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Hoch-Kultur, 1.6k

Die konsequente Provokation...


...des Geistes war das künstlerische Programm der Surrealisten. Nicht an Interpretation war ihnen gelegen, sondern vielmehr an dem Infragestellen der eigenen Denkstrukturen. Dieser zweite Teil beschäftigt sich mit ihrem künstlerischen Konzept als Ausdruck einer radikalen Gesellschaftskritik. (Teil 2)

    „Wo liegen die Voraussetzungen der Revolution? In der Änderung der Gesinnung oder der äußeren Verhältnisse? Das ist die Kardinalfrage, die das Verhältnis von Politik und Moral bestimmt und die keine Vertuschung zulässt. Der Sürrealismus ist ihrer kommunistischen Beantwortung immer näher gekommen. Und das bedeutet: Pessimismus auf der ganzen Linie. Jawohl und durchaus. Misstrauen in das Geschick der Literatur, Misstrauen in das Geschick der Freiheit, Misstrauen in das Geschick der europäischen Menschheit, vor allem aber Misstrauen, Misstrauen und Misstrauen in alle Verständigung: zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, zwischen den Einzelnen. Und unbegrenztes Vertrauen allein in I.G. Farben und die friedliche Vervollkommnung der Luftwaffe.“
    (Walter Benjamin, Der Sürrealismus)
Grabschrift für einen Dichter

Er wollte singen, singen,
um zu vergessen
sein wahres Leben aus Lügen
und sich zu erinnern
an sein erlogenes Leben voll Wahrheit.

(Octavio Paz, Gedichte)
Surrealismus, das meint erst einmal immer eine Art „Über-Realität“, eine Realität die in der objektiv gegeben Welt nicht einfach sich verzeichnen lässt und dennoch inmitten des Gegebenen sich vollzieht. Dieses „Über“ ist ebenso bezeichnend für die verwirklichte Kunst der Surrealisten, eine, die sich abhebt von der bis dato vorgefundenen, welche in formalästhetischen Normen und bewussten Formgebungen sich abspielte.
„Die künstlerische Objektivität hängt davon ab, dass die Kunst frei von jedem festgelegten Ideen- und Formenkreis auftreten kann.“ (Andre Breton, Der politische Standort der heutigen Kunst)
Einleitend wäre noch ein Satz von großem Interesse, welchen Benjamin in „Der Sürrealismus“ niederschrieb: „Im Glashaus zu leben ist eine revolutionäre Tugend par excellence.“ Vor allem anderen ist hier das geistige gemeint, Denken solle offengelegt, nichts vor sich selbst oder anderen verborgen bleiben, was den Geist in Unruh zwingt. Gesagt sei dies jenen, die allzu gerne nur Diskussionen scheuen, um sich die Einsicht in die eigenen Unzulänglichkeiten zu ersparen.
Die Surrealisten fanden in ihrer Zeit den Abschnitt einer Epoche vor, welcher von angeblich moralischen integeren, fest verankerten Werten nur so strotzte. Diesen Werten sahen sie sich unversöhnlich gegenüber gestellt und schlussfolgernd wollten sie jegliche Moral dieser Gesellschaft, welche für sie eine zutiefst falsche darstellte, über Bord werfen.
„Dieses Gute-und-Schöne, das den Begriffen von Eigentum, Familie, Religion und Vaterland unterliegt, ist es, was wir am meisten bekämpfen. [...] Die wahre Poesie ist enthalten in allem, was den Menschen befreit von jenem entsetzlichen Besitz [...] Sie ist in dem Werk von Sade, von Marx oder Freud.“ (Paul Éluard, Die poetische Evidenz)
Das Ziel jedoch war nicht etwa, entgegen weitläufiger Behauptungen, ohne jegliche Moral ein Dasein zu fristen. Vielmehr sollte eine neue, den Menschen noch unbekannte, die alte ersetzen. Eine Moral des wahrhaft menschlichen, des Schönen und Befreiten, etwas unter dem Diktat der Totalität schier unmöglich zu denkendes. Kunst und Lebenspraxis bildeten für die Surrealisten seit je eine dynamische, voneinander abgespaltene Einheit. Auseinandergedacht nur in dem objektiven Wahrheitsanspruch der bürgerlichen Gesellschaft, die jedoch gleichzeitig beide Prinzipien in sich einschließt.
Die künstlerische Praxis, gleichend einer Anleitung zum gesellschaftlichen Leben, entstand nicht von heute auf morgen, sie war Produkt verschiedenster Einflüsse. Der Positivismus, welcher die Literatur der Realisten etwa, durchzog, war nicht gerade Sache der Surrealisten. So verblieb er seit je an der Oberfläche, ohne diese aufzubrechen und das Gebilde, welches sie trägt, zu erfassen. Er erläuterte zwar, teilweise kritisch, die objektiven Gegebenheiten, verblieb jedoch jener Rationalität verhaftet, die alles was in ihren Begrifflichkeiten nicht aufzugehen vermag, als Unwahres verdammt. Schon eher interessant war die Romantik mit bspw. ihren phantastischen Romanen, in welchen die Rationalität in Frage gestellt und Zustände wie etwa Rausch oder Traum an Bedeutung gewannen, somit Irrationalität als divergierendes Prinzip des menschlichen Geistes verankert wurde. Verdrängtes Grauen und sehnlichste Wünsche wurden, meist in Metaphern, Dreh- und Angelpunkt besagter Literatur, zu welcher Breton meinte, sie sei „die Rache des Lustprinzips am Realitätsprinzip“. Des weiteren war der Einfluss Nietzsches mit Sicherheit kein geringer, welcher mit seiner radikalen Kritik des rationalen Denkens auf ewig verankert scheinende Barrieren brach. Seine scharfen Polemiken gegen den „Willen zur Wahrheit“ können durchaus als Fundament gedacht werden, auf dem die Surrealisten ihre Theorien errichteten. Seiner Auffassung nach richte das Denken die Welt, in der es wirkungsmächtig sich sieht, nach seinen Vorstellungen ein, zwängt sie in Begriffe, welche Wahrheit zu sein scheinen. Diese Wahrheiten jedoch sind durch das Denken hindurch gewordene, also keine natürlich feststehenden, sondern vielmehr erdachte. Einen wichtigen Bestandteil des surrealistischen Konzeptes machte die Psychoanalyse Sigmund Freuds aus, doch dazu ausführlicheres im nächsten Teil.
„Im Maße, wie der Tag mich vom nächtlichen Traum entfernt, wobei der Zustand, der aus ihm rührt, sich verflüchtigt, bin ich, um ihn wieder zu schaffen, gezwungen, einer großen Zahl von Bildern, von Worten nachzulaufen. So entsteht diese Versuchung zur Kunst.“ (René Crevel, Der Schlaf. Ich weiß nicht wie man zerschneidet)
„Surrealismus, Subst., m. – Reiner, psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich, oder auf jede andere Weise den Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.“ (Andre Breton, Erstes Manifest des Surrealismus)
Die Intention bestand vor allem darin, die Phantasie, welche sie dem Kinde zuschrieben, und die während des schmerzlichen Sozialisierungsprozesses verlorengegangen war, aus den Tiefen des Kerkers der eigenen Vergangenheit heraufzuholen, um die Ketten des durchrationalisierten Denkens aufzusprengen. Das bewusste Ich als Ausdruck des bürgerlichen Subjekts, das Über-Ich als bürgerlich-moralische Kontrollinstanz, sollten keinen Einfluss ausüben können auf den Prozess der künstlerischen Verwirklichung, welche ein Produkt des rein Unbewussten, des Es, darstellen sollte. Das Feuer der Emanzipation sahen sie lodern inmitten eines Zustandes der Heilung, in welchen das surrealistische Kunstwerk den Rezipienten befördern sollte. Das gezeigte Verdrängte sollte provozieren und Assoziationen mit dem eigenen Verdrängten ermöglichen, welche dazu führen sollten, in eine Auseinandersetzung mit eben jenem zu treten. Ein Erfassen, vielmehr ein Erahnen, des Kunstwerkes sollte praktisch mit der Infragestellung des eigenen Selbst in eins fallen, verschmelzen um zu explodieren und gestärkt daraus hervorgehen zu können, die als wahr geglaubten Wahrheiten aufzulösen. Die Differenz zwischen dem Reich eigener menschlicher Notwendigkeit und dem verdrängten der natürlichen Notwendigkeit, sollte in den Mittelpunkt der Interpretation des eigenen gesellschaftlichen Seins fallen, um schlussendlich beide vor den Traualtar der Versöhnung zu führen.
Wenn Duchamp davon spricht, dass der „Rezipient [...] zur Hälfte am schöpferischen Akt teil(nimmt)“, meint er eben jenes Ineinanderfließen von Werk und Rezipient, von Kunst und Gesellschaft, dass die Surrealisten beabsichtigten. Die ach so übliche einseitige Konsumentenhaltung der Rezipienten wird bitter enttäuscht, das Verlangen nach einem vorgegebenen ersichtlichen Sinn nicht erfüllt, dennoch Anregung genug geboten, um es, das Kunstwerk, weiterzudenken. Nur durch Beflügelung der eigenen Phantasie, dem Loslassen von Rationalität und wissenschaftlichem Interpretationswahn, wie er eben im Positivismus zu Hause ist, öffnen sich die Pforten des Surrealismus. Das Vorhandene ist nur die Hälfte, welche zu Ende gedacht und erahnt werden will, darin liegt die ganze Kraft, der unkontrolliert zuckende poetische Funken des Surrealismus. Die Trennung von Künstler und Rezipient, von Kunstwerk und Lebenspraxis aufzuheben, ist somit Grundbestimmung ihres Wirkens. Lautrémont schrieb dereinst „Die Kunst müsse von allen gemacht werden. Nicht von einem.“ Dem konnten sich die Surrealisten vorbehaltlos anschließen. Der Sonderstatus, welchen die Kunst in der bürgerlichen Gesellschaft genießt, sollte seiner Berechtigung enthoben, die Kunst in das gesamtgesellschaftliche Leben integriert werden. In allen Menschen sollte nun die Poesie wirken, welche bislang dem Künstler vorbehalten blieb. Poesie und Alltag galt es zusammenzuführen, ohne einen der beiden Bereiche hervorzuheben.
„Der Künstler seinerseits beginnt damit, der Persönlichkeit abzuschwören, auf die er bisher so eifrig bedacht war. Ganz unverhofft sieht er sich im Besitz des Schlüssels zu einem Schatz, [...] dieser Schatz ist nichts anderes als der kollektive Schatz.“ (Breton, L’amour fou)
Doch kommen wir zur praktischen Konzeption der surrealistischen Kunst, wobei ich mit Dalis „Kritischer Paranoia“ einsteigen möchte, hierbei sei vorweg die Trennung zwischen Dali und den Surrealisten in den 30er Jahren erwähnt, nachdem er offen seine Bewunderung für Hitler aussprach. Paranoia beschreibt eine Geisteskrankheit infolge derer der Befallene sich selbst als absolut sieht und davon ausgehend ein komplexes, in sich geschlossenes, Wahnsystem erdenkt, welches er der äußeren Welt gegenüberstellt. Erscheinungen dieser ihm äußerlich scheinenden Welt werden neu interpretiert und in das Wahnsystem eingefügt, dass oftmals auch durch Halluzinationen angereichert wird. Die äußerlich scheinende Welt dient also dem Erstellen eines eigenen Bezugssystems, welches untermauert und veranschaulicht wird durch den Bezug zur anders wahrgenommenen Realität. Man könne nun, so Dali, eine „kritische und systematische Objektivierung (etwa: von subjektiven, emotionalen Einflüssen befreien, es einer objektiven Sichtweise aussetzten, Anm.d.A.) wahnhafter Assoziationen und Interpretationen“ vornehmen, also das Irrationale zu Tage treten lassen, um es zu erfassen. Der Automatismus (etwa: spontan ablaufender Vorgang, welcher nicht vom Willen beeinflusst ist) wird von ihnen (den Surrealisten) als ein Zustand betrachtet, in welchem größtmögliche Passivität des bewussten Geistes garantiert wird. Diesen Umstand des Geistes zu erreichen ist jedoch nicht eigentliches Ziel der Surrealisten, wollten sie doch eben jenes Unbewusste, das dort zu Tage tritt, in die wirkliche Welt transferieren, um es eben auch kritisch wahrnehmen und mit der Gesellschaft in eins denken zu können. Die kritische Paranoia sollte demnach systematisch das Unbewusste herüberholen, auf dass die Menschen sich an seiner Darstellung stoßen mochten. Dem surrealistischen Gegenstand wird somit die Bahn geebnet.
„Der Surrealismus will den alten Gegensatz zwischen dem Ich und der Welt, dem Innen und Außen aufheben, indem er Dinge schafft, die innen und außen zugleich sind.“ (Octavio Paz, Der Surrealismus)
In der Praxis stellte sich das so dar, dass ein Ding, ein Gegenstand, seinem eigentlichen Sinn, seiner ursprünglichen Bestimmung entrissen und in einen völlig neuen sinnlichen Zusammenhang überführt wurde. Es könne auch ein Gegenstand ohne jeglichen objektiven Zweck geschaffen werden und nur seinem Produzenten Freude an ihm gestatten. Dadurch würde ihm Einmaligkeit zukommen, eine Einmaligkeit die besonders ist, eben weil sie in der objektiv rationalen Wahrnehmung nicht aufzugehen vermag. Stell dir vor, du wandelst entlang der Seite eines Menschen, jemand, den du um nichts in der Welt verlieren möchtest, über einen kometenen Schweif von sternengleichem Sand. Das jungfräulich blutige Abendrot hüllt das Szenario in nicht zu bereuende Wollust und legt sanft sich um eure sensibel gesponnenen Körper, die jegliches Gefühl von Reue lang schon hinter sich ließen. Ihr geht auf in der fließenden Wärme des unbestimmbaren Bodens, der mit zunehmendem Moment sich verflüchtigt, seichte, kaum merkliche Wellen spielen die Gesänge des Glücks empor eurer in Schwebe verharrenden Körper. Ein jegliches, mit Bedeutung sinnlos gefülltes, Gefühl tut hier sein innerstes Geheimnis kund, offenbarend ein anderes Universum des Zustands, ein Universum der unbeschränkten Sinnlichkeit. Die dir so vertraute Person erstreckt ihre Finger entlang des Firmaments, greift einen der Sterne, ihn dir überreichend. Dieser Stern ist nichts als ein ordinärer Stein. Sorry, aber dieser Abschnitt sollte nur der Verdeutlichung dienen, dass du diesen einfachen Stein mit ziemlicher Sicherheit nie wieder hergeben wirst, obwohl es noch tausend andere gibt, die ihm gleichen mögen. Dieser Stein bildet die Verdinglichung eines Gefühls, eines Moments, einer Gewissheit. Doch so romantisch, mit einem gewissen Hang zum Kitsch als Vermittelndes, müssen die Umstände sich nicht darstellen, bspw. kannst du auch in einem Geschäft irgendein Kinkerlitzchen kaufen, weshalb jeder dich mit Sicherheit auslachen wird, doch für dich kann es unglaublich bedeutsam sein, ohne auch nur den Hauch von objektivem Sinn vorzuweisen. Interessant etwa auch Kuscheltiere, welche zum Teil bis ins hohe Alter nicht in irgendeiner Ramschkiste landen, sondern neben dem Kopfkissen verweilen. Die Surrealisten nun wollten solch Gegenstände schaffen, nachempfunden den eigenen Traumbildern und im Glauben an die Hoffnung in Umlauf bringen, jemand würde sie als seine eigenen wiedererkennen, etwas assoziierend, einen Moment von Erkenntnis erheischend. Sie erhofften sich so, den Alltag umzugestalten, dass er letztlich ganz den Begierden und Wünschen der Menschen sich angleichen würde. Im Traum wie auch in der Wirklichkeit sei der Mensch, nach Breton, von einem unglaublich starken „Streben zur Lust“ angeführt, welches jedoch in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ständig gehemmt, umgeformt und verdrängt werde. Diese Begierde jedoch, welche aufgrund der gesellschaftlichen Umstände, nie zu ihrer Verwirklichung kommen kann, sei letztlich das wahrhafte Wesen des Menschen und müsse unter allen Umständen mit der Realität versöhnt werden, ohne auch nur einen Splitter ihres Verlangens abzubrechen. Dies könne nur erreicht werden durch den totalen Umsturz der bürgerlichen Gesellschaft, welcher zu aller erst im Geiste sich zu vollziehen hat. Besagte Momente bilden, bei Breton etwa, das Wunderbare, das „Konvulsivische“, ersetzend die Kategorie und das Ideal der Schönheit. Gemeint ist dabei die Verdinglichung des Wunderbaren in z.B. besagtem Stein, doch gilt es das, was sich darin manifestiert, nicht starr zu betrachten. Jene Manifestation bestimmt ein Verlangen, das sich nie wirklich einfangen lässt, weil es ein ständiges Fließen beschreibt. Es ist somit überall und nirgends zugleich.
„Das Wort konvulsivisch, dessen ich mich bedient habe, um die Schönheit zu kennzeichnen, der allein man, meiner Überzeugung nach, dienen sollte, verlöre in meinen Augen jeden Sinn, wenn es in der Bewegung begriffen würde, und nicht genau in dem Augenblick, in dem eben diese Bewegung zum Stillstand kommt. Meiner Überzeugung nach kann Schönheit – konvulsivische Schönheit – sich nicht anders manifestieren als in der Bejahung des wechselseitigen Verhältnisses, das den betreffenden Gegenstand in der Ruhe wie in der Bewegung bestimmt. [...] Die konvulsivische Schönheit wird erotisch – verhüllt, berstend – [...]“ (Andre Breton, L’Amour fou)
Das Wunderbare sei jenes, welches die bleierne Alltäglichkeit aufzusprengen vermag, etwas, das der rationale Verstand sich außerstande sieht begrifflich zu fassen, gar gedanklich zu durchdringen, ein Schimmern der Ahnung dessen, was erfüllte Sehnsucht meint. Behaftet mit dem bis zuletzt undurchdringlichen Zauber der Erotik, gemahnt es der Spannung, welche zwischen ihr und der Poesie besteht, ohne jedoch beide auseinander zu denken. Da die Surrealisten danach strebten, Poesie und Gesellschaft zusammenzuführen, wäre besagte Spannung, in den Alltag versetzt, die Verwirklichung des Lustprinzips, dem die Surrealisten sich verschrieben hatten. Aufgrund dessen versuchten sie jene Momente in denen das Wunderbare emporschießt, zu fördern, die Kräfte, welche sich für jenen Ausbruch verantwortlich zeichnen, zu erfassen, jene Zufälle bewusst zu begünstigen. Doch dem Prinzip des Zufalls soll sich später im Text angenommen werden.
Schlagen wir hier eine Brücke zu den automatischen Texten und Traumprotokollen der Surrealisten. Die künstlerische Erfahrung des Dichters in all ihrer Poesie und Irrationalität, glaubte man allen zu ermöglichen, mit Hilfe des Automatismus. Ein jeder sei so in der Lage, sein Unbewusstes wahrzunehmen, folglich die sich gegenüberstehenden Klippen Rezipient und Künstler zusammenzufügen, das zerklüftete Gebirge zwischen den Menschen überhaupt zu ebnen, ohne die Unterschiede gleichzumachen. Man solle sich, gleich den Surrealisten, in einen Zustand, welcher der Trance ähnlich sei, versetzen und währenddessen einen Monolog mit sich selbst führen. Erweitert wurde dies durch die „écriture automatique“, was nichts anderes heißt, als das zeitgleiche Niederschreiben besagten Monologes. Diese Technik sollte Bilder entwerfen, wie sie jenen im Traume ähneln. Die so erarbeiteten Texte müssten das Unbewusste in seiner maskierten, verdinglichten Form aufzeigen. Solche, nach Meinung der Surrealisten, Schreie des Unterbewussten sollten die Möglichkeit eröffnen, sich mit ihnen auseinander zusetzen, um so das Bewusstsein von moralischen und psychischen Zwängen in Teilen zu erlösen. Das Prinzip der surrealistischen Kunst als eines von Heilung ist auch hier wieder deutlich erkennbar. Ähnlich die Traumprotokolle, welche sofort nach dem Aufwachen niedergeschrieben wurden, um eine möglichst ungefilterte Darstellung des Irrationalen hervorzubringen. Zurückkommen möchte ich hier noch einmal auf den Traum als solchen, wie weiter oben schon in Ansätzen geschehen. Die objektiv grausamen Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft, die dafür Sorge tragen, zutiefst menschliche Bedürfnisse und Wünsche unterdrückt zu wissen, lösen sich nicht einfach in Wohlgefallen auf. Vielmehr bildet das Unbewusste, also unsere Träume, eine Art Ventil, dessen Verschlusskappe im gesellschaftlichen Leben die Surrealisten, durch erwähnte Traumprotokolle, zu lösen suchten. Für alle Adorno-Fans: „Der Surrealismus sammelt ein, was die Sachlichkeit den Menschen versagt; die Entstellungen bezeugen, was das Verbot dem Begehrten antat.“ (T. W. Adorno, Rückblickend auf den Surrealismus)
Jenes Ventil aber bleibt dem Prinzip der Hoffnung eng verwoben, nährt es doch den Glauben, all die qualvoll verdrängten Sehnsüchte irgendwann einmal in die verdiente Freiheit zu entlassen, um sie mit der Realität zu versöhnen.
All diese Techniken waren jedoch zu großen Teilen verfälscht. So wurden die Texte etwa nachbearbeitet, poetisch verziert oder teilweise auch bewusst in Gedichtform verfasst. Breton sah dieses Manko später ein, sprach den Versuchen einen gewissen Erfolg dennoch nicht ab. Um die Sensibilität für das Unbewusste zu schärfen, propagierten die Surrealisten einen Zustand dem Traume nicht unähnlich, den Zustand der totalen Zerstreuung, das Provozieren des Zufalls. So etwa Aragon: „Ich bin das Spielzeug meiner Sinne und des Zufalls.“ Es galt den Zustand der bewussten Wahrnehmung hinfort treiben zu lassen, auf dass sie nicht mehr zielgerichtet, sondern vielmehr den poetischen Eingebungen des Zufalls folge, in der Hoffnung, so die Momente, in welchen das Wunderbare nach außen drängt, zu begünstigen. Der Zufall müsse um jeden Preis in den ästhetischen Prozess, wenn man denn im Zusammenhang mit dem Surrealismus diese Kategorie verwenden mag, integriert werden. Das Bewusstsein müsse versuchen, ihn dem Unbewussten zu entlocken.
Die wohl praktischste und gesellschaftlich wahrnehmbarste Technik der Surrealisten bestand im Provozieren von größeren oder kleineren Skandalen, für sie sicher auch die erheiterndste. So verfassten sie skandalöse Pamphlete, die sie bspw. an den Papst schickten. Charlie Chaplin, der von seiner Frau öffentlich der Perversion in der Ehe angeklagt wurde, verteidigten sie vehement, nicht ohne sich den Missmut eines Großteils der französischen Bevölkerung zuzuziehen. Mit den Fäusten war man auch schnell bei der Sache, so verwüsteten sie ein Lokal, welches nach ihrem geistigen Vordenker Lautréamont benannt wurde. Man könnte die Liste endlos weiterführen. Interessant wäre noch der Fall zu benennen, als sie eine verurteilte Frau in Schutz nahmen, die ihren Vater aufgrund sexuellen Missbrauchs getötet hatte.
Die bedeutendsten Veröffentlichungen der Surrealisten bilden meiner Meinung nach jedoch die wundervollen Manifeste. Sie setzen sich geradezu mosaikartig zusammen aus theoretisch-kritischer Reflexion, welche in einer fantastisch lyrischen Sprache vermittelt wird, worin zu Teilen besagte Techniken wie grelle hervorstechende Steinchen sich einreihen. Die einzelnen Seen von Poesie, Theorie und Lebenspraxis werden zu einem großen vielfarbigen Meer zusammengeführt. Somit erfüllt sich der Anspruch der Surrealisten in den in einer poetischen Dimension schwebenden, gesellschaftskritischen Manifesten am auffälligsten.
Im nächsten Teil soll die bildende Kunst des Surrealismus näher erläutert werden, sowie ausgewählte Passagen einiger Romane und Manifeste. Eventuell findet eine nähere Beschäftigung mit der Verquickung von Psychoanalyse und Surrealismus statt, jedoch nur, wenn der Autor seinen Horizont in Bezug auf Freud bis dahin enorm erweitern konnte. Mit einiger Sicherheit wird das Verhältnis der Surrealisten zum Mythos und seiner geschichtlichen Dimension erläutert werden. Mich deucht sogar, dass dies ein hoffentlich nicht zu langweiliger Vierteiler wird.
Bis dahin schlaft gut und träumt was Schönes!

Schlaubi


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last modified: 28.3.2007