Warum wir diese Ausstellung kritisieren und warum der neue, deutsche
Geschichtsdiskurs im Kern noch immer geschichtsrevisionistisch ist.
Vom 1. Dezember bis zum 15. April 2007 findet im Zeitgeschichtlichen Forum in
Leipzig die Ausstellung Flucht, Vertreibung, Integration des Bonner
Hauses der Deutschen Geschichte statt. Sie ist ein Teil der neuen deutschen
Erinnerungspolitik, die als zentrales Element die Selbstpräsentation der
Deutschen als Opfer der Geschichte enthält. Diese Sicht der Dinge gilt es
zu kritisieren.
Deutschland als Opfer, unter diesem Diktum können die deutschen
Geschichts- und Vergangenheitsdiskurse der letzten Jahrzehnte zusammengefasst
werden. Einen weiteren Beitrag zu dieser Formel liefert die Ausstellung
Flucht, Vertreibung, Integration, welche ab dem 1. Dezember im
Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig zu sehen ist. Übertroffen in ihren
Geschichtsrelativierenden und unkritischen Aussagen wird diese Ausstellung
derzeit einzig von der Schau Erzwungene Wege des Bundes der
Vertriebenen.
Wie zu erwarten war, sind die Rezeptionen zur nun in Leipzig gastierenden
Ausstellung in den deutschen Medien von FAZ bis TAZ außerordentlich
positiv, folgen sie doch der gewohnt unkritischen Auseinandersetzung mit der
deutschen Geschichte. Die so genannten Vertriebenen sind dabei ein
Paradebeispiel für die deutsche Nachkriegsgeschichte: in ihrer
Eigenansicht waren die Deutschen die Opfer von Versailles, der jüdischen
Weltverschwörung oder des Nationalsozialismus und dessen Folgen. Dieser
Mythos des Opfers wurde in den folgenden Jahrzehnten gepflegt und gedieh nur
deshalb so einzigartig, weil die Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus,
insbesondere die deutschen Verbrechen samt ihren Ursachen, relativiert oder
gleich ganz verleugnet wurden. Dieser spezifische Umgang mit der deutschen
Geschichte wurde bei jeder Gelegenheit, ob am Volkstrauertag, am 20.
Juni oder am 8. Mai manifest. So fehlt auch in dieser Ausstellung der Bezug auf
den historischen Kontext, in dem alles geschah. Es ist kein Rede davon, welche
Rolle die Volksdeutschen vor und nach der Besetzung durch die Wehrmacht
und SS spielten, keine Rede von NSDAP-nahen Parteiorganisationen wie der
Sudetendeutschen Partei unter Henlein, keine Rede von Vertreibungen der
polnischen und tschechischen Bevölkerung durch die Deutschen und auch
keine Rede von Pogromen gegenüber den jüdischen BürgerInnen kurz
vor und nach dem Einmarsch der Wehrmacht. In der Geschichtsschreibung der
Ausstellung tauchen die Ereignisse, die bspw. der Geschichtswissenschaftler
Erich Später als exemplarisch für den Zusammenhang zwischen deutscher
Volksgemeinschaft und Vernichtung ansieht, nicht auf, obwohl jene Ereignisse,
die deutschen Verbrechen erst den historischen Kontext ergeben, vor dem sich
der Nationalsozialismus und seine Folgen einschätzen lassen.
Seit Mitte der 90er Jahre kam es zu Veränderungen in den deutschen
Geschichtsdebatten. Sie waren zwar nicht mehr von Verharmlosung und Leugnung
geprägt. Die Verbrechen der Nationalsozialisten wurden durchaus benannt
und auch in ihrem historischen Kontext dargestellt. Allerdings geschah dies
unter einem besonderen Vorzeichen: die einzelnen Opfergruppen wurden in das
offizielle Gedenken integriert und damit spezifische Unterschiede verwischt.
Der II. Weltkrieg wurde fortan als europäischer Schicksalsschlag
begriffen und nicht mehr als das Vorhaben der Deutschen. Selbst wenn dabei auf
die explizit deutschen Verbrechen eingegangen wurde, diente das nur dazu, im
gleichen Atemzug und umso unverblümter die Deutschen als Opfer ihrer
eigenen Geschichte darzustellen und sich heute als selbstbewusste, weil
unvorbelastete Nation zu präsentieren. Der Umgang der Deutschen mit den
Opfern des Nationalsozialismus lässt sich exemplarisch am Diskurs um
Entschädigungszahlungen für ehemalige ZwangsarbeiterInnen oder am
Umgang mit der Suche nach NS-Kriegsverbrechern ablesen. Diese
vorbildliche Auseinandersetzung mit der Geschichte wurde
schließlich genutzt, um weltpolitisch als besonders prädestiniert
für Fragen der Menschenrechte und unterdrückter Minderheiten
aufzutreten, etwa im Falle des ersten deutschen Angriffskrieges nach 1945 in
Jugoslawien, der durch den Bezug auf Auschwitz und die deutsche
Verantwortung gerechtfertigt wurde.
All diese Spezifika deutscher Geschichtspolitik finden sich auch in dieser
Ausstellung wieder: Vertreibung wird als ein europäisches Problem
begriffen und das Hauptaugemerk auf die Vertreibung der Deutschen gelegt
und damit deutsche Geschichte und deutsche Schuld europäisiert.
Gleichzeitig werden die historischen Unterschiede und Ursachen der
verschiedenen Vertreibungen tendenziell nivelliert und damit
entkontextualisiert, ganz so, als wäre die Vertreibung aus heiterem
Himmel über die Deutschen gekommen, als gäbe es keine
Ursache-Wirkungs-Beziehung . Als seien jene, die 1933 Hitler wählten oder
sich später Henlein anschlossen, die Nationalsozialisten waren und statt
dem Widerstand das Mitmachen erwogen, auch für die späteren Folgen
ihres millionenfach mörderischen Handelns nicht selbst verantwortlich.
Für diese Ausblendung spielt gerade die Methode der oral history
eine entscheidende Rolle, weil sie historische Prozesse mit subjektiv erlebter
Geschichte verzerrt und weil sie aus einem individuellen Leiden, das die
historischen Voraussetzungen gar nicht reflektieren kann, historische Fakten
schaffen will. Auch in dieser Ausstellung sollen anhand persönlicher
Schicksale ,die wohl mit gutem Grund ganz am Ende gezeigt werden , die
Leidenswege der Deutschen exemplarisch nachgezeichnet und damit
Emotionen an Stelle historischer Fakten gesetzt werden.
Unterstützt wurde und wird diese Entwicklung von den unzähligen
Vertriebenenverbänden die sich in der Charta der Vertriebenen
bereits 1950 ein zweifelhaftes Grundsatzprogramm gaben, denn nicht
zufällig handelte es sich bei einem Teil der unterzeichnenden
Funktionäre um ehemalige NSDAP- und SS-Mitglieder, die teils selbst an den
Verbrechen der Deutschen beteiligt waren. Die Ausstellung Flucht,
Vertreibung, Integration steht für das daraus erwachsene, neue,
Geschichtsbild in Deutschland. In ihrer Konzeption fördert die Ausstellung
nun mit ähnlichen Argumenten und derselben revisionistischen Funktion den
gleichen laufenden geschichtspolitischen Diskurs, der als Quintessenz ein
geplantes Zentrum gegen Vertreibungen hervorbringen soll. Wenn jedoch,
wie in dieser Ausstellung, das 20. Jahrhundert als das Jahrhundert der
Vertreibungen bezeichnet und damit die Deutschen zu den eigentlichen Opfern
der Geschichte werden, so ist den AusstellungsmacherInnen und ihren
BesucherInnen entgegenzuhalten: Das 20. Jahrhundert war und bleibt das
Jahrhundert des größten Menschheitsverbrechens, der Shoah, und es
wurde von den Deutschen begangen.
Mit einer ausführlichen Kritik dieser Ausstellung, des
geschichtspolitischen Diskurses in der BRD und der Rolle der sog.
Vertriebenenverbände werden sich im Frühjahr des Jahres 2007
Veranstaltungen der Leipziger Antifagruppe [Lea] beschäftigen. Wem noch
etwas an einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihrer
Kontinuität in Deutschland liegt und wem es nicht zuletzt um die
historischen Fakten geht, ist dazu herzlich eingeladen.
Anmerkung: Wir setzen in diesem Text die Begriffe Vertreibung und
Vertriebene bewusst in Anführungszeichen. Erstens, weil sie im
geschichtspolitischen Diskurs, den wir zu kritisieren suchen, als Kampfbegriffe
auftauchen. Und zweitens, weil sie zur Beliebigkeit tendieren und ihr
alltagssprachlicher Gebrauch den ganzen historischen Kontext vergessen macht.
|