann, ergaben sich in der Folge statt Wohlstand und freier
individueller Entfaltung mehr Zwang und staatliche Gewalt. Was war geschehen,
warum realisierte sich der Kommunismus als totalitäre Gesellschaft?
Im ersten Vortrag wird der Zusammenhang zwischen Marxscher Philosophie und real
existierendem Sozialismus rekonstruiert, d.h. danach gefragt, wie sehr Marx am
real existierenden Sozialismus Schuld trägt. Im zweiten Vortrag sollen
anhand der Geschichte der Sowjetunion Ansätze zu einer Kritik der
politischen Ökonomie des Sozialismus entwickelt werden. In dem dritten
Vortrag wird eine Frage, um die schon die ersten beiden Vorträge kreisen,
anhand ihrer literarischen Aufbereitung diskutiert: Wie konnten Integrität
und Freiheit des Individuums im Sozialismus dermaßen nivelliert werden?
Alle Veranstaltungen finden in der NATO (Karl-Liebknecht-Straße 78, Leipzig) statt.
Sonntag, 7. Oktober, 14 Uhr
Der Begriff des Kommunismus bei Karl Marx
Referent: Martin Eichler
Wie die sowjetischen Bolschewiki war Marx, der Kirchenvater (Adorno) der
kommunistischen Tradition, gezwungen, sich mit den Fragen der politischen und
ökonomischen Umsetzung der kommunistischen Idee auseinander zu setzen. Es
ist allerdings und das überrascht kein zentraler Topos
seiner Schriften: Marx hat, nach eigener Aussage, nie eine Theorie des
Sozialismus formuliert. Man ist versucht zu sagen, dass Marx vor dieser
Aufgabe zurückschreckte. Was sich allerdings in seinen Schriften zum
Begriff des Kommunismus findet, ist von beunruhigender Ambivalenz. Von Anbeginn
seines Glaubens an die proletarische Revolution besitzt Marx einen doppelten
Begriff des Kommunismus. Einerseits tritt Marx in realpolitischer Hinsicht als
Verkünder der Diktatur des Proletariats auf und nimmt damit den
gewaltsamen und antiemanzipatorischen Verlauf der russischen Revolution in
affirmierender Weise vorweg. Diesem arx steht jedoch andererseits ein
messianisch-utopischer Marx gegenüber, der wesentliche Kritikpunkte am
real existierenden Sozialismus unter dem Stichwort des rohen Kommunismus
theoretisch antizipiert.
Diese Ambivalenz ist Ergebnis eines Konfliktes, der in den Prämissen des
Marxschen Werkes angelegt ist und seine Wurzeln in der Idee des Kommunismus
selbst hat. Für Marx sind die Vermittlungsformen des Tausches der
wesentliche Motor der kapitalistischen Gesellschaft, die als fremdbestimmende
den Individuen gegenübertreten und die als solche zerstört werden
müssen. Sein Ideal ist mithin das vollkommen selbstbestimmte Individuum.
In seinem Furor gegen den nivellierenden Tausch vernachlässigt er die
Notwendigkeit der Reflexion auf mögliche andere Vermittlungsformen der
Ökonomie und Politik und akzeptiert den diktatorischen Staat als
notwendiges Übel einer Übergangszeit zum wirklichen Kommunismus.
Sehenden Auges und doch blind trägt er damit das Seine zur
verhängnisvollen Entwicklung der kommunistischen Wirklichkeit im 20.
Jahrhundert bei. Sein Hass auf das Bestehende und sein unbändiger Wunsch,
dieses zu überwinden, lässt ihn das opfern, was ihm doch Endzweck der
kommunistischen Revolution war: das Individuum.
Sonntag, 21. Oktober, 14 Uhr
»Kommunismus das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen
Landes« (Lenin)
Referent: Hannes Gießler
Das Versagen des Kommunismus wird besonders in dem Land sichtbar, in dem sein
zwischenzeitlicher Siegeszug 1917 begann: der Sowjetunion. Schon unter Lenin
traten die despotischen Züge einer Einparteienherrschaft hervor und schon
zu seiner Zeit wurde die Würde des Individuums zugunsten des Staates und
des sozialistischen Kollektivs untergraben. Statt sozialer Errungenschaften,
die der Sozialismus bis heute als seine Stärke reklamiert, erlebten die
Bürger der Sowjetunion Hungerkatastrophen, an die Stelle individueller
Entfaltung traten staatliche Verordnungen.
Doch wäre es ohne Sozialismus anders gekommen? Trägt der Sozialismus
überhaupt primär die Verantwortung für die Entwicklungen? Hatten
nicht auch die bürgerlichen Demokratien einen gewaltvollen Prozess der
sogenannten ursprünglichen Akkumulation (Karl Marx) zur
Voraussetzung, den das ehemalige Zarenreich ohnehin noch vor sich hatte, ob
kapitalistisch oder sozialistisch?
Zwar lässt sich der Sozialismus in der Sowjetunion damit, dass er im
Zeitraffer die ursprüngliche Akkumulation, d.h. einen Husarenritt
in die Moderne durchgesetzt hat, besser verstehen, aber noch nicht ausreichend
erklären. Immerhin steuerte er andere Ziele an und propagierte eine andere
Form wirtschaftlicher und politischer Organisation. Nicht wie in der
kapitalistischen Produktionsweise durch die blinde Vermittlung über
Geld und Markt, sondern rational, durch planmäßige Kontrolle
(Marx) sollte die Produktion gestaltet werden. Verwirklicht wurden aber nicht,
wie erhofft, größerer Wohlstand, sondern mehr Staat und weniger
individuelle Freiheiten.
Sonntag, 25. November, 14 Uhr
Das Ich als grammatikalische Fiktion
Zu Individuum und Opfer im Sozialismus aus literarischer Perspektive
Referent: Sebastian Tränkle
Wissend, das tägliche Brot der Revolution
Ist der Tod ihrer Feinde, wissend, das Gras noch
Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt
Heiner Müller, Mauser
Die Rolle des Individuums beziehungsweise dessen theoretische Abschaffung in
der Ideologie des Marxismus-Leninismus und reale Vernichtung im Stalinismus
stehen im Fokus dieses Vortrags. Wie die Einzelnen zunehmend nur noch in die
völlig entindividualisierte Rolle des Opfers für das Kollektiv
beziehungsweise das abstrakte Ganze (die Revolution) gedrängt
werden, so schwingt sich dieses Ganze mit dem Selbstverständnis eines
Vollstreckers des objektiven Gesetzes der Geschichte zum Absoluten auf,
das keinerlei Recht der Einzelnen und schließlich überhaupt keine
Einzelnen mehr kennt. Dieser Mechanismus ist besonders eindrücklich an
einigen literarischen Werken aus der Epoche des Stalinismus ablesbar, die aus
gänzlich gegensätzlichen Positionen heraus verfasst wurden:
Während z.B. Bert Brecht in seinem Lehrstück Die
Maßnahme das Selbstopfer zur revolutionären Pflicht stilisiert,
rechnet Arthur Koestler in seinem Roman Sonnenfinsternis mit den
ideologischen und politischen Dynamiken der ersten stalinistischen
Schauprozesse und Säuberungen ab. Dabei stellen beide die Logik des
Durchstreichens des Ichs unter den Bedingungen der totalen Herrschaft
eines hoch ideologisierten Parteiapparates dar.
Es ist aber nicht nur nach den äußeren Bedingungen gewaltsamer
Herrschaft und den unmittelbaren Effekten von physischer wie psychischer Folter
zu fragen. Die Tatsache, dass sich Individuen ihrer Rolle als Opfer fügen,
dessen Sinnhaftigkeit und Unabwendbarkeit selbst als notwendigen Dienst an der
Revolution verstehen, oder doch zumindest zu diesem Bekenntnis gebracht werden
sollen, wirft die Frage nach der Wirksamkeit der Ideologie auch auf
individueller Ebene auf. Deshalb soll sich der Vortrag nicht damit
begnügen, die stalinistischen Gewaltexzesse zu verurteilen, sondern
vielmehr nach den Anlagen derselben bereits in früheren
revolutionären Ideologemen fragen. Gerade Koestler macht deutlich, wie
weit diese Exzesse lediglich eine letzte grausame Konsequenz der
Ideologie des Marxismus-Leninismus sowie der Logik der revolutionären
Handlungen der Bolschewiki darstellen.
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