Gegenkultur als Grundlage von Innovation und Veränderung
Soziokultur versus Hochkultur
Soziokultur als Begrifflichkeit hat seine Wurzel in der Tradition der 68er sozialen Bewegung der Bundesrepublik. Die Begriffsbestimmung funktioniert ohne existentielle Brüche bis heute.
Jedoch sieht sich die Soziokultur durch den Anschluß der DDR an die BRD einer Begriffsdehnung ausgesetzt, die berechtigtermaßen von der West-Soziokultur als eigenständiges Ost-Vehikel verstanden wird.
Im Vorwort zur Publikation „Soziokultur in Sachsen“ stellen die 3 sächsischen Minister,
Dr.Hans Geisler (Soziales, Gesundheit und Familie), Friedbert Groß (Kultus), Pro.Dr.Hans
Joachim Meyer (Wissenschaft und Kunst) fest: „Als Oberbegriff für sozialkulturelle Betätigung,
die von Gruppen oder einzelnen Bürgern getragen wird, hat sich der Terminus Soziokultur
eingebürgert.“ Genau da aber liegt der Knackpunkt. Der Ost-Begriff von Soziokultur
hat sich also irgendwie „eingebürgert“. Er macht es möglich, daß sich in einem
undifferenzierten Verhältnisbrei alle, die dies wollen, darunter versammeln können.
Dieses Sammelsurium jedoch, bedeutet eine Rückgratlosigkeit, die Soziokultur zu einem hin-und
hergerissenem Instrumentarium jeglicher coleur macht, ohne das Profil des Begriffes bewußt
in Abgrenzung und Einschränkung perspektivisch wachsen lassen zu können.
In dem Arbeitsprogramm der LAG Soziokultureller Zentren und Initiativen Sachsen e.V. findet sich
zum Profil soziokultureller Einrichtungen in Sachsen folgende Feststellung: „Soziokulturelle
Einrichtungen sind nach ihrem Selbstverständnis Häuser, in denen eine Angebotsstruktur
besteht, die verschiedene traditionelle Sparten und Rezeptionsformen einschließt...Typisch
für die neuen Bundesländer ist es, daß soziokulturelle Zentren Aufgaben erfüllen,
die in den alten Bundesländern von den Verbänden der Wohlfahrtspflege oder
von Jugendorganisationen abgedeckt werden.“ Wenn die LAG in ihrem Arbeitsprogramm weiterhin
einschätzt, daß die sogenannte „repräsentative Kultur“ -was nichts anderes als
Hochkultur meint- ihre Basis größtenteils in den 18. und 19.Jahrhunderten hat und gleichzeitig
meint, diesen antiquierten Status durch „Zusammenarbeit mit den verantwortlichen Stellen
des Landes, insbesondere des Sächsischen Staatsministerien“ aufheben zu können,
irrt sie. An anderer Stelle nämlich stellt sie selbst fest: „Die LAG soll eine Vertretung
GEGENÜBER der Landespolitik“ sein.
Es ist also auch praktisch ein Widerspruch in der Arbeit der LAG zu konstatieren, der einen
Grauzonenzustand schafft. Auf der einen Seite die LAG als Interventionslobby- auf der anderen Seite
als verlängerter Arm der Ministerien, der von denselben immer wieder zu Kompromissen
genötigt wird.
Zur Begründung des Kulturentwicklungsplanes für Leipzig stellt der Kulturbeigeordnete
Dr.Girardet fest: „In Leipzig stehen sich Hoch- und Basiskultur nicht so isoliert gegenüber,
wie in manchen anderen Städten. Vielmehr gibt es ein bemerkenswertes Engagement der
großen Häuser auch für die wichtigen Bereiche der freien Szene in ganz unterschiedlichen
Formen.“ Damit beschreibt Girardet ganz bewußt den status quo, wie er bezeichnend
ist für den Stellenwert der Soziokultur in Sachsen. Im selben Atemzug subsumiert er gleichmal
1 300 Vereine, die sich seit der sogenannten Wende in Leipzig gegründet haben, unter den
Begriff Soziokultur. Und, er findet es „bewundernswert“, auf was er da „in Leipzig immer wieder
trifft: Zähigkeit, Improvisationsbereitschaft und -fähigkeit, auch Bescheidenheit,
Bereitschaft zur Selbstausbeutung und Solidarität.“
Nun ist es Tatsache, daß sich viele Vereine, die sich in Leipzig als soziokulturell bezeichnen,
für diese Einschätzung auch noch mit einer Art Kniefall bedanken. Das jedoch
bedeutet, den Bittstellerstatus als Anhängsel der Hochkultur -oder, wie Girardet meint,
die Nicht-Isolation zwischen „großen Häusern“ und der Soziokultur, als perspektivisch
festgeschrieben und unveränderbar anzusehen.
Im Gegensatz zur positiven Bezugnahme auf das Spezifikum Ost-Soziokultur, das in der Bestandsaufnahme
Soziokultur Sachsen wie folgt dargestellt wird: „Berührungsängste gegenüber
herkömmlichen bürgernahen Kulturvereinen oder Freizeitzirkeln kennt die Soziokultur
Ost ebensowenig“, halten wir diesen Zustand für eine zu verändernde Situation, mit
dem Ziel, die ebenfalls in der Bestandsaufnahme konstatierte „vorübergehende Stellvertreteraufgabe“
in Bezug auf Jugend- und Altenpflege, zu einem Sammelbecken für gesellschaftliche
Gruppen mit einem nicht oder schwach ausgeprägten emanzipativen Status zu überführen
und unter dem Begriff Soziokultur zu vereinen. Angefangen bei den bestehenden und sich
entwickelnden Subkulturen, Schwulen und Lesben, Migranten, Frauen, Alten u.s.f. Ihnen gilt es,
durch die Selbstdefinition soziokultureller Zentren als eben Soziale Zentren, die Möglichkeit
einer Selbst-artikulation und -findung einzuräumen. Jedoch bedeutet diese Definition
den Ausschluß und die Abgrenzung gegenüber Massen- und Hochkultur, die, abstrahiert
betrachtet, immer staatstragend ist. Somit ist also festgestellt, daß sich soziokulturelle
Zentren nach unserem Verständnis immer im gegenkulturellen Kontext bewegen müssen.
Und so ließe sich auch die Frage, die in den „Thesen Soziokultur“ des Leipziger Kulturamtes
-ja, man staune- gestellt wurde ( „Liegt die spezifische Alltagskultur nicht verstärkt
in der Entwicklung eines positiven Gegenentwurfes?“) positiv beantworten und die im selben
Atemzug vorgenommene Festellung: „Förderung wird Prioritäten setzen müssen, die
überall dort liegen, wo Innovation konzeptionell verankert ist.“ -damit untermauern.
Auch wenn sich die Ost-Soziokultur auf die Spezifik ihrer Historie beruft, muß sie endlich
begreifen, daß die Begriffsbesetzung einer um viele Jahre länger existenten West-Soziokultur
von ihr nicht verschoben werden kann. Die administrative Struktur der Bundesrepublik
wurde dem Osten übergestülpt und damit auch die Historie und Begrifflichkeit von
Soziokultur. An diesem Punkt etwas revolutionieren zu wollen, ist eher lächerlich und hilflos.
Und genau dieser Tatsache muß Rechnung getragen werden. Ein ominöses Sammelsurium,
wie weiter oben näher kritisiert, führt zu einer Interventionsunfähigkeit und
zur Degradierung als kulturelle Randerscheiung.
So suspekt dies auch klingen mag, der Herr Dr.Wilhelm Wummer aus dem Bundesministerium des Innern hat mehr begriffen, als mancher Soziokulturverfechter im Osten: „Der Vater der Soziokultur ist der Protest, ihre Mutter die Utopie.“
Wir wollen euch an dieser Stelle noch einige Essentials zur Perspektive soziokultureller Zentren
mit auf den Weg geben. Sie sind der Publikation „Soziokulturelle Zentren- Stadterneuerung
von unten“(herausgegeben von der Bundesvereinigung soziokultureller Zentren, 1993) entnommen:
- Soziokulturelle Zentren geben ein wichtiges gesellschaftliches Signal für einen möglichen „dritten Weg“. Es sind Einrichtungen, die weder städtisch verwaltet (parteipolitisch kontrolliert) noch kommerziell orientiert sind.
- Sie sind ein „anderer Ort“, ein Ort der Gegensozialisation, insbesondere für Kinder und Jugendliche.
- Sie fördern und stärken die lokalen Szenen der selbstorganisierten Initiativen und Projekte und sind damit ein Fixpunkt in den örtlichen Bewegungsmilieus.
- Sie sind Netzwerke und wichtige „Knoten“ in Vernetzungen
- Sie stehen für eine „andere“ Kulturpolitik und sind (auch) ein Ort für widerspenstige, sich „sperrende“ Kunst.
- Sie sind ein Forum für den Diskurs über gesellschaftliche Fragen und für die Entwicklung innovativer Problemlösungen, sie sind „Pfadfinder in der neuen Unübersichtlichkeit“
- Sie sind ein Forum für Opposition gegen die herrschende Politik der Parteien und die von ihnen primär vertretenen Interessen
- Sie schaffen über die Förderung von „Eigenaktivität“ (der Betroffenen) bessere Voraussetzungen für neue Formen der Partizipation an kommunaler Politik.
- Sie heben das kulturelle Image der Städte und sind ein positiver Standortfaktor.
Papier aus dem Kreis des Conne Island Leipzig, den 26.Mai, 1995
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