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Die Unterschicht-Debatte |
Anfang Oktober stieß der SPD-Vorsitzende mit dem provokativen Wort Unterschicht eine lebhafte Debatte an, an der sich Politiker aller Parteien beteiligt haben. Beck: Deutschland hat ... ein zunehmendes Problem. Manche nennen es Unterschichtenproblem(1). Andere wollen abwiegeln und auch nicht so häßliche Worte sagen, wie z.B. Müntefering: Es gibt keine Schichten in Deutschland, es gibt Menschen die es schwerer haben. Das ist nicht neu. Das hat es schon immer gegeben.(2) I. Was wurde (nicht) verhandelt? Insbesondere an Münteferings Äußerung läßt sich erkennen, worum es in der ganzen Debatte nicht ging: Die Probleme, die Menschen mit wenig Geld dabei haben, mit ihrem Leben zurechtzukommen, waren nicht Gegenstand. Deren Lebensverhältnisse wurden von Müntefering mit der Bemerkung abgetan, es sei nicht neu, dass manche Menschen schwächer seien. Damit hat er klargestellt, dass der geneigte Leser diese Schwäche für einen unverrückbaren Umstand halten solle, an dem Müntefering nichts ändern könne. Das stimmt so nicht. Unsere Behauptung: Indem Müntefering sich auf ein Nichtkönnen beruft, stellt er klar, dass er diesen Zustand nicht ändern will. Das wollen wir im folgenden Abschnitt zeigen. Warum manche Menschen schwächer sind, aus was für schwierigen Lebenslagen sie aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden, ist dem gut unterrichteten Zeitungsleser kein Geheimnis. Es geht um (Langzeit-)Arbeitslose, die vom Arbeitslosengeld II leben müssen. Arbeitslos ist für deren Lage eine irreführende Bezeichnung, denn es fehlt ihnen ja nicht an Arbeit in dem Sinne, dass sie den ganzen Tag lang nichts mit sich anzufangen wüssten. Es fehlt ihnen vielmehr an Geld, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Deswegen werden sie bei der Agentur für Arbeit vorstellig und beantragen eine Lohnersatzleistung. Arbeit und Reichtum Lohn ist offenbar etwas, auf das diese Menschen angewiesen sind, das sie nicht einfach bekommen, weil sie es brauchen. Lohn zahlt ein Unternehmer dafür, dass Menschen sich bereit finden, für ihn zu arbeiten. Auf diese Weise will er sein Eigentum vermehren. Er schießt Geld vor, um damit eine Fabrik hinzustellen, Maschinen zu kaufen, Rohstoffe zu beschaffen und Arbeitskräfte zu bezahlen(3). Diese Arbeitskräfte werkeln im Auftrag des Unternehmers in der Fabrik und stellen Produkte her. Die Produkte werden zwar von den Beschäftigten des Unternehmers produziert, gehören aber dem Unternehmer. Der Unternehmer schafft es dann sein Eigentum zu vermehren, wenn er für die Produkte mehr Geld erlöst als für ihre Herstellung vorgeschossen werden musste. Wie sieht dieses Verhältnis auf Seiten der Arbeitskräfte aus? Sie haben kein nennenswertes Eigentum(4), von dem sie in einer Welt, wo alle Lebensmittel Eigentum sind, leben könnten. Deswegen brauchen sie einen Kapitalisten, der ihnen für ihre Arbeit einen Lohn zahlt, mit dem sie ihr Leben finanzieren können. Mit diesem Lohn sind sie auch abgefunden, an den Arbeitsprodukten haben sie keine Rechte mehr. Sie sind vom Produkt ihrer Arbeit ausgeschlossen. Ihr Lohn egal wie hoch er im Einzelfall genau ist ermöglicht ihnen das Überleben für diesen Monat. Am Monatsende ist er aufgebraucht und sie müssen auch den nächsten Monat wieder arbeiten gehen. Das komplementäre Zusammenwirken von freiem Unternehmertum und bedürftigen Arbeitskräften führt so auf den beiden Seiten zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Der Unternehmer vergrößert durch die erzielten Gewinne sein Eigentum(5), der Arbeiter steht weiterhin so bedürftig da, wie er anfangs in die Fabrik gegangen ist, und muss weiter Lohnarbeit leisten, die fremdes Eigentum vermehrt. In diesem Sinne sind auch alle Lohnabhängigen arm, unabhängig davon, ob sie jetzt 1.000 oder 4.000 im Monat verdienen. Sie bleiben von den Produkten ihrer Arbeit ausgeschlossen und werden ihre Abhängigkeit von einem Arbeitgeber nicht los. Mit dieser Abhängigkeit ist auch der Grund benannt, warum eine Lohnarbeiterexistenz grundsätzlich prekär ist. Der Unternehmer zahlt den Lohn nur, wenn er erwartet, dass die hergestellten Produkte profitabel verkauft werden können. Ansonsten unterbleibt die Anwendung von Lohnarbeit und aus den Lohnarbeitern werden Arbeitslose. Dass man auf einen Arbeitsplatz angewiesen ist, heißt eben noch lange nicht, dass man auch einen bekommt. An dieser Stelle wird auch klar, warum Arbeitslosigkeit in einer Gesellschaft, in der das Privateigentum gilt, ein Problem für die davon Betroffenen ist: Der eigentumslose Teil der Bevölkerung kann nur existieren, indem er Arbeit leistet, die für andere profitabel ist, dafür erhält er einen Lohn. Fällt diese Arbeit weg, weil nicht profitabel, dann entfällt auch der Lohn als Einkommensquelle. Die staatliche Betreuung der Arbeitslosigkeit: Nun müssen die Menschen hierzulande nicht verhungern, wenn die Lohnarbeit als Einkommensquelle wegfällt. Der Staat hat ein umfangreiches System der Betreuung für solche Gestalten eingerichtet. Bevor dieses näher betrachtet wird, kann aus der Existenz einer staatlich organisierten Arbeitslosenversicherung bereits ein Schluss gezogen werden: Die Rechnungsweise des Kapitals, das Lohnarbeiter nur dann einstellt, wenn das Gewinn verspricht, stört den Staat nicht. Er schafft nicht das Privateigentum ab, auf dem die prekäre Lage der Bevölkerungsmehrheit beruht, er kümmert sich nur um dessen Folgen, z.B. die Arbeitslosigkeit. Er will also eine Produktionsweise, in der der Reichtum in privater Hand liegt und dort wächst(6). Dass es dem Staat auch bei der Betreuung der Arbeitslosen nicht um deren gutes Leben, sondern um seine eigenen Interessen geht, sieht man daran, wie er diese Betreuung ausgestaltet. Von der Arbeitskraft im Wartestand ... Wer versicherungspflichtig beschäftigt war, bekommt bei Arbeitslosigkeit zunächst für ein Jahr das Arbeitslosengeld I. Dessen Höhe bemisst sich am vorherigen Einkommen (63 % des Nettoeinkommens). Finanziert wird das ALG I über die gesetzliche Arbeitslosenversicherung. Einen Teil der Beiträge zieht der Staat direkt vom Bruttolohn ab (Arbeitnehmeranteil), den anderen schlägt er auf den Lohn als Arbeitgeberanteil auf. Die offiziellen Bezeichnungen sind in Anführungszeichen gesetzt, weil auch der sogenannte Arbeitgeberanteil der Sache nach Bestandteil des Lohns ist. Ein Unternehmer kalkuliert ja nicht mit dem zu zahlenden Bruttogehalt, sondern mit den gesamten Kosten, die ihn die Arbeitskraft kostet. Da gehören auch die Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung zu. Indem der Staat das ALG I aus den Löhnen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten finanziert, organisiert er eine Zwangssolidarität der Lohnabhängigen. Weil der Lohn so bemessen ist, dass der einzelne Arbeiter aus eigener Kraft nicht für die Arbeitslosigkeit vorsorgen kann(7), nimmt der Staat die Arbeiterklasse insgesamt dafür in Haftung, dass auch die Arbeiter, die gerade nicht benötigt werden, ein Auskommen haben. ... zum Fall der staatlichen Elendsverwaltung Wer innerhalb eines Jahres keinen neuen Arbeitsplatz gefunden hat, wird auf Arbeitslosengeld II gesetzt. Am Übergang zum ALG II sieht man, dass sich an dieser Stelle die staatliche Einschätzung des Arbeitslosen ändert. War man als ALG I-Empfänger eine temporär nicht benötigte Arbeitskraft, die sich aber Hoffnung auf Wiedereinstellung machen konnte, wird man jetzt als dauerhaft überflüssig betrachtet und dementsprechend behandelt. Für Bezieher von ALG II ist jede Arbeit zumutbar. Damit entfällt jeder Schutz der bisherigen Qualifikation, den es beim ALG I noch gibt. Auch für qualifizierte Arbeitskräfte ist nun jeder Billigjob zumutbar. Nach längerer Zeit der Beschäftigung unterhalb der ursprünglichen Qualifikation (so man denn überhaupt eine findet), ist es nur noch sehr schwer möglich, wieder im alten Beruf zu arbeiten. Schließlich hat man in der Zwischenzeit einiges an Fähigkeiten verloren bzw. neue Entwicklungen der Arbeitsmethoden nicht mitbekommen. Bei Arbeitslosen, die ohnehin abgeschrieben sind, stört das den Staat aber nicht weiter, da reicht es ihm, wenn sie seinen Kassen nicht weiter zur Last fallen. Auch an der Höhe des steuerfinanzierten ALG II zeigt sich dieser staatliche Standpunkt. Sie hängt nicht vom vorher erzielten Einkommen ab, sondern soll für alle einheitlich das Existenzminimum sichern. Dieses Existenzminimum ist nicht als physisches Existenzminum gedacht, ein gewisses Maß an staatsbürgerlicher Bildung gehört noch zu den anerkannten Bedürfnissen der Empfänger: so sollen sie sich ab und an eine Tageszeitung leisten können. Auch ein Fernseher gehört deswegen zu den anerkannten Notwendigkeiten. Dass sich Langzeitarbeitslose fortbilden und ihre Arbeitskraft damit benutzbar halten, wird hingegen nicht für allgemein erforderlich gehalten. So sind z.B. Kosten für Bücher nicht in dem Warenkorb enthalten, aus dem das ALG II berechnet wird. Diese staatliche Definition als aussichtslose Fälle sollen sich die Arbeitslosen aber nicht zu eigen machen und alle Bemühungen um Arbeit aufgeben. ALG II gibt es nur, wenn Bereitschaft zur Arbeitsaufnahme gezeigt wird. Insgesamt werden die Kosten für den Unterhalt von Arbeitslosen vom Staat als störende Notwendigkeit betrachtet und entweder auf die Gesamtheit der Lohnarbeiterschaft abgewälzt (ALG I) oder aus den eigenen Kassen möglichst sparsam getragen (ALG II). Wenn man die Unterschicht-Debatte richtig einordnen will, muss man eines festhalten: Die Arbeitslosigkeit ist kein Problem, dem der Staat wider besseres Wissen(8) und Wollen ausgeliefert ist. Zunächst richtet er mit seiner Garantie des Eigentums eine Produktionsweise ein, in der die meisten Menschen nur so lange ein Einkommen haben, wie sich ihre Beschäftigung für einen Kapitalisten lohnt. Wenn sich der Staat mit seiner ganzen Sozialpolitik immer nur an den Folgen dieses Verhältnisses abarbeitet, dann kann man davon ausgehen, dass er das zu Grunde liegende Verhältnis von privatem Reichtum und nützlicher Armut will(9). Auch die Betreuung der Arbeitslosigkeit, die der Staat auf dieser Grundlage einrichtet, zeugt an allen Ecken und Enden vom Bestreben des Staates, dieser Notwendigkeit so billig wie möglich nachzukommen. Weder will er damit seine eigenen Kassen unnötig belasten, noch dem Kapital wachstumsschädliche Kosten aufbürden. Wenn Müntefering mit seiner Feststellung, es habe immer Menschen gegeben, die schwächer seien, die Arbeitslosigkeit so bespricht wie eine unabänderliche Naturtatsache, dann muss man dieses demonstrative Nicht-Können richtig als ein Nicht-Wollen begreifen. II. Wer ist unzufrieden? Und womit? Die Debatte wurde nicht von denjenigen begonnen, die von Lohnersatzleistungen leben müssen jetzt oder möglicherweise in Zukunft. Es ist auch nicht bekannt, dass es von dieser Seite in irgendeiner Form nennenswerten Widerstand gegeben hätte. Vielmehr wurde genau das vollzogen, wofür die Unterschichtler jetzt von der Politik kritisiert werden: Sie haben sich in dem ihnen staatlich aufgemachten Elend eingerichtet. Begonnen wurde die Debatte vielmehr von den Politikern, die die Arbeitslosen (und nicht nur die) mit den Sozialreformen erst in die Lage gebracht haben, deren Folgen jetzt thematisiert wurden. Auch an dieser Stelle lässt sich bereits ein Schluss festhalten. Wenn es der Politik nicht genügt, dass sich die Leute widerstandslos mit der Armut abfinden, in die sie von der Politik gesteckt wurden, fährt diese ein reichlich anspruchsvolles Programm. Was stört die Politiker also an der Elendsverwaltung, die sie so zielstrebig und erfolgreich eingerichtet haben? Zunächst einmal stört es ganz grundsätzlich, wenn Langzeitarbeitslose resignieren. Auch wenn sie dauerhaft abgeschrieben sind, sollen sie sich für jeden Dienst, den Staat oder Kapital von ihnen verlangen könnten, bereit halten. Deswegen stört sich z.B. Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust an Arbeitslosen, die in eine apathische Alimentierungsmentalität fallen. Auch Beck monierte in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung die fehlende Hoffnung der Menschen auf sozialen Aufstieg. Dass sie auch nicht die geringste Aussicht auf einen Aufstieg haben, macht ihn an seinem Anspruch nicht irre. Die Friedrich Ebert-Stiftung hat mit ihrer Studie das Augenmerk auf ein weiteres Problem der Politik mit den hiesigen Elendsgestalten geworfen: Die Angehörigen des abgehängten Prekariats(10) wählen entweder überhaupt nicht oder falsch, nämlich Linkspartei oder NPD. Die meisten Beschwerden richteten sich aber gegen den Umgang der Unterschicht mit ihren Kindern. Die grundsätzliche Problemdefinition stammt von der Bundesfamilienminsterin Ursula von der Leyen: Die Debatte geht doch um die Familien, die oft seit Generationen von Sozialleistungen leben, in denen Bildung nichts wert ist und die isoliert leben. [...] Für diese Kinder muss der Staat ein Wächteramt übernehmen und sie von der Stunde ihrer Geburt an konsequent und lückenlos begleiten.(11) Die freie Presse ließ sich nicht lange bitten und war sofort mit dem Anschauungsmaterial zur Stelle, um die ministerielle Beschwerde mit Fallbeispielen zu illustrieren. In Bremen starb ein Kind (der kleine Kevin) an Vernachlässigung und Misshandlung. In unschöner Regelmäßigkeit werden in Tiefkühltruhen Kinderleichen gefunden(12). Leugnen lässt sich dieser Befund nicht: In den verelendeten Schichten dieser Gesellschaft kommt es zu allerhand Verwahrlosung. Dass diese Verwahrlosung die Kinder in besonderer Härte trifft, ist dabei kein Zufall. Der Staat stellt sich, indem er in seinem Grundgesetz die Kindererziehung zur Pflicht der Eltern macht(13), auf den Standpunkt, dass sie dieser Pflicht auch mit den ihnen verfügbaren finanziellen Mitteln nachkommen müssen. Nun ist es so, dass gerade diese Mittel in vielen Haushalten äußerst knapp sind. Das betrifft nicht nur die Arbeitslosen, sondern auch viele Lohnarbeiter der unteren Lohngruppen. Wenn es für ALG II-Empfänger Ende des Monats schon schwierig ist, ausreichend Essen auf den Tisch zu bringen, dann stellt z.B. die Beschaffung von Sportbekleidung die Familie vor fast unlösbare Probleme. Diese Kinder sind von allem ausgeschlossen, was an Sport, Hobbies, Ausflügen etc. nach gängigen Maßstäben zu einer normalen Kindheit gehört. Darüber hinaus sind viele Langzeitarbeitslose auch nicht in einer Verfassung, die sie zu pädagogischen Höchstleistungen beflügeln würde. Sie sind so mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, dass die Ansprüche ihrer Kinder nur noch stören. Der Schritt dazu, sie einfach zu verprügeln, wenn sie stören, und sich ansonsten nicht weiter um sie zu kümmern, ist da nur noch ein kleiner. Das alles interessiert aber die Politik nicht. An der materiellen Lage der Arbeitslosen wird nichts geändert, sie bekommen nicht mehr Mittel dafür in die Hand, um die an sie gestellten Anforderungen besser bewältigen zu können. Das einzige, was Frau von der Leyen einfiel, war die konsequente und lückenlose Begleitung der nachwachsenden Elendsgestalten, Repression statt Hilfe. All die hier angesprochenen Probleme sind nicht die Probleme der Betroffenen mit ihrem Zurechtkommen. Die Politik bespricht vielmehr ihre Probleme mit den Leuten. Da taucht die Lage der Betroffenen auch in der Debatte auf ein Geheimnis ist die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten ja nicht. Sie taucht aber immer nur als Bedingung für staatsschädliches Verhalten auf: Die Leute lassen sich hängen, wählen falsch, gleiten möglicherweise in Kleinkriminalität ab und erziehen ihre Kinder nicht ordentlich. Da nicht die Lage der Betroffenen als Problem diskutiert wird, ist auch eine Folge der Debatte klar: Mehr Geld für die Arbeitslosen gibt es definitiv nicht. Im Übrigen wird es vielleicht ein bisschen Sprachförderung für benachteiligte Schüler geben, damit das nachwachsende Menschenmaterial überhaupt für irgendetwas zu gebrauchen ist. Um die Störungen der Öffentlichen Ordnung zu unterbinden, die von der Unterschicht ausgehen könnten, braucht es mehr Polizei. Da die Aufrüstung des staatlichen Repressionsapparates ohnehin seit mehreren Jahren läuft, sind besondere Maßnahmen in diesem Sektor aber nicht angezeigt. Die wichtigsten Folgen gehen von der Debatte selbst aus. Mit ihr ist in Deutschland ein neuer Blick auf die Armut durchgesetzt worden. III. Was hat die Debatte geleistet? Als die Sozialreformen beschlossen wurden, wurde durchaus noch die Langzeitarbeitslosigkeit als zu bekämpfendes Übel besprochen. Dass 345 Euro im Monat sehr wenig sind, wurde ausführlich diskutiert. In einigen Zeitungen fanden sich auch Berichte von Menschen, die dieses Leben im Selbstversuch erprobt hatten. Mit dem Prinzip fördern und fordern sollte aber die Möglichkeit verbunden sein, sich aus dieser Lage herauszuarbeiten. Es wurde erklärt, dass diejenigen, die sich nur genügend anstrengten, auch Arbeit finden würden. Das stimmte natürlich schon damals nicht und war nur die Schuldzuweisung, mit der die Betroffenen selbst für ihre Lage verantwortlich gemacht wurden. Heute sind aber selbst solche Behauptungen in der öffentlichen Besprechung der Arbeitslosigkeit in den Hintergrund getreten. Es wird gar nicht mehr darüber diskutiert, ob und wie Arbeitslose wieder Arbeit finden können. In der Unterschicht-Debatte ging es nur noch darum, wie sie sich in ihrer Arbeitslosigkeit aufführen. Die Langzeitarbeitslosigkeit und die mit ihr verbundene materielle Armut werden über Aussagen wie der von Müntefering, dass es schon immer Leute gegeben hätte, die es schwerer haben, zu einer Art Naturzustand verklärt. An den habe man sich eben gefälligst zu gewöhnen. Damit geht eine neue Schuldzuweisung einher: Weil die Unterschichtler sich in ihrer Arbeitslosigkeit nicht wie vom Staat erwünscht verhalten, wäre die Existenz der Unterschicht ihre Schuld. Schließlich würden sie sich ja hängen lassen, Kinder verwahrlosen lassen und falsch bzw. gar nicht wählen. Sie wären also dafür verantwortlich, dass Deutschland ein Problem mit ihnen hat und das sollen sie gefälligst abstellen. Von ihrer materiellen Lage wird also völlig abstrahiert; stattdessen geht es um lauter staatsbürgerliche Ansprüche an sie, die sie auch in ihrer miesen Situation erfüllen sollen.Verarmen? Ja sicher, aber bitte mit korrekter Haltung. social critique, Leipzig social-critique@web.de Anmerkungen (1) Kurt Beck, FAZ, 8.10.06 (2) Rhein-Zeitung, 16.10.06 (3) Das gilt für ein Industrieunternehmen. Im Handel oder Bankwesen wird Geld auf etwas andere Art vermehrt, was aber an den hier dargestellten Kriterien für die Bezahlung von Arbeitskräften nichts ändert. (4) Zur Klarstellung: In Deutschland bringen Lohnarbeiter es durchaus zu Fernsehern und Autos, bisweilen sogar zu einem Eigenheim. Das ist aber kein Eigentum, das es ihnen ersparen würde, zu Lohnarbeit in die Fabrik zu stiefeln. Beim Eigentum fängt der Witz erst bei der Größenordnung an, wo man andere für sich arbeiten lassen kann. (5) Natürlich muss die Vergrößerung des Eigentums nicht in jedem Einzelfall funktionieren. Weil viele Unternehmer untereinander um den profitablen Verkauf ihrer Produkte konkurrieren, gibt es immer welche, die dabei nicht einmal ihre Produktionskosten einspielen. Wenn das einem Unternehmer über längere Zeit so geht, dann geht er bankrott und es gibt einen zusätzlichen Lohnarbeiter. (6) Das auch als Hinweis an diejenigen, denen bei den schädlichen Wirkungen des Kapitalismus als erstes immer der Apell an den Staat einfällt, doch bitte für Abhilfe zu sorgen. Dabei schafft der mit seiner Eigentumsordung doch erst die Grundlage für die beklagten Missstände. (7) Vom Standpunkt des Kapitals ist das auch sachgerecht. Lohn wird schließlich gezahlt, damit rentable Arbeit stattfindet. Das Auskommen des Arbeiters in Zeiten, wo er nicht arbeiten kann, ist nicht die Angelegenheit des Kapitalisten. (8) Dass die Langzeitarbeitslosigkeit weiter Bevölkerungsteile unter den gegebenen Verhältnissen ein unveränderliches Faktum ist, ist ja Grundlage sowohl der Sozialreformen in den letzten Jahren als auch der Unterschicht-Debatte. (9) Die Gründe dafür gehören nicht in diesen Text. An dieser Stelle soll der Hinweis darauf reichen, dass der Staat über Steuern und Staatsverschuldung vom Wachstum des privaten Reichtums profitiert. (10) Dies die soziologische Bezeichnung für Unterschicht (11) Focus, 23.10.06 (12) Alleine in Sachsen-Anhalt wurden dieses Jahr sechs tote Babies bzw. Kleinkinder entdeckt, die vermutlich von ihren Eltern getötet wurden. (13) Artikel 6 Abs. 2 GG |