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kulturreport, 1.7k

Nieder mit eurer Liebe!
Nieder mit eurer Kunst!
Nieder mit eurer Ordnung!
Nieder mit eurer Religion!


Nein, dies ist nicht der Refrain des Liedes einer deutschen Punkrock- oder Blackmetalformation, sondern Zeilen aus der Feder von Wladimir Majakowskij, welche er 1915 niederschrieb, zwei Jahre vor der herannahenden Oktoberrevolution. In den folgenden Fragmenten soll sich der sie begleitenden künstlerischen Avantgarde angenommen werden.

Es begab sich zur Mittagszeit des 9. Januars 1905. Eine ausgehungerte und wütende Menge von Frauen, Männern und Kindern marschierte zum St. Petersburger Schlossplatz, sie sangen Lieder und führten keinerlei Bewaffnung mit sich. So standen sie also singend vorm Winterpalais, um von ihrem Zaren Brot zu fordern. Dieser tat, was Zaren und andere Despoten in solchen Situationen für gewöhnlich zu tun pflegen: er gab den Schießbefehl. Noch heute erinnert man sich in Russland an dieses Ereignis mit mehr als 1.000 Toten und 2.000 Verletzten, das als der „blutige Sonntag“ in die Geschichte einging. Als daraufhin der an Rechtmäßigkeit der Tat zweifelnde und die möglichen Folgen fürchtende Innenminister Bulygin sich mahnend an seinen Zaren wandte, hatte dieser nur Spott für ihn übrig: „Es sieht ja aus, als befürchten sie den Ausbruch einer Revolution!“ „Majestät“, antwortete Bulygin, „die Revolution hat bereits begonnen.“
Das Folgende dürften andere in diesem Heft behandeln…
      „Ganz allgemein gesagt, drückt der Mensch in der Kunst sein Verlangen nach einem harmonischen und erfüllten Leben aus […] Deswegen enthält jedes echte Kunstwerk immer einen Protest gegen die Wirklichkeit, sei er nun bewußt oder unbewußt, aktiv oder passiv, optimistisch oder pessimistisch. Jede neue künstlerische Richtung hat mit einer Rebellion eingesetzt. Die bürgerliche Gesellschaft zeigt gerade darin während langer Perioden der Geschichte ihre Stärke, dass sie es durch die Verbindung von Unterdrückung und Ermunterung, von Boykott und Schmeichelei verstand, jede 'rebellierende' künstlerische Bewegung zu kontrollieren, zu assimilieren und auf das Niveau der ofiziellen 'Anerkennung' zu heben. Aber jede Anerkennung dieser Art bedeutete letztendlich das Herannahen ihrer Agonie. In diesem Augenblick erhob sich dann vom linken Flügel der legalisierten Schule her oder von unten, d.h. aus den Reihen einer neuen Generation der schöpferischen Bohème, eine neue rebellierende Bewegung, die dann ihrerseits nach einer bestimmten Zeit die Stufen der Akademie emporstieg.“ (Leo Trotzki, Kunst und Revolution)
Noch vor der eigentlichen Revolution, zeitgleich zu massiver sozialer Verelendung und politischen Unruhen, entstand in Russland eine nach vorn blickende Avantgarde, die durch ihre Kunst aktiv an der Umgestaltung der Welt hin zum Besseren teilhaben wollte. Dem Ausprobieren westlicher Stilrichtungen (Kubismus, Futurismus, etc.) folgten alsbald eigene Stile. Am bekanntesten vielleicht der Suprematismus, vertreten durch das berühmte Bild „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“ von Kasimir Malewitsch. 1913 entstanden, wurde es zum Symbol für eine staatsunabhängige freie Kunst, die sich der alten künstlerischen Ideale völlig entledigte.
Etwa um diese Zeit begann die Beschäftigung verschiedener künstlerischer Bewegungen mit einem Thema, das bis dato nie auf der Tagesordnung stand: die Aufhebung der Sphäre Kunst als etwas abgetrenntes vom Rest gesellschaftlichen Lebens; die Zerstörung der alten übermächtigen, doch zeitgleich machtlosen Institution Kunst, ihre unmittelbare Nutzbarmachung für den Prozess des Erkenntnisgewinns und die Transformation des unmittelbaren gesellschaftlichen Lebens. Malewitschs „Quadrat“ legt Zeugnis davon ab, ist das völlig Gegenstandslose, keiner Darstellung mehr verpflichtet, außer dem Aufzeigen der Absurdität der Sphäre in welcher es sich bewegt. Es zeigt die letzte Konsequenz, wenn man die bildende Kunst bis zum Äußersten, zur absoluten Reinheit, treibt. Für ihn bedeutete Suprematismus(1) jede „Lüge der Welt des Willens und der Vorstellung“ durch Abstraktion zu überwinden, also dass es ein Leben geben kann, das über die Natur hinaus zu schreiten vermag. Forscher solle der Künstler sein, nicht selbstverliebter Schöpfer. Das Bild endete dort, wo es zwangsläufig enden musste: eingepfercht in einem Museum, wie ein wildes Tier in einem Käfig, auf das sich interessierte Bildungsbürger und Schlimmere daran erfreuen mögen. Die intendierte Aufhebung der Kunst, entscheidend für die russische Avantgarde, wird heute allemal als ideologisches Beiwerk betrachtet, welches für den zu beobachtenden Gegenstand nicht weiter von Belang wäre. Dabei ist es genau dieses spezifische Moment aus dem sie zehrt wie aus keinem anderen.
      „Laßt uns die Welt den Händen der Natur entreißen und eine neue Welt errichten, die dem Menschen gehört“ (Malewitsch, Erstes Manifest)
Man kann ruhig einen Gemeinplatz besetzen, wenn man sagt, dass diese Zeit des Umbruchs, in der alte Rollenmuster und gesellschaftliche Standards hinterfragt wurden und über Bord geworfen werden sollten, sich auch in enormen Maße auf die Kunst niederschlug. Trotz der unterentwickelten Situation des Landes gebar die Zeit der Revolution eine kraftvolle Avantgarde, die sich mit Namen wie Eisenstein, Wertow, Lissitzky, Tatlin, Malewitsch, Kandinsky, Gorki und anderen ihren Platz in Museen und Universitäten erkämpfte und wohl noch etliche Generationen lang Kinder des Bildungsbürgertums beschäftigen dürfte. Selbst Künstler, die der Revolution skeptisch gegenüberstanden wurden vom Strudel der Ereignisse erfasst und in ihren Arbeiten spiegelt sich diese Zeit des Aufbruchs und der Veränderung wieder. Man darf auch nie aus den Augen verlieren, dass die sozialistische Revolution in einem Land erfolgte, welches gerade so für eine bürgerliche reif gewesen wäre, was nicht zuletzt zu vielen der auftretenden Probleme und schließlich zur stalinistischen Terrorherrschaft führen sollte.
      „Doch kann ich die Musik nicht oft hören, sie greift die Nerven an, man möchte liebevolle Dummheiten sagen und den Menschen die Köpfe streicheln, die in einer widerwärtige Hölle leben und so etwas Schönes schaffen können. Aber heutzutage darf man niemandem den Kopf streicheln – die Hand wird einem abgebissen, man muss auf die Köpfe einschlagen, mitleidlos einschlagen, obwohl wir, unserem Ideal nach, gegen jede Gewaltanwendung gegenüber den Menschen sind. Hm, hm, ein teuflisch schweres Amt!“ (Lenin zu Gorki nach einer Beethoven-Sonate, Maxim Gorki, Aufzeichnungen)
Die ganze Tragik der Person Lenins, der Revolution und ihrer Ideale überhaupt, wird an diesem Zitat deutlich. Dieses unbedingte rücksichtslose Vorwärtsschreiten, der vermeintlichen Vernunft die eigene Sinnlichkeit zum Opfer darzubringen, das Zurückstellen der Ideale hinter historische Notwendigkeiten, das Zurückhalten der eigenen Bedürfnisse zum Zwecke eines höheren Zieles, es ist alles da. Und wo Lenin noch auf den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit reflektieren konnte, sollten seinem Nachfolger solcherlei Gedankengänge fremd bleiben.

Doch sehen wir uns einmal einige Beispiele der jungen russischen Avantgarde an, aufgrund von Zeit und Raum nur eine begrenzte Auswahl.
Eine der spannendsten vorrevolutionären Kunstformen war wohl das Futuristische Theater. Leute wie Wladimir Majakowski, Michail Matjuschin und Welimir Chlebnikow schrieben und inszenierten Stücke wie etwa „Sieg über die Sonne“(1913) deren Aufführungen sich als äußerst schwierig gestalteten. Die Schauspieler waren inmitten der Zuschauer positioniert, schrieen diese im Laufe des Stückes an, griffen nach ihnen und bespuckten sie. Das eigentliche Ziel, die Einbeziehung des Zuschauers in die Darstellung, um geistige und körperliche Ausbrüche zu provozieren und so Kunst spürbar zu machen, funktionierte so gut, dass einige der Aufführungen in handfesten Auseinandersetzungen endeten. Doch die Futuristen mussten schließlich einsehen, dass die Bevölkerung für solcherlei noch nicht reif genug war und sie wendeten sich anderen Kunstformen zu. Der Mehrheit der revolutionären Führung, allen voran Lenin, war diese Art bourgeoiser Spielerei auch nie wirklich recht gewesen.
Nach der Oktoberrevolution wurde versucht, die Bevölkerung nicht nur an allgemeiner Bildung teilhaben zu lassen, sondern sie auch an die Kunst heranzuführen, was auf großes Interesse stieß. Auf der einen Seite standen also moderne, vorwärts gewandte Künstler, auf der anderen ein Land, das zu circa 75 oder mehr Prozent aus Analphabeten bestand, deren meist einziger bisheriger Berührungspunkt mit einem künstlerischen Gegenstand jener mit verkitschten Heiligenbildchen war. Es fanden demzufolge viele Debatten über Form und Inhalt eines neuen Theaters statt. So entstand das Revolutionäre Theater, welches mit einfacher Bildsprache der Bevölkerung Geschichte und Inhalte der Bewegung näher bringen sollte. Die wohl pompöseste Inszenierung war „Der Sturm auf das Winterpalais“, welches am dritten Jahrestag der Revolution aufgeführt wurde. Ort der Aufführung war auch wirklich das Winterpalais und viele der Statisten waren selbst am Aufstand beteiligt gewesen. An der Aufführung beteiligten sich circa 8.000 Personen und 100.000 Zuschauer. Allerdings wurde diese Form des Schauspiels aufgrund von Geldmangel schnell wieder verworfen. Man darf jedoch ihren Einfluss nicht unterschätzen, denn im Zuge dieser Stücke bildeten sich im ganzen Land Laienschauspieltruppen, welche, obgleich nicht von großem künstlerischen Wert, eigene Stücke produzierten und aufführten. Es ist hier offensichtlich, wie groß das Verlangen auch der ungebildeten Masse war, selbst künstlerisch tätig zu werden, um einen jeweils eigenen Teil zur geistigen und sozialen Neugestaltung beizutragen.

„Panzerkreuzer Potemkin“. Jeder der ihn nicht gesehen, hat zumindest schon einmal davon gehört. 1925 drehte Sergej Eisenstein einen Film über die erste russische Revolution 1905, der in doppelter Hinsicht revolutionär war. Zum Ersten war der Bildaufbau, das Gegeneinanderschneiden von Szenen, etwas völlig neues. Bisher war noch nie soviel Bewegung und kraftvolle Emotion im Kino festgehalten worden. Zum Zweiten spiegelte der internationale Stummfilm bis zu jener Zeit hauptsächlich die Welt der Bürger, nicht jedoch die der Arbeiter wieder, schon gar nicht wenn sie so rumrevoluzzerten. Das zweite Beispiel wäre Dsiga Wertow‘s „Der Mann mit der Kamera“. Noch heute zählt dieser Film nicht umsonst als Grundlage der Weiterentwicklung des Mediums. Obgleich er keine klare politische Botschaft erkennen lässt, und vielleicht ist gerade das seine Stärke, spürt man in jeder Szene das Voranschreiten, die Aufregung über das Neue, sowie auch in einzelnen Einstellungen das unbarmherzige Stampfen der Maschinen und die technischen Neuerungen. Zum ersten Mal entmystifiziert sich das Medium selbst, legt den Produktionsprozess offen dar, indem etwa ein Kameramann aus einem fahrenden Wagen heraus gefilmt wird, wie er selbst aus einem fahrenden Wagen heraus filmt.

Spannend auch noch die so genannten ROSTA-Fenster. Diese stellten für viele Menschen die erste Berührung mit Kunst überhaupt dar. Gerade bei der Agitation der ländlichen Bevölkerung, die fast ausnahmslos aus Analphabeten bestand, leisteten sie während der Zeit des „Kriegskommunismus“ unverzichtbare Dienste. Sie bestanden aus bis zu drei mal drei Meter großen Plakaten und ähnelten Comicstrips. Um den einfachen Arbeiter und Bauern zu erreichen, mussten sie natürlich sehr einfach gehalten werden und bestätigten alte Vorurteile und einfache Weltbilder. Etwa der dicke Kapitalist mit Zylinder, der muskulöse Arbeiter mit dem Hammer oder die Entlehnung bestimmter Symboliken aus der Welt der Märchen wie etwa das Skelett für Armut und Not oder die Krähe als Zeichen drohenden Unheils (heute noch bei Crustmusik populär). Allerdings muss man sagen, dass versucht wurde, rassistischen Vorurteilen das Wasser abzugraben, so etwa im Bezug auf polnische Truppen: „Schaut die Gefangenen! Rotarmisten bedenkt: legen sie die Waffen nieder, sind polnische Arbeiter unsere Schaffensbrüder!“ Der Inhalt war stets unmittelbar verständlich, selbst wenn man nicht im Stande war, den beigefügten Text zu lesen. Ein abstrakteres Beispiel wäre El Lissitzky's Plakat „Schlagt die Weißen mit dem roten Keil!“ von 1920. Der weiße Kreis symbolisiert die vom Ausland gestützten einmarschierenden Truppen und der rote Keil die, genau, Rote Armee.

Für die Architektur entwickelten beispielsweise Wladimir Tatlin oder El Lissitzky fantastische Ideen, deren Umsetzung aufgrund der ökonomischen Situation jedoch nie realisiert werden konnte. So schreibt etwa Michail German in „Die Kunst der Oktoberrevolution“ über den Entwurf Tatlins für einen Turm zu Ehren der III. Internationale: „Gedacht war dieses Denkmal […] als ein Turm aus Glas und Metall[…] In einer Leuchtspirale sollte sich ein Würfel drehen, über ihm eine Pyramide und darüber ein Zylinder. Die Drehungen sollten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit erfolgen. Auf diese Weise könnte der wunderbare leuchtende, schräg in den Himmel ragende Gigant langsam seine Silhouette ändern, als lebe er ein eigenes feierlich-bedeutsames Leben […] Ilja Ehrenburg, der das Modell im Haus der Gewerkschaften besichtigte, schrieb in seinen Erinnerungen: ,Ich hatte den Eindruck, als hätte ich durch einen Spalt gelugt und das 21. Jahrhundert erblickt.“

Der sozialistische Realismus
      „Ferner: die Wahrheit ist allgemein, sie gehört nicht mir, sie gehört allen, sie hat mich, ich habe sie nicht. Mein Eigentum ist die Form, sie ist meine geistige Individualität. Le style c'est l'homme.(2) Und wie! Das Gesetz gestattet, das ich schreiben soll, nur soll ich einen anderen als meinen Stil schreiben! Ich darf das Gesicht meines Geistes zeigen, aber ich muß es vorher in vorgeschriebene Falten legen! Welcher Mann von Ehre wird nicht erröten über diese Zumutung und nicht lieber sein Haupt unter der Toga verbergen? Wenigstens läßt die Toga einen Jupiterkopf ahnen. Die vorgeschriebenen Falten heißen nichts als: bonne mine à mauvais jeu.(3)
      Ihr bewundert die entzückende Mannigfaltigkeit, den unerschöpflichen Reichtum der Natur. Ihr verlangt nicht, daß die Rose duften soll wie das Veilchen, aber das Allerreichste, der Geist soll nur auf eine Art existieren dürfen? Ich bin humoristisch, aber das Gesetz gebietet, ernsthaft zu schreiben. Ich bin keck, aber das Gesetz befiehlt, das mein Stil bescheiden sei. Grau in grau ist die einzige, die berechtigte Farbe der Freiheit. Jeder Tautropfen, in den die Sonne scheint, glitzert in unerschöpflichem Farbenspiel, aber die geistige Sonne, in wie vielen Individuen, an welchen Gegenständen sie auch sich breche, soll nur eine, nur die offizielle Farbe erzeugen dürfen!“ (Karl Marx, Bemerkungen über die preußische Zensurinstruktion)
Spätestens mit dem Tode Lenins 1924 und dem Beginn von Stalins Herrschaft, wurde klar, dass das, was Trotzki und Lenin noch als notwendige Übergangsphase hin zum Kommunismus sahen, die Diktatur des Proletariats, sich nun unter der Leitung eines Mannes und einer Clique von Bürokraten verfestigte. Die Revolution der Arbeiter und Bauern, welche die Phase bürgerlicher Demokratie überspringen sollte, um jedoch nicht bei einer Klassengesellschaft stehen zu bleiben, sondern diese über sich hinaus zu treiben, war gescheitert. Marx These, nach der die Revolution nur in einem wirtschaftlich voll entwickelten Land durchführbar wäre, da es für den Kommunismus als Grundlage einer Überflussgesellschaft bedürfe, erfuhr ihre schreckliche Bestätigung in der Realität der Sowjetunion. Nach den folgenden „Säuberungen“ war außer Stalin keines der Mietglieder des ZK von 1917 am Leben. Da die Räte auf Beamte und Fachkräfte aus der Zarenzeit zurückgreifen mussten – es war in den Kriegswirren nicht möglich, eigene Fachkräfte in erforderlichem Maße auszubilden – entwickelten diese sich schnell zu einer miteinander kommunizierenden Schicht, welche das System sabotierten, Privilegien einfordern konnten und sich schließlich zu Stalins persönlichem Terror- und Verwaltungsapparat transformierten.
Schleichend begann auch ein Prozess der Einschränkung der Künste und schließlich wurde ab 1934 der Sozialistische Realismus als einzige zulässige Kunstform in der Sowjetunion durchgesetzt. Viele Künstler emigrierten oder nahmen sich das Leben. Einige wurden in Lager gesteckt und dem sicheren Tode überantwortet. Wiederum andere zogen sich zurück und einige erteilten dem neuen Zaren die höchsten Weihen. Die Zeit der russischen Avantgarde war definitiv beendet.
      „Die offizielle Kunst der Sowjetunion – und es gibt dort keine andere – ähnelt der totalitären Justiz, d.h. sie beruht auf Lug und Trug. Ziel der Justiz wie der Kunst ist die Verehrung des ‚Führers‘, die künstliche Erschaffung eines heroischen Mythus.[…]Unter dem Vorwand einer verspäteten Anerkennung hat der ‚Linke‘ Flügel der westlichen Intelligenz vor der sowjetischen Bürokratie einen Kniefall gemacht. Im allgemeinen haben sich die charakterstarken und begabten Künstler abseits gehalten. Aber die Versager, Streber und Nullen haben sich um so bissiger in den Vordergrund gedrängt.“ (Leo Trotzki, Kunst und Revolution)
Schlussfolgerungen

Man kann sehen, dass die künstlerische Gestaltung mit der Idee einer neuen Gesellschaft unmittelbar zusammenfiel, einen erzieherischen Auftrag verfolgte, der in etwa die Utopie einer Gesellschaft als Gesamtkunstwerk vertrat. Es ging also um die Verwirklichung von Kunst, um ihr Herausreißen aus der abgetrennten Sphäre. Die Aufhebung der alten Sphäre Kunst intendierte also erst ihre Verwirklichung, wenn man so will auch ihre Verabsolutierung. Der Künstler verstand sich selbst als Schöpfer, und zwar nicht nur im Bezug auf sein Werk, sondern vor allem im Bezug auf die Gesellschaft. Nun stellte sich jedoch das Problem, dass man es in Russland mit einer rückständigen Gesellschaft zu tun hatte, in der klassische bürgerliche Vergesellschaftungsformen kaum bis gar nicht gegeben waren und man alle Hände voll zu tun hatte, die Entwicklung des Westens nachzuholen. Selbst die simpelste Logik macht klar, dass man nichts aufheben kann, das noch gar nicht vorhanden ist. So liegt die Vermutung nahe, dass die Partei, welche alle Avantgardisten fast ausnahmslos unterstützten, als eine Art Gesellschaft formender Gesamtkünstler wahrgenommen wurde. Das Werk ist die Gesellschaft, die Rohmaterialien Mensch und Erde.
So verwundert es nicht, dass ein wesentliches Moment die Verschmelzung von Kunst und Technik darstellte. So entwarfen die Künstler Buchumschläge, Kleidung, Möbel, etc.
Mit ihren revolutionären Ideen wurden sie in einen historischen Zustand geworfen, der statt wegweisender Werke Marschmusik, Propagandaplakate und Alltagsgegenstände von ihnen verlangte. Nun muss man sagen, dass gerade in der Bewegung des „Proletkult“, einer Art ZK der Künste, zu der auch Leute wie Eisenstein gehörten sich nur zu bereitwillig verdingten. Zu groß war die Idee einer Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung, als dass man ihr nicht hinterher laufen wollte. Der „Proletkult“ steht hier auch stellvertretend für die Technik- und Wissenschaftsbegeisterung der jungen Sowjetunion. So orientierte er sich stark an Konstruktivismus und Bauhaus und wollte alle bestehenden kulturellen Errungenschaften über Bord werfen um eine neue eigene Proletarische Kultur zu schaffen. Das er dabei nichts weiter tat, als sich gerade diese zutiefst bürgerlichen Errungenschaften einzuverleiben und zu bearbeiten, kam seinen Protagonisten nicht in den Sinn.

Um eine Gesellschaft hervorzubringen, in der Kunst selbst obsolet werden könnte, mussten in Russland eindeutig Mittel angewandt werden, die nichts mit Kunst zu tun hatten: Propaganda und Werbung.
Und hier beginnen auch schon die Probleme. Es entspinnt sich eine Abstraktion im gesellschaftlichen Leben, welche die Individuen in ihm erfasst, anstatt jedoch darüber aufzuklären werden romantisierende Sichtweisen auf das Leben der einfachen Bevölkerung geschaffen, wird die geistige Durchdringung des Zustandes verhindert durch Parolen und plakative Bilder, sowohl im bildenden als auch im literarischen Bereich.
Nun wird oft eingewandt, echte Kunst sei über Gesellschaft erhaben und vollständig autonom. Diese Position ist jedoch blanke Augenwischerei und verkennt die konkreten sozialen und psychologischen Vorrausetzungen der Ästhetik. Wirkliche Kunst trägt die gesellschaftlichen Widersprüche in sich und strebt zur Synthese, will Einheit des Mannigfaltigen sein. Im Gegensatz dazu steht schließlich der verordnete Sozialistische Realismus, der nichts ist als die positive künstlerische Darstellung falschen Bewusstseins, die verkitschte Bestätigung dessen, was eh schon Lüge ist.

Kunst ist auch immer der Wunsch nach Versöhnung, dem Auflösen der Widersprüche, dem Erreichen von harmonischen Verhältnissen. Noch das disharmonischste Musikstück oder das abstoßendste Bild vermitteln den Eindruck dass es enden möge, dass die Erlösung folgen mag. Selbst wenn der Künstler dies nicht intendiert, so ergreift während des Schaffensprozesses etwas die Überhand, auf das er keinen wirklichen Einfluss mehr ausüben kann. Dieses Moment findet sich überall in wirklicher Kunst.
Doch der Versuch, die Widersprüche aufzuheben, den die russische Avantgarde durchzuführen angetreten war, musste scheitern. Das Zerren zwischen Rationalität und Emotionalität, zwischen Konkretion und Abstraktion, letztlich zwischen den Subjekten und dem unbegriffenen Zusammenhang, welchen sie blind vollziehen, lässt sich nicht mir-nichts-dir-nichts in Wohlgefallen auflösen. Der ungenügende Begriff einer Sache ließ Hoffnung aufblitzen wo Verzweiflung angebracht gewesen wäre. Der gesellschaftliche Rahmen wird in stetigen Abständen gesprengt, damit die Sprengmeister umso zufriedener sich wieder in seinen Grenzen einfinden können. Dort wo Kunst ist, muss auch immer etwas sein, das eben nicht Kunst ist, sie wäre sonst obsolet. Der profane Alltag ist ihr Gegenstück, ihre Kehrseite. Ihre Aufhebung könnte nur gelingen bei gleichzeitiger Aufhebung aller gesellschaftlichen Widersprüche, an die ihr Vorhandensein geschmiedet ist wie Prometheus an den Fels. Ihre Stärke bezieht sie eben gerade aus den gesellschaftlichen Widersprüchen. Malevitschs Quadrat, der Versuch ein völlig inhaltsloses Werk zu schaffen, welches abgekoppelt von jeglicher Historie ewige Gültigkeit beansprucht, den kühlen Geist über sinnliche Natur obsiegen lassen will und gerade darin als Kunst radikal ist, verdankt sich einem gesellschaftlichen Widerspruch par excellence: Der Trennung von Form und Inhalt.

Kunst hat heute keinen erzieherischen Auftrag mehr noch ist sie der Dorn im Fleisch des Amüsierbetriebes. Sie darf natürlich bildend wirken, kommentieren und sogar, so frei sind wir schon, kritisieren. Sie soll den einen Ablenkung sein vom tristen Alltag und den anderen Gegenstand hochnäsiger Analysen, welche nur allzu oft den gesellschaftlichen Kontext, aus dem sie entsprang, außen vor lassen. Aber vor allem soll sie eins nicht tun: sie soll sich nicht einmischen in Sphären, in denen sie nichts verloren hat. So thront sie da, die alte Dame Kunst, in Museen und Theatern, auf Werbeplakaten und Parfumfläschchen, im Bundestag und Alternativschuppen, in muffigen Wohnzimmern und hippen Jugendsendungen.

Schlaubi

Anmerkungen

(1) lat. supremus – in etwa das Höchste

(2) Am Stil erkennt man den Menschen.

(3) gute Miene zum bösen Spiel


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last modified: 25.9.2007