home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt
[139][<<][>>]

Der im folgenden dokumentierte Text wurde von der Leipziger Antifagruppe (LeA) geschrieben und als Flugblatt an Besucher der Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ verteilt. Die Red.
dokumentation, 1.1k

german lessons in history

Warum wir diese Ausstellung kritisieren und warum der neue, deutsche Geschichtsdiskurs im Kern noch immer geschichtsrevisionistisch ist.

Vom 1. Dezember bis zum 15. April 2007 findet im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ des Bonner Hauses der Deutschen Geschichte statt. Sie ist ein Teil der neuen deutschen Erinnerungspolitik, die als zentrales Element die Selbstpräsentation der Deutschen als Opfer der Geschichte enthält. Diese Sicht der Dinge gilt es zu kritisieren.
Deutschland als Opfer, unter diesem Diktum können die deutschen Geschichts- und Vergangenheitsdiskurse der letzten Jahrzehnte zusammengefasst werden. Einen weiteren Beitrag zu dieser Formel liefert die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“, welche ab dem 1. Dezember im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig zu sehen ist. Übertroffen in ihren Geschichtsrelativierenden und unkritischen Aussagen wird diese Ausstellung derzeit einzig von der Schau „Erzwungene Wege“ des Bundes der Vertriebenen.
Wie zu erwarten war, sind die Rezeptionen zur nun in Leipzig gastierenden Ausstellung in den deutschen Medien von FAZ bis TAZ außerordentlich positiv, folgen sie doch der gewohnt unkritischen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte. Die so genannten „Vertriebenen“ sind dabei ein Paradebeispiel für die deutsche Nachkriegsgeschichte: in ihrer Eigenansicht waren die Deutschen die Opfer von Versailles, der jüdischen Weltverschwörung oder des Nationalsozialismus und dessen Folgen. Dieser Werbung La-Fru-Sta, 14.6k Mythos des Opfers wurde in den folgenden Jahrzehnten gepflegt und gedieh nur deshalb so einzigartig, weil die Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus, insbesondere die deutschen Verbrechen samt ihren Ursachen, relativiert oder gleich ganz verleugnet wurden. Dieser spezifische Umgang mit der deutschen Geschichte wurde bei jeder Gelegenheit, ob am „Volkstrauertag“, am 20. Juni oder am 8. Mai manifest. So fehlt auch in dieser Ausstellung der Bezug auf den historischen Kontext, in dem alles geschah. Es ist kein Rede davon, welche Rolle die „Volksdeutschen“ vor und nach der Besetzung durch die Wehrmacht und SS spielten, keine Rede von NSDAP-nahen Parteiorganisationen wie der Sudetendeutschen Partei unter Henlein, keine Rede von Vertreibungen der polnischen und tschechischen Bevölkerung durch die Deutschen und auch keine Rede von Pogromen gegenüber den jüdischen BürgerInnen kurz vor und nach dem Einmarsch der Wehrmacht. In der Geschichtsschreibung der Ausstellung tauchen die Ereignisse, die bspw. der Geschichtswissenschaftler Erich Später als exemplarisch für den Zusammenhang zwischen deutscher Volksgemeinschaft und Vernichtung ansieht, nicht auf, obwohl jene Ereignisse, die deutschen Verbrechen erst den historischen Kontext ergeben, vor dem sich der Nationalsozialismus und seine Folgen einschätzen lassen.
Seit Mitte der 90er Jahre kam es zu Veränderungen in den deutschen Geschichtsdebatten. Sie waren zwar nicht mehr von Verharmlosung und Leugnung geprägt. Die Verbrechen der Nationalsozialisten wurden durchaus benannt und auch in ihrem historischen Kontext dargestellt. Allerdings geschah dies unter einem besonderen Vorzeichen: die einzelnen Opfergruppen wurden in das offizielle Gedenken integriert und damit spezifische Unterschiede verwischt. Der II. Weltkrieg wurde fortan als „europäischer Schicksalsschlag“ begriffen und nicht mehr als das Vorhaben der Deutschen. Selbst wenn dabei auf die explizit deutschen Verbrechen eingegangen wurde, diente das nur dazu, im gleichen Atemzug und umso unverblümter die Deutschen als Opfer ihrer eigenen Geschichte darzustellen und sich heute als selbstbewusste, weil unvorbelastete Nation zu präsentieren. Der Umgang der Deutschen mit den Opfern des Nationalsozialismus lässt sich exemplarisch am Diskurs um Entschädigungszahlungen für ehemalige ZwangsarbeiterInnen oder am Umgang mit der Suche nach NS-Kriegsverbrechern ablesen. Diese „vorbildliche Auseinandersetzung“ mit der Geschichte wurde schließlich genutzt, um weltpolitisch als besonders prädestiniert für Fragen der Menschenrechte und unterdrückter Minderheiten aufzutreten, etwa im Falle des ersten deutschen Angriffskrieges nach 1945 in Jugoslawien, der durch den Bezug auf Auschwitz und die „deutsche Verantwortung“ gerechtfertigt wurde.
All diese Spezifika deutscher Geschichtspolitik finden sich auch in dieser Ausstellung wieder: „Vertreibung“ wird als ein europäisches Problem begriffen und das Hauptaugemerk auf die „Vertreibung der Deutschen“ gelegt und damit deutsche Geschichte und deutsche Schuld europäisiert. Gleichzeitig werden die historischen Unterschiede und Ursachen der verschiedenen „Vertreibungen“ tendenziell nivelliert und damit entkontextualisiert, ganz so, als wäre die „Vertreibung“ aus heiterem Himmel über die Deutschen gekommen, als gäbe es keine Ursache-Wirkungs-Beziehung . Als seien jene, die 1933 Hitler wählten oder sich später Henlein anschlossen, die Nationalsozialisten waren und statt dem Widerstand das Mitmachen erwogen, auch für die späteren Folgen ihres millionenfach mörderischen Handelns nicht selbst verantwortlich.
Für diese Ausblendung spielt gerade die Methode der „oral history“ eine entscheidende Rolle, weil sie historische Prozesse mit subjektiv erlebter Geschichte verzerrt und weil sie aus einem individuellen Leiden, das die historischen Voraussetzungen gar nicht reflektieren kann, historische Fakten schaffen will. Auch in dieser Ausstellung sollen anhand persönlicher Schicksale ,die wohl mit gutem Grund ganz am Ende gezeigt werden , die „Leidenswege“ der Deutschen exemplarisch nachgezeichnet und damit Emotionen an Stelle historischer Fakten gesetzt werden.
Unterstützt wurde und wird diese Entwicklung von den unzähligen Vertriebenenverbänden die sich in der „Charta der Vertriebenen“ bereits 1950 ein zweifelhaftes Grundsatzprogramm gaben, denn nicht zufällig handelte es sich bei einem Teil der unterzeichnenden Funktionäre um ehemalige NSDAP- und SS-Mitglieder, die teils selbst an den Verbrechen der Deutschen beteiligt waren. Die Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“ steht für das daraus erwachsene, neue, Geschichtsbild in Deutschland. In ihrer Konzeption fördert die Ausstellung nun mit ähnlichen Argumenten und derselben revisionistischen Funktion den gleichen laufenden geschichtspolitischen Diskurs, der als Quintessenz ein geplantes „Zentrum gegen Vertreibungen“ hervorbringen soll. Wenn jedoch, wie in dieser Ausstellung, das 20. Jahrhundert als „das Jahrhundert der Vertreibungen“ bezeichnet und damit die Deutschen zu den eigentlichen Opfern der Geschichte werden, so ist den AusstellungsmacherInnen und ihren BesucherInnen entgegenzuhalten: Das 20. Jahrhundert war und bleibt das Jahrhundert des größten Menschheitsverbrechens, der Shoah, und es wurde von den Deutschen begangen.
Mit einer ausführlichen Kritik dieser Ausstellung, des geschichtspolitischen Diskurses in der BRD und der Rolle der sog. Vertriebenenverbände werden sich im Frühjahr des Jahres 2007 Veranstaltungen der Leipziger Antifagruppe [Lea] beschäftigen. Wem noch etwas an einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihrer Kontinuität in Deutschland liegt und wem es nicht zuletzt um die historischen Fakten geht, ist dazu herzlich eingeladen.

Anmerkung: Wir setzen in diesem Text die Begriffe „Vertreibung“ und „Vertriebene“ bewusst in Anführungszeichen. Erstens, weil sie im geschichtspolitischen Diskurs, den wir zu kritisieren suchen, als Kampfbegriffe auftauchen. Und zweitens, weil sie zur Beliebigkeit tendieren und ihr alltagssprachlicher Gebrauch den ganzen historischen Kontext vergessen macht.

home | aktuell | archiv | newsflyer | radio | kontakt |
[139][<<][>>][top]

last modified: 28.3.2007